Rezension zu Sozialpsychologie des Kapitalismus - heute

Konkret: Politik & Kultur 6/2013

Rezension von Roger Behrens

»Im Handgemenge mit der Wirklichkeit bleiben«

Zur Aktualität der kritischen Sozialpsychologie Peter Brückners.
Von Roger Behrens

»Mut ist die Gesinnung der Freiheit, und das Ergebnis von Freiheit überwältigt den Mutigen, weil es ihn überrascht – es ist nämlich Glück.« Peter Brückner: Das Abseits als sicherer Ort. Kindheit und Jugend zwischen 1933 und 1945. Berlin 1980

»Es gibt kein richtiges Leben im falschen«, heißt es prägnant und bekannt in Theodor W. Adornos »Minima Moralia«, seiner Sammlung von Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Adorno emigrierte, lebte seit 1938 in den USA, zunächst in New York, dann in Los Angeles. Als er an den Minima Moralia arbeitete, war er knapp über 40 Jahre alt. In Deutschland regierte der Terror, mittlerweile als gesellschaftliche Normalität eines durch und durch faschisierten Alltags.

Gut zwei Jahrzehnte jünger als Adorno ist Peter Brückner: 1922 in Dresden geboren, in bürgerlichen, wenn auch bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen, »gebildeter Mittelstand am Rande der Verarmung«: der Vater Mathematiker, Ingenieur, seit 1929 arbeitslos, auch nach 1933 ohne Ambitionen, eine feste Anstellung zu bekommen; die Mutter Konzertsängerin, Engländerin und Jüdin, was aber den Nazis gegenüber verheimlicht werden konnte; sie ging im Frühjahr 1936 zurück nach England. Als Kind war Peter oft alleine, wurde rebellisch und schlecht in der Schule, stromerte herum. Im Winter 1935 drohte Fürsorgeerziehung: ein »geborener Dissident«, der schnell eine »anarchische Lust des Abseits« entwickelte, so Peter Brückner später im Rückblick. Als Jugendlicher verbrachte er einige Jahre in einem Internat in Zwickau; im Sommer 1939 flog er dort raus, kam zurück nach Dresden, wieder auf das dortige Realgymnasium. Der Siebzehnjährige findet Kontakt zu Kommunisten im Untergrund, liest viel. »Wer das Nichtstun ebenso wie die Arbeit scheut, findet leicht zum Buch«, notiert er später in seinem autobiographischen Essay »Das Abseits als sicherer Ort.«

Also: »Es gibt kein richtiges Leben im falschen.« Gerade in Hinblick auf die Erfahrungen der Kindheit und Jugend zwischen 1933 und 1945 im nationalsozialistischen Deutschland setzt Brückner dem hinzu: »Aber ein richtigeres.« Das verwirft Adornos Satz nicht, sondern präzisiert ihn im entscheidenden Punkt, die kritische Aporie radikalisierend. Allein die Erkenntnis der verkehrten Verhältnisse ist der erste unverzichtbare Schritt, ebendiese wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen – also nicht nur handlungsfähig zu werden, sondern bereits die erste Handlung.

Adorno setzt später hinzu: »Gibt es wirklich kein richtiges Leben im falschen, so kann es eigentlich auch kein richtiges Bewußtsein darin geben.« Das ist konsequent unter gesellschaftlichen Bedingungen der Macht, die jede Möglichkeit der eingreifenden Praxis kontaminieren, das Subjekt passivieren. Doch das sind nur die allgemeinen gesellschaftlichen Bedingungen; in den besonderen, konkret-alltäglichen Situationen kann das anders aussehen: »Es gibt immer Orte zu finden, die leer von Macht sind«, heißt es in »Das Abseits als sicherer Ort.« Denn: »Die institutionelle Umklammerung des Lebens ist zu Anteilen Schein.«

Die Grundfrage, die Brückners Arbeiten bestimmt, läßt sich so formulieren: Warum orientieren sich die Menschen lieber an den mit Macht besetzten, von Macht durchdrungenen Orten – einer Macht, die ihnen gilt und der sie sich zudem bereitwillig unterwerfen? Anders gesagt: Wie gelingt es, daß die Leute sich ein vermeintlich richtiges Leben im falschen einrichten, einrichten können oder zumindest glauben, daß es prinzipiell einzurichten sei – obwohl damit das falsche Leben verfestigt wird?

