Rezension zu Freuds Lektüren
SR-2 Bücherlese
Rezension von Jochen Marmit
Anmoderation:
Für alle, die sich mit der psychischen Seite des Lebens und der
Literatur beschäftigen wollen, die kommen nicht um das Werk von
Sigmund Freud herum. Man muss lesen, was Freud geschrieben hat und
am besten auch noch lesen, was Freud gelesen hat. Zum 150.
Geburtstag des Vaters der Psychoanalyse stellt ihnen Jochen Marmit
nun zwei Bücher vor – das eine für Einsteiger, das andere für
spezielle interessierte Literatur-Freudianer.
Text:
Voice Text page
Sprecher:Wie soll man den Einstieg in Freuds Werk finden? Am
besten, man liest erst einmal, was er so geschrieben hat. Leichter
gesagt als getan – schließlich hat er ja doch einiges zu Papier
gebracht. Ganze 18 Bände umfasst sein Werk. So bietet einen raschen
und umsichtigen Einstieg »Das Lesebuch« zu Sigmund Freud,
erschienen im Fischer Verlag. Herausgeberin ist Cordelia
Schmidt-Hellerau. Sie ist Dozentin für Klinische Psychologie an der
Universität Zürich und hat eine Praxis in Boston. Schmidt-Hellerau
hat ihre Textauswahl chronologisch getroffen, vier Jahrzehnte
Freudsches Denken, das mit Arbeiten zur Hypnose beginnt.
Zitator: »Weiter können wir Einblicke gewinnen in Freuds
Verständnis der Hysterie, der Zwangsneurose, der Paranoia und der
Psychosen. Wir treffen im Original auf die Schlagworte zur
Psychoanalyse, die... ein fester Bestandteil unserer populären
Kultur geworden sind, wie etwa der Ödipuskomplex, die
Kastrationsangst, der Penisneid, das Unbewusste, die Verdrängung,
die Übertragungsliebe etc., und wir können nachlesen wie Freud sich
selbst darüber geäußert hat.«
Sprecher: Dies macht auch den besonderen Reiz der Texte aus. Denn
neben der Kürze der Texte und ihrer breiten Fächerung, wird vor
allem der Reichtum an Denken erkennbar. Diesen erhält der Leser
nicht durch Sekundärliteratur – nach wie vor gilt: Man muss Freud
selber lesen. Oft, so betont die Herausgeberin, kommen die Aufsätze
scheinbar leicht daher. Doch den Reichtum an Gedanken kann man erst
im zweiten, gar dritten Lesen erschließen. Zusammen mit dem
Freudschen Schreib- und Sprachstil und seiner unnachgiebigen Art,
seine Überlegungen auch verständlich und sinnvoll zu machen,
bekommt der Leser tolle Lektüre geboten. Beispiel Ödipuskomplex. Es
geht um die Rolle der Eltern im Seelenleben der Kinder. Freud
referiert über das antike Stück »Ödipus« und zieht zum Vergleich
Shakespeares Hamlet herbei.
Zitator: »Im Ödipus wird die zugrunde liegende Wunschphantasie des
Kindes wie im Traum ans Licht gezogen und realisiert; im Hamlet
bleibt sie verdrängt, und wir erfahren von ihrer Existenz – dem
Sachverhalt bei einer Neurose ähnlich – nur durch die von ihr
ausgehenden Hemmungswirkungen.«
Sprecher: Während Ödipus also der Kinderphantasie gemäß mit seiner
Mutter schläft und seinen Vater aus Hass erschlägt, kann Hamlet
diesem Verlangen nicht nachgeben, kann den toten Vater nicht
rächen, nicht nur, weil er seine Mutter zu sehr liebt.
Zitator. »Hamlet kann alles, nur nicht die Rache an dem Mann
vollziehen, der seinen Vater beseitigt und bei seiner Mutter dessen
Stellung eingenommen hat, an dem Mann, der ihm die Realisierung
seiner verdrängten Kinderwünsche zeigt. Der Abscheu, der ihn zur
Rache drängen sollte, ersetzt sich so bei ihm durch Selbstvorwürfe,
durch Gewissensskrupel, die ihm vorhalten, dass er, wörtlich
verstanden, selbst nicht besser sei als der von ihm zu strafenden
Sünder.«
Sprecher: So hatte bis 1900 noch niemand den zerrissenen Helden aus
Shakespeares Stück gedeutet. Freud geht in seiner wohl bekanntesten
Veröffentlichung »Typische Träume« noch weiter, deutet Shakespeares
Umfeld und persönliche Situation mit in die Entstehung des
literarischen Stoffs hinein. Auch wenn Hamlet auch anders gedeutet
wird, so eröffnete das psychoanalytische Denken Freuds einen neuen,
einmaligen Kosmos. Hilfreich sind die zahlreichen Anmerkungen,
negativ fällt ein fehlendes Stichwortverzeichnis ins Gewicht. Eine
Leseempfehlung für alle Einsteiger, Wiederleser und
Erstmal-Nur-So-Interessierte. Zu einem günstigen Preis von 12
Euro.
