Rezension zu Analytische Sozialpsychologie
Junge Welt
Rezension von Christof Meueler
Soziale Leiden
Haste was, biste was – zum Beispiel politisch nicht einverstanden.
Zwei neue alte Bücher von Helmut Dahmer zum Verhältnis von
Psychoanalyse und Marxismus
Von Christof Meueler
Mal rein psychologisch betrachtet: Wie geht es der Psychologie als
Wissenschaft? Ein bißchen schlapp fühlt sie sich, aber auch sehr
unsicher. Wenn sie bloß wüßte, was das ist! Ist es die
Hirnforschung, die sie überflüssig machen will? Oder die Esoterik,
die sie auslacht? Oder ist es die Empirie, in der sie absäuft? Und
wo sind die früher doch so entschlossen wirkenden marxistischen
Psychologen geblieben?
Schaut man genauer hin, war die Krise der Psychologie stets eine
Krise der Psychoanalyse, die seit ihrem Bestehen meistens davon
träumte, eine Naturwissenschaft zu sein. Schön exakt und ohne Sorge
über ihre gesellschaftliche Verfaßtheit – eine Zwangsvorstellung
wie aus dem Lehrbuch. Neurotische Störungen aber sind soziale
Leiden, wie Sándor Ferenczi (1873–1933) schrieb, der erste
Professor für Psychoanalyse überhaupt, 1919 eingesetzt von der
ungarischen Räterepublik, als Theorie kurzzeitig handgreiflich
wurde, um die herrschende Kultur anzugreifen. Denn »die
Klassengesellschaften sind Gesellschaften von Ungleichheiten und
Unfreien, zusammengehalten durch Moral und Gewalt«, wie der
Soziologe Helmut Dahmer schreibt, im Vorwort zu den zwei
Sammelbänden »Analytische Sozialpsychologie«, die er 1980 bei
Suhrkamp herausgegeben hatte und die jetzt im Psychosozial-Verlag
als Lizenzausgaben wiederveröffentlicht wurden.
Der Titel stammt von Erich Fromm vom Frankfurter Institut für
Sozialforschung, Anfang der 30er Jahre, als der Institutsleiter Max
Horkheimer noch optimistisch annahm, die von ihm und seinen
Mitstreitern entwickelte Kritische Theorie könnte in Diskussion mit
dem Führungspersonal der Arbeiterparteien revolutionär praktisch
werden. War Kritische Theorie eine Chiffre für Marxismus, so meinte
Fromm mit »Analytische Sozialpsychologie« eine Kombination aus
Marxismus und »Freudismus«, wie die Psychoanalyse damals gerne von
ihren linken wie rechten Gegnern genannt wurde. Mittlerweile wird
unter dem Begriff alles mögliche angeboten. Vor über 30 Jahren
jedoch waren diese zwei Sammelbände mit Texten von Freud, Fromm,
Bernfeld, Reich, Adorno, Horkheimer, Habermas, Lorenzer und anderen
aus der Zeit von 1910 bis 1980 ein Novum. Und heute merkt man mehr
als damals, wie stark diese Autoren ein erfrischendes Gegenprogramm
zur medizinalisierten Psychoanalyse vertreten; einem
Geschäftszweig, dem die akademische Methodendiskussion alles ist
und deren jeweiliges soziales Setting nichts. Diese Haltung wurde
nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem in den USA Mode, sie
beherrscht nicht nur die Woody-Allen-Scherze der 70er Jahre,
sondern immer noch die klinische Praxis der Gegenwart. Ein
individualisierter Reparaturbetrieb für meist Besserverdienende. Es
geht um »Fälle«, nicht um das Ganze.
Dahmer, der von 1968–1992 die einflußreiche Zeitschrift Psyche
leitete, begreift die Psychoanalyse dagegen als nachhegelianische
Kulturphilosophie. Es sei ihre Aufgabe, über »die ›irrationale‹
Nichtentsprechung von Lage, Bewußtsein und Aktion – die Loyalität
ausgebeuteter Mehrheiten, die Bildung massenfeindlicher
Massenbewegungen aufzuklären«. Nach Dahmer wiederholt Freuds
Theorie vom »Unbehagen der Kultur« eben nicht »ideologisch die
Vergewaltigung der Individuen und heiligt nicht die Kultur, an der
sie zerbrechen, sondern nimmt für die unfrei Vergesellschafteten
Partei«.
Entsprechende Lektürevorschläge sind in den beiden Bänden von
»Analytische Sozialpsychologie« zu finden: Auszüge aus Freuds
»Massenpsychologie und Ich-Analyse« (1921) und »Die Zukunft einer
Illusion« (1927) oder Max Horkheimers berühmter Aufsatz »Autorität
und Familie in der Gegenwart« (1949) darüber, wie sich die strenge
Vaterfigur des Bürgertums in Lächerlichkeit auflöst. Wilhelm Reichs
frühe Faschismusanalyse von 1934 (»Von Gruppen sehr bewußter
Arbeiter abgesehen, konnte die Masse sich die Änderung ihres Lebens
nicht anders denken als so, wie sie ihr Leben erlebt hatte:
aufgezwungen«) steht neben Ernst Simmels Theorie des Antisemitismus
als »Massen-Psychopathologie« von 1946 (»Den Massakern an Juden
ging stets eine Hetzkampagne voraus, in der die Juden eben jener
Verbrechen bezichtigt werden, die der Antisemit zu begehen im
Begriff stand.«)
Goldene Worte für die durch und durch kulturindustrialisierte,
pseudohedonistische Gegenwart der TV-Kanäle, Internetportale und
Coaching-Literatur formuliert Theodor W. Adorno 1951 in den »Minima
Moralia«: »Als ob nicht das bloße Wort Genußfähigkeit genügt,
diese, wenn es so etwas gibt, aufs empfindlichste herabzusetzen.
Als ob nicht ein Glück, das sich der Spekulation auf Glück
verdankt, das Gegenteil von Glück wäre, ein weiterer Einbruch
institutionell geplanter Verhaltensweisen ins immer mehr
schrumpfende Reich der Erfahrung.« Und ihr Sexisten,
Porno-Pathetiker und HipHop-Poser nehmt das – Herbert Marcuse in
»Der eindimensionale Mensch« (1964) über die »repressive
Entsublimierung« des erotischen Wunsches in der
Dienstleistungsgesellschaft: »Was geschieht ist sicherlich wild und
obszön, männlich und heftig, ganz unmoralisch – und deshalb völlig
harmlos«.
So betrachtet, müßte die mittlerweile auch schon historisch
verwitterte Parole der Band Blumfeld, »Laß uns nicht von Sex reden«
(1992), insbesondere für die Psychoanalyse gelten, wird diese doch
gerne sexualistisch mißverstanden und beispielsweise von vielen
Feministinnen als patriarchal verworfen. Das ist aber auch wiederum
nur die halbe Wahrheit, denn der andere Teil des Freud’schen
Gedankengebäudes, seine Massenspychologie und Kulturtheorie bleibt
inspirierend, auch für Marxisten.
Warum, kann man in einem weiteren, im Verlag Westfälisches
Dampfboot wiederaufgelegten, Buch von Helmut Dahmer nachlesen. In
seiner Arbeit »Libido und Gesellschaft«, mit der er 1973 bei Jürgen
Habermas und Alexander Mitscherlich promoviert hat, betreibt Dahmer
»Studien über Freud und die Freudsche Linke« (Untertitel). Nach
Dahmers Einschätzung ist die »Geschichte des Verhältnisses von
Psychoanalyse und Marxismus die Geschichte eines (von beiden Seiten
her organisierten) Mißverständnisses«. Eine wichtige Verbindung ist
die Frage nach dem »subjektiven Faktor« bei den potentiellen
Trägern einer tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderung, also
letzlich die nach der Unterstützung von Revolution und
Konterrevolution nach 1917.
Dahmer stellt fest: »Kein Triebschicksal und keine Verdrängung
macht den Kapitalismus und andere Produktionsweisen irgend
verständlich. Umgekehrt lehrt die Kritik der politischen Ökonomie
nichts darüber, wie die Triebwünsche der Vergesellschafteten an die
Triebwerke kollektiver Selbsterhaltung angeschlossen werden, und
kann nicht zureichend verständlich machen, warum die Unterdrückten
im gesellschaftlichen Alltag ihren Interessen zuwider handeln«.
Dahmer plädiert allgemein dafür, daß Psychoanalyse und Marxismus
»einander kritisch korrigierend, koexistieren«.
Eine solches Programm hat Wilhelm Reich, bis heute einer der
bekanntesten Vertreter der »Freudschen Linken« nicht geschafft,
durchzuhalten. Er, der in der KPD 1931/32 recht erfolgreich eine
»sexualpolitische Bewegung« initiiert und in der Internationalen
Psychoanalytischen Vereinigung eine kurzzeitige »marxistische
Opposition« inspiriert hatte, endete im Spinnertum. Aus beiden
Organisationen hinausgeworfen, versackte Reich langsam, aber sicher
in privatkosmoslogischen Weltformeln, die heute nur noch in
esoterischen Selbsthilfegruppen als zündend gelten.
Absurderweise hat Wilhelm Reich, für den »auch das Verhalten im
Tagtraum (…) gesellschaftliches Verhalten« war, mit seiner
Definition von Glück als »sexuelles Vollerleben« eben dieses in die
Mangel genommen. »Reichs Modifikation der Psychoanalyse machte aus
ihr, wofür Freud sie immer gehalten hatte: eine Naturwissenschaft –
freilich eine phantastische«, kommentiert Dahmer trocken.
In seinem aktualisierten Nachwort würdigt er Freud als Kritiker
gesellschaftlicher Verhältnisse, die »als ›Natur‹ imponieren, ohne
es zu sein« und betont die Bedeutung der angestrebten »Freien
Assoziation« bei Marx (der Individuen) und Freud (der Gedanken).
Das Ich ist nicht Herr im eigenen Haus, schrieb Freud. Es ist der
»Clown, der ›Autonomie‹ fingiert, indem er vorgibt, alles, was ihm
in der Manege zustößt, sei seine eigene Veranstaltung«, erklärt
Dahmer. Liebe Psychologie, was geht?
Helmut Dahmer (Hg.): Analytische Sozialpsychologie - Texte aus den
Jahren 1910–1980. Psychosozial-Verlag, Gießen 2013, 732 Seiten,
39,90 Euro * Helmut Dahmer: Libido und Gesellschaft. Studien über
Freud und die Freudsche Linke. Westfälisches Dampfboot, Münster
2013, 599 Seiten, 39,90 Euro
www.jungewelt.de