Rezension zu Rechtsextremismus der Mitte

Sonntaz (die tageszeitung), 18./19./20. Mai 2103, Pfingsten

Rezension von Sonja Vogel

Sonja Vogel

Opfer selbst schuld an NSU-Morden

Wer ist eigentlich schuld, wenn in Deutschland Neonazis systematisch Menschen ermorden? Nicht erst seit Beginn des NSU-Prozesses ist klar, dass der Staat durch sein Versagen eine Mitschuld trägt und auch die Mehrheitsgesellschaft, die jahrelang ungerührt zuschaute, als die Opfer kriminalisiert wurden.

In der vergangenen Woche erschien ein bemerkenswerter Kommentar zum Thema in der FAZ. In Sachen Verantwortung drehte der Autor den Spieß einfach um: »Extremismus und Terror gehören zu den Gründen, warum eine Minderheit der Muslime nicht integrationswillig ist«, schrieb dort Jasper von Altenbockum. Und weiter: »das wiederum ist einer der Gründe für islamfeindlichen Extremismus und Terror.« Zur Erinnerung: Es geht um rassistische Morde von Neonazis.

Die Unterstellung ist absurd. Als wären die neun Menschen gestorben, weil sie Muslime waren, Islamisten gar. Sie wurden ermordet, weil sie als nichtdeutsch galten, als Ausländer, Migranten und damit als nicht lebenswert. Dreist schreibt der Autor den NSU-Terror zu einer Reaktion auf eine islamistische Bedrohung um. Mit dieser Volte ist er indes in bester Gesellschaft.

Rund die Hälfte der Deutschen glaubt, Islam und Terrorismus gehörten zusammen. Dies zeigt die Untersuchung der Leipziger Arbeitsgruppe um Oliver Decker und Elmar Brähler, die seit 2002 die repräsentativen »Mitte«-Studien herausgibt (»Rechtsextremismus der Mitte. Eine sozialpsychologische Gegenwartsdiagnose«, Psychosozial-Verlag, 2013). Und sie zeigt auch, wie gerade die rassistisch grundierte Muslimfeindschaft aus der Mitte der Gesellschaft kommt, von Liberalen und Gebildeten. Geht es um die Religion der anderen, wird in Deutschland am Lack der Moderne gekratzt: 60 Prozent wollen die Religionsausübung der Muslime »erheblich einschränken«. Nächste Woche jährt sich die Änderung des Asylrechts zum 20. Mal. Und mit ihr die Brandanschläge von Rostock, bejubelt von einem vieltausendköpfigen Mob, bis Solingen. Auch damals ging die Legende so: Schuld waren weder die Mörder noch die Zuschauer, sondern die »verfehlte Asylpolitik«, kürzer: die vielen Ausländer. Den Jahrestag hat die FAZ nur knapp verpasst.

Die Autorin ist ständige Mitarbeiterin der Kulturredaktion

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