Das ist eine alte Frage, die bereits die frühneuzeitliche Gesellschaftskritik beschäftigte. Schon Spinoza untersuchte 1670 in seinem »Theologisch-politischen Traktat«, warum die »Menschen ... für ihre Knechtschaft kämpfen, als sei es für ihr Heil«, und es überdies »für die höchste Ehre halten... Blut und Leben hinzugeben«. Knapp drei Jahrhunderte später schreiben Adorno und Horkheimer in der »Dialektik der Aufklärung« (19sz/47): »Was wir uns vorgesetzt hatten, war tatsächlich nicht weniger als die Erkenntnis, warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt.«

Entscheidend der Zusatz bei Adorno und Horkheimer: »Wir unterschätzten die Schwierigkeiten der Darstellung, weil wir zu sehr noch dem gegenwärtigen Bewußtsein vertrauten.« Hier setzt Peter Brückner an, entwirft als kritische Theorie eine »Sozialpsychologie des Kapitalismus« (so dann der Titel seines Hauptwerkes von 1974): Dem Bewußtsein ist nicht mehr zu trauen, erst recht nicht in der verwalteten Welt, also in der Gesellschaft, in der Lebensverhältnisse zusehends von Sozialtechnologien verregelt werden, die das Subjekt nicht mehr ausschließlich durch äußerliche Gewalt – »schwarze Pädagogik«, Drill und Disziplin, körperliche Züchtigung, Polizei-›formen‹, sondern durch internalisierte Zwänge das Subjekt überhaupt erst ›als formbares‹ konstituieren. Denn umgekehrt wäre, so Brückner, »ohne Selbstunterdrückung des Individuums ... eine Regulation der ›Triebnatur‹ des Menschen nur durch physische Gewalt möglich. Angesichts der Tatsache, daß ›Ordnung‹, daß der moderne Kulturstaat durch Terror und/oder Administration allein nicht herstellbar, nicht zu garantieren ist, müssen Menschen eine Art von Selbstzwangapparatur (Norbert Elias) erwerben.«

Das heißt, gerade in der politischen Formierung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse als rechtsstaatlich verfaßte Demokratie muß der Ideologie des Individuums (die Grundausstattung von Persönlichkeit, Autonomie, Souveränität etc.) immer auch ein realer Handlungsraum gegeben werden, in dem der einzelne in der Gemeinschaft seine Individualität ausprobieren kann. Die Subjekte sind, bereits als Kinder, erst recht als Erwachsene, immer schon regiert, beherrscht, »unterworfen«. Deshalb faßt Brückner das, was gemeinhin als »Sozialisation« beschrieben wird, als »Integration«.

In der bundesrepublikanischen Gesellschaft entdeckt Brückner in den endsechziger und siebziger Jahren eine Verschiebung von Herrschafts- zu Machtverhältnissen, ähnlich wie Michel Foucault es maßgeblich für die französische Gesellschaft konstatiert, und ähnlich wie dann später Gilles Deleuze davon spricht, daß Kontrollgesellschaften die Disziplinargesellschaften ablösen. Brückner charakterisiert diese – soziale – Einebnung und zugleich – innersubjektive – Verdichtung von Hierarchien als »Nivellement«. Damit beschreibt Brückner »einen Ausgleich der Unterschiede; erwartet wird wachsende Uniformität. In der Folge aller egalisierenden Elemente des Industriemilieus entsteht so der Schatten des ›Posthistoire‹, eine Menschheit, die sich in ihren ›Ansichten und Verhaltensweisen‹, in ›Interessen und Werturteilen‹ einander angleicht ... Das Ergebnis dieser Normierung und Integration ist eine neue Gestalt von ›Wirklichkeit‹, eben die Normalität, die das Partikulare, das qualitativ Andere nur noch als Abweichung registriert, in der Regel ein Fall für den Arzt oder die Polizei: Das Besondere verschwindet im Abseits«, heißt es in einem Nachlaßtext Brückners.

Anders als die Poststrukturalisten sieht Brückner hierbei nicht nur eine Ordnung des Diskurses, über die sich bestimmte »Dispositive der Macht« ergeben, sondern immer auch eine widersprüchliche Realität, Praxis, die immer auch durchsetzt sein kann mit »gelebter« bzw. »verlebendigter Erfahrung«.