Sprecher: Eine richtig anspruchsvolle Studie liefert das zweite
Buch. Es heißt ,»Freuds Lektüren.« Michael Rohrwasser hat es
verfasst. Er ist Professor für Neuere Deutsche Literatur an der
Freien Universität in Berlin und angesehener Literaturkritiker. Mit
eben jener Literatur, die für Sigmund Freud wichtig war, die seine
psychoanalytischen Arbeiten unterstützte und nicht selten auch erst
möglich machte, über diese hat sich Rohrwasser wissenschaftlich
gebeugt. Im Besonderen geht es um Werke von ETA Hoffmann, Conrad
Ferdinand Meyer, Wilhelm Jensen und Arthur Schnitzler. Im
Mittelpunkt steht die Frage nach der Kunst des Entschlüsselns – im
Falle des Freudschen Theoriekosmos besonders der
Traumentschlüsslung.
Zitator »Gleichzeitig mit der Bedeutung des Traumes entdeckt Freud
die S.1 Manifestation des Unbewussten in der Literatur,...und er
konstatiert..., dass die Literatur analog zur (tag-)träumerischen
Produktion seiner Neurotiker funktioniere. Sein späterer Schluss in
der Traumdeutung, dass der Traum Paradigma für Literatur
sei,...lässt sich damit umkehren: Was Freud an der Literatur
beobachtet, wird ihm zum Paradigma für den Bauplan der Träume.«
Sprecher: Michael Rohrwasser zeigt, wie für Freud die Literatur
»zur Quelle der Inspiration und zum Spiegel der Selbstanalyse«
wurde. Freud verknüpfte literarische Bilder mit klinischen. So auch
bei seiner Psychologie vom Unheimlichen. Dort fragt Freud nach dem
»Schreckhaften, Angst- und Grauenerregenden.« Geschichten von ETA
Hoffmann, Arthur Conan Doyle und Edgar Alan Poe werden vom
Psychoanalytiker seziert. Autor Michael Rohrwasser hält fest:
Zitator »Wenn (Sherlock Holmes) den Erzählungen seiner Klienten
lauschte, ähnelt er dem Analytiker: »Sherlock Holmes hatte sich in
seinen Sessel zurückgelehnt und die Augen geschlossen. Sein Kopf
war auf das Kissen gesunken.«... Die Quellen seiner Inspiration
sind ... Träume und Dämmerzustände.(...) Freud mag den Träumenden
an seinen Bewegungen zu entlarven: »Auf der Straße erkennt man aber
leicht den im Tagtraum Begriffenen an einem plötzlichen, wie
abwesenden Lächeln, am Selbstgespräch oder an der laufartigen
Beschleunigung des Ganges, womit er den Höhepunkt der erträumten
Situation bezeichnet.«
Sprecher: Damit lässt Rohrwasser die Vergleich aber nicht ruhen, er
führt weiter aus:
Zitator: »Freud hat sich freilich gehütet, öffentlich Sherlock
Holmes als seinen Ahnherm zu zitieren... Nur seine Tochter Anna
bezeugt, dass er Detektivromane liebte.«
Sprecher: Es sind diese kleinen Hinweise, die das Buch so reizvoll
machen. Neben den Studien zum Detektivspiel Freuds fällt vor allem
das Kapitel über Freuds Unbehagen in Sachen Arthur Schnitzler auf.
Freud sprach von »Groll über die versuchte Täuschung«, den er
besonders nach dem Studium von Schnitzlers »Die Weissagung«
empfang. Freud ist bei Rohrwasser kein Psycho-Übervater, vielmehr
gelingt es ihm den Wiener Arzt anhand von
literaturwissenschaftlicher Detailarbeit in »dessen Schranken« zu
verweisen. Freud hat sich in der Literatur bedient, er hat brillant
schlussgefolgert und ist auch nicht selten einfach gescheitert,
weil er psychoanalytisch zu eingleisig gefahren ist. Auch wenn
Rohrwasser diese Ergebnisse inhaltlich gelingen, so macht der
Aufbau des Buches, die Langatmigkeit der Texte, die unzähligen
Details, Randbemerkungen und Exkursionen das Werk nicht gerade zu
einem flüssigen Lesegenuss. Das ist harte Arbeit, die für den
Fachmann Erkenntnisgewinn versprechen mag, von Einsteigern und
Querlesern dagegen gemieden werde sollte. Positiv: das ausführliche
Werkverzeichnis und die kommentierenden Endnoten – aber auch hier
fehlt ein Stichwortverzeichnis. Noch einmal die beiden Bücher.
»Sigmund Freud. Das Lesebuch.« Erschienen im S. Fischer Verlag,
kostet 12 Euro. Und: »Freuds Lektüren« von Michael Rohrwasser,
erschienen im Psychosozial-Verlag, kostet 38 Euro.