Rezension zu Ira - Wut und Zorn in Kultur und Literatur
Gießener Anzeiger
Rezension von Stephan Scholz
Zorn als Handlungsmotiv von Kleist bis Star Trek
»Ira – Wut und Zorn in Kultur und Literatur« im Gießener
Psychosozial-Verlag erschienen
Von Stephan Scholz
GIESSEN (olz). Was ist Wut? Was Zorn? Und wie werden diese
menschlichen Gefühlsregungen in unterschiedlichen kulturellen
Kontexten gelebt? Das sind zentrale Fragen des Sammelbandes »Ira –
Wut und Zorn in Kultur und Literatur«, der im Gießener
Psychosozial-Verlag erschienen ist. Auf 320 Seiten versammelt der
von Bozena Anna Badura und Kathrin Weber herausgegebene Band
vielfältige Herangehensweisen an die Kulturen aggressiven
Verhaltens in unterschiedlichen Epochen.
Mit Badura, Ching-Ho Chuang, Tillmann F. Kreuzer, Torsten T. Voß,
Weber und Lilith Jappe haben sich sechs Autoren mit Wut und Zorn
als kulturellem Phänomen auseinandergesetzt. Und das Spektrum ist
weit gefasst. Neben begrifflichen Definitionen wie der
Unterscheidung zwischen Ärger, Wut und Zorn und psychoanalytischen
Herangehensweisen finden sich zahlreiche Einzeluntersuchungen zu
verschiedenen Genres und Epochen. Kreuzer befasst sich mit dem
»Motiv des Zorns in ausgewählten Märchen und Sagen« und betrachtet
dabei zum Beispiel das »Rumpelstilzchen«, während Voß in »Von der
Jagd des Kapitän Ahab zum Zorn des Khan« einen historisch weiten
Bogen spannt und anhand von Melvilles »Moby Dick« und »Star Trek
II« den Zorn als zentrales Handlungs- und Rachemotiv untersucht.
Allen Aufsätzen gemeinsam ist die gute Lesbarkeit und das
Verdienst, die aggressiven Phänomene in ihrem kulturellen Umfeld
transparent zu machen.
Das ist famos, denn beispielsweise für die Literaturinterpretation
bietet die Fokussierung auf den Zorn eine interessante
Herangehensweise im Rahmen von sozialhistorischen Deutungen, denn
der Zorn lässt immer auch Rückschlüsse auf den Zornigen zu. Gekonnt
herausgearbeitet hat das Badura in ihrem Aufsatz »Wut- und
Zorndarstellungen im Erzählwerk von Heinrich von Kleist«. Am
Beispiel von Texten wie der »Marquise von O....«, dem »Erdbeben in
Chili«, dem »Zweikampf« und »Michael Kohlhaas« analysiert sie
Kleists Gefühlsdarstellungen, um dabei auch zu dem Ergebnis zu
kommen, dass sich in ihnen zeitgenössische Rollenkonventionen zu
erkennen geben. Besonders gut gelingt der Autorin das bei der
Betrachtung des Textes über die Marquise, der bei genauem Hinsehen
gleich mehrere existenzielle Bedeutungsebenen des Zornphänomens
offenbart. Vehikel des Zorns: der Vater, der im Verbund mit der
Mutter die geschiedene und bereits mit zwei Kindern gesegnete
Tochter verstößt, als die ungewollt schwanger wird. Dem Vater kommt
dabei die Rolle des Hausherrn und Beschützers der Familie zu, der
eisern über die Einhaltung der Konvention – Verstoß könnte zu einer
vollständigen Ächtung und sozialer Isolierung führen – wacht. Die
Liebe zum Kind wird der Einhaltung der Konvention untergeordnet.
Dieser Blick auf den in Literatur gegossenen gesellschaftlichen
bedingten Umgang mit Emotion am Beispiel zentraler Familienakteure
ist erleuchtend und fruchtbar, weil er im Sinne einer stichfesten
Beweisführung zur sozialhistorischen und -kritischen Interpretation
beiträgt.
Der Zugang über den Zorn des literarischen Personals bietet eine
interessante und plausible historische Motivanalyse, die auch für
Laien gut verständlich ist. Wer sich überzeugen will: »Ira – Wut
und Zorn in Kultur und Literatur« ist für 29,90 Euro im Buchhandel
erhältlich.