Das heißt also einerseits: »Im 19./20. Jahrhundert öffnet sich die Schere zwischen Staat/ Ökonomie (›Weltmarkt‹, ›Superstrukturen‹) und der gelebten Erfahrung, dem alltäglichen Dasein. Lebensgeschichten, die historisch individuell geworden sind, die ihren Sinn, ihre Kohärenz, ihr ›um ... willen‹ anders organisieren als ›die‹ Geschichte das ›ihre‹, die aber dem Zugriff der Geschichte (der Superstrukturen) geöffnet sind. ›Jeder lebt sein eigenes Leben‹ –? Ja, aber diese vielen eigenen Leben werden kollektiv verwaltet, vor-organisiert, institutionell etc. programmiert.«

Das heißt andererseits eben auch: »Revolte: Das Bedürfnis, wenn schon nicht einzigartig zu sein, so doch Einer, von dessen persönlicher Weise etwas abhängt; wider die Austauschbarkeit (›auf den Einzelnen kommt es nicht an‹). Dieser ›Modus der Rarität‹ – in den Kinderstuben nie ganz unterdrückt – war in den bonerten Gemeinwesen nicht denkbar.«

Gerade der relative Wohlstand der sogenannten Überflußgesellschaft verallgemeinert den im 19. Jahrhundert entstandenen Subjekttypus des Bürgers: Die »Hälftung« des Lebens (Segmentierung des Alltags in »privat« und »öffentlich«) und »Ostung« (wörtlich: Orientierung; die Konstruktion von »Bevölkerung« durch Einübung urbaner Umgangs- und Verhaltensweisen, Sitten etc.) werden nun allgemein, »hegemonial« und erfassen die Bevölkerungsmehrheiten (die gleichwohl gegenüber dem Ideal des bürgerlichen Individuums als Minorität erscheinen): die Arbeiter, die Frauen, die Kinder.

Die »ganze Kultivierung des Proletariats«, wie Peter Brückner und Gabriele Ricke 1975 in »Über die ästhetische Erziehung des Menschen in der Arbeiterbewegung« schreiben, die Ende des 19. Jahrhunderts zum Beispiel durch die Arbeiterbildungsvereine geschah, setzt sich nun über die Parzellierung der Subjekte fort. Verallgemeinerte Gewaltverhältnisse (Familie, Schule, Beruf – Erziehung, so Bruckner, als »autoritäre Psychose«) werden durch Konsum und Kommodifizierung zum Alltag einzelner beziehungsweise Vereinzelter komprimiert. Soziale Verhältnisse werden kulturalisiert, also »Gesellschaftliches« wird in den Stand des »Kulturellen« erhoben (wodurch scheinbar das Basis-Überbau-Verhältnis umgekehrt wird); aus Klassenwidersprüchen – die freilich faktisch weiterbestehen, sich unter diesen Bedingungen sogar verschärfen – werden individuelle Lebenslagen; und Ideologie diffundiert in, wie Brückner es nennt, »Bewußtseinslagen«.

Die Möglichkeiten des gesellschaftlichen Widerstands werden flüchtig, durch Scheinwiderständigkeiten innerhalb der Gesellschaft überlagert (Wegbrechen von Solidarität, »Ellenbogenmentalität«, Widerstand gegen sich selbst: »den inneren Schweinehund überwinden«, »sich zusammenreißen«, »Selbstoptimierung« etc.). »Kultivierung« – noch einmal Brückner und Ricke – »zerstört hier Elemente der Klassenerinnerung.« Das schließt Emanzipation keineswegs aus, macht allerdings die Organisierung schwieriger, auch und insbesondere in Hinblick auf Ziele: »Wer ist der objektive Feind? Was ist die konkrete Utopie?«

Dennoch, es bleibt ein »richtigeres« Leben im falschen. Daß es ein richtigeres Leben gibt, heißt für Brückner immer, kritisch Partei zu ergreifen, einzugreifen, »im Handgemenge mit der Wirklichkeit« zu bleiben.

1967 wird Peter Brückner Professor für Psychologie an der TU in Hannover. Auch und gerade in seiner Tätigkeit als Hochschullehrer setzt er sich ein, nimmt Stellung, verteidigt zum Beispiel 1970 mit einem positiven Gutachten das Sozialistische Patientenkollektiv (»Aus der Krankheit eine Waffe machen«).

1972 wirft man Brückner vor, er habe Ulrike Meinhof Unterschlupf gewährt. Brückner wird für einige Zeit von seinen Hochschultätigkeiten suspendiert. 1977 folgt die zweite Suspendierung, mit Amtsenthebung und Hausverbot, nicht nur an der TU Hannover, sondern auch an anderen Unis, etwa Heidelberg, Konstanz, Freiburg oder Tübingen, um, wie Brückner 1978 formuliert, »mir Einwirkungsmöglichkeiten auf Studierende zu nehmen«. Als Orte – wieder eher abseitige Orte – einer kritischen Diskussion blieben Weinkeller, Kneipen etc. Wieder war es der Verdacht auf Unterstützung einer terroristischen Vereinigung. Der Göttinger Asta hatte nach dem Attentat auf Generalbundesanwalt Buback einen Nachruf verfaßt, unterschrieben mit »Mescalero«. Dort war von »klammheimlicher Freude« die Rede, wenn auch mit dezidierter Position gegen den Terror.

»Nun haben 48 Hochschullehrer sich entschlossen, den Nachruf zu veröffentlichen, der zuvor nie in Gänze abgedruckt war. Es kam zu medialen Hetzkampagnen, der niedersächsische Kultusminister forderte die Hochschullehrer auf zu widerrufen. Brückner hat als einziger nicht widerrufen ... Brückner hat statt dessen eine umfassende Analyse des Flugblatts und der Kampagne vorgelegt. Viele seiner Kollegen, auch die linken Kollegen, versagten ihm nun die Solidarität. Im Mescalero hatte Brückner die befreiende Anarchie, das Aufdecken von Herrschaft auch in der Wissenschaft verteidigt«, schreibt die Psychoanalytikerin Almuth Bruder-Bezzel, und zitiert Brückner dazu: »Anarchie«, die »wir zur Humanisierung unserer Affekte und sozialen Beziehungen dringend benötigen«.

1982 stirbt Peter Brückner, kurz vor seinem 60. Geburtstag, an Herzversagen. Im Verlag von Klaus Wagenbach erscheinen Brückners Schriften, Sammlungen älterer Publikationen und Texte aus dem Nachlaß. Der Psychosozial Verlag hat 2004 »Sozialpsychologie des Kapitalismus« wiederaufgelegt. Unter demselben Titel, mit einem hinzugesetzten »heute«, ist nun, ebenfalls im Psychosozial-Verlag eine Sammlung von Beiträgen erschienen, die Brückners Gesellschaftstheorie und ihre Bedeutung für die gegenwärtige emanzipatorische Theorie und Praxis in unterschiedlichsten Aspekten auf über 400 Seiten würdigen, kritisieren, analysieren.

In diesem Sinne unternimmt der Psychoanalytiker Klaus-Jürgen Bruder den Versuch, Brückners Sozialpsychologie des Kapitalismus auf die gegenwärtige Gesellschaft zu beziehen und fragt, wie heute Massenloyalität hergestellt wird. »Massenloyalität ist gerade das, was die kulturelle Kluft ausmacht, die uns von der Zeit trennt, in der Brückner geschrieben hat. Und: diese Kluft, dieser Graben wurde aufgerissen durch den Versuch des Staates, die schwindende Massenloyalität zurückzuholen, wiederherzustellen.«

Dabei ist die Entwicklung der Gesellschaft seit den Achtzigern kein linearer Prozeß, auch wenn es durch die Ausdehnung des Neoliberalismus in alle Lebensbereiche erst einmal so erscheint. Der aggressive (postmodeme) Individualismus der Reaganomics und des Thatcherismus (Reagan: »Let the people rule!«) ist durch die »Law and Order«-Politik der Neunziger umgeschlagen in individualisierte Aggression; rohe Gewalt ist als Mittel zur Herstellung von Massenloyalität wieder an der Tagesordnung, nicht nur »unten«, als probates Mittel der Ruhigstellung und Einschüchterung von HartzIV-Empfängern und sozial wie kulturell Entmündigten, sondern – und das ist für die neueren hegemonialen Strategien des »Engineering Consent« (Edward Bernays) entscheidend – vor allem als »Zynismus der ›politischen Klasse‹«, der sich in einer »Brutalisierung des ›Klassenkampfs von oben‹« ausdrückt, wie Bruder es darstellt.

Legitimiert wird dieser aggressive Klassenkampf von oben mittlerweile auch »wissenschaftlich«, »intellektuell«, »medial« (Peter Sloterdijk, Thilo und neuerdings auch Ursula Sarrazin etc.), unterstützt von einem leistungswilligen, konformistischen Bohemismus, der weit über den akademischen Betrieb hinaus die Agenda öffentlicher Debatten bestimmt (zum Beispiel Richard David Precht, Jakob Augstein oder Frank Schirrmacher). Konterkariert wird damit nicht nur die Erkenntnis von der Möglichkeit eines richtigeren Lebens im falschen; vielmehr wird überhaupt eskamotiert, daß die Frage vom richtigen oder falschen Leben nicht einfach eine Sache der gewieften Meinung ist, sondern eine der radikalen Kritik. Insofern gilt, was der Psychologe Klaus Weber bemerkt: »Angesichts der Tatsache, daß ein Großteil der kritischen