Rezension zu Innenansichten der Transformation

Junge Welt

Rezension von Michael Zander

Erinnerung an Fortschritt
Sozialforscher haben eine 1987 in Sachsen begonnene Langzeituntersuchung abgeschlossen

Von Michael Zander

Wie beurteilen Ostdeutsche ihr Herkunftsland und wie das westliche Gesellschaftssystem? Und wie haben sie ihre Ansichten seit der »Wende« von 1989/90 verändert? Wissenschaftlern von der früheren Karl-Marx-Universität Leipzig, der Pädagogischen Hochschule Ernst Schneller Zwickau und des Zentralinstituts für Jugendforschung der DDR ist es zu verdanken, dass eine außergewöhnliche Informationsquelle vorliegt, die diese Fragen teilweise beantworten kann. Erstmals 1987 wurden rund 1.400 Schüler der achten Jahrgangsstufe in den Bezirken Leipzig und Karl-Marx-Stadt befragt. Themen waren politische Einstellungen, kollektive Zugehörigkeitsgefühle, Lebensziele, Wohlbefinden, äußere Lebensumstände sowie Familienbindung, Partner- und Kinderwunsch.

Peter Förster, Studienleiter ab 1990, setzte sich maßgeblich dafür ein, dass die etwa jährlich wiederholten Befragungen auch nach dem Ende der DDR fortgesetzt werden konnten. Allerdings sackte in den späteren Erhebungswellen die Zahl der Teilnehmenden auf jeweils rund 400 bis 200 ab. Nach einem Vierteljahrhundert Laufzeit wird das Projekt nun in dem Buch »Innenansichten der Transformation« einer vorläufigen Bilanz unterzogen.

Die Aufsätze im ersten Abschnitt des Bandes behandeln Erfahrungen in der DDR auf der Grundlage früherer Untersuchungen. Hier erfährt man, dass Lehrlinge der 70er Jahre sich von ihrem Partner nicht nur wünschten, »ein liebevoller Vater/eine liebevolle Mutter« zu sein oder sich um »sexuelle Übereinstimmung« zu bemühen, sondern auch eine »gleichberechtigte Verteilung der familiären Pflichten« zu befürworten und einen »sozialistischen Klassenstandpunkt« zu vertreten.

Studierende der 80er Jahre distanzierten sich zunehmend von der SED, insbesondere von deren Informations- und Medienpolitik. Uta Schlegel beleuchtet in ihrem sehr lesenswerten Beitrag die Verluste, die der Umbruch 1990 für Frauen gebracht hat: »In Ostdeutschland hat sich (...) das in der DDR gegenüber der alten BRD deutlich breitere Ausbildungs- und Studienspektrum der Mädchen wieder stark verengt auf traditionell weibliche Berufe.« Erhalten geblieben sei jedoch die Erinnerung an fortschrittlichere Geschlechterverhältnisse. Die damals jüngeren DDR-Bürger seien »mehrheitlich bei vollerwerbstätigen Müttern aufgewachsen«, was die »Lebensentwürfe der Töchter und das Frauenbild der Söhne« geprägt habe, sichtbar an der »hohen Akzeptanz (...) von mütterlicher Erwerbsarbeit, von außerhäuslicher Kinderbetreuung oder von Geburten nichtverheirateter Frauen.«

Die sogenannte Sächsische Längsschnittstudie bildet zwischen 1987 und 2012 zugleich die Entwicklung der Individuen und die Veränderung der Gesellschaft ab. Kurt Starke, einer der Wissenschaftler der ersten Stunde, schreibt dazu: »Wenn jemand mit 20 andere Einstellungen zur Nacktheit oder zum Schwangerschaftsabbruch oder zum Sozialismus hat als mit 13, dann kann das mit seiner biografischen Entwicklung und dem höheren Lebensalter zusammenhängen. Es kann aber auch so sein, dass der Zeitgeist sich geändert hat und die jetzt 13-jährigen inzwischen schon genauso denken, wie die jetzt 20-jährigen.«

Was die politischen Einstellungen betrifft, lassen sich klare Tendenzen erkennen. »Die Befragten«, resümieren Herausgeber Hendrik Berth und Kollegen, »fühlen sich gleichermaßen als DDR- und Bundesbürger. Sie bejahen mehrheitlich die deutsche Wiedervereinigung insgesamt. Sie blicken für Ostdeutschland und ihre Kinder recht pessimistisch in die Zukunft und sie sind mit der Wirtschaftsordnung und dem politischen System relativ unzufrieden.« 39 bis 45 Prozent halten einen »reformierten, humanistischen Sozialismus« für eine wünschenswerte Alternative. Anhänger dieser Perspektive haben ein eher geringes Einkommen und wiederholte Erfahrungen mit Arbeitslosigkeit. Am entgegengesetzten Pol sind aber auch rechtsradikale Einstellungen sowie Gewaltbereitschaft verbreitet.

Manche Beiträge beschränken sich zu sehr auf die Zahlen, ohne überzeugende theoretische Erklärungen zu liefern. Wie genau soll man etwa die Auskunft interpretieren, Rechtsradikale seien im Osten autoritärer und chauvinistischer, im Westen dagegen sozialdarwinistischer und antisemitischer? Quantitative Längsschnittdaten können wertvoll sein, haben aber – wie alle Daten – einen begrenzten Informationsgehalt. Der Band versammelt Texte aus einem Jahrzehnt, was zu häufigen Wiederholungen führt. Insgesamt aber zeichnen die Autoren ein sehr interessantes und differenziertes Bild von den Einstellungen der Befragten zur DDR und zum Kapitalismus. Das von den Verfassern so genannte »reformsozialistische« Potential dürfte im Hinblick auf Veränderungsmöglichkeiten besondere Aufmerksamkeit verdienen.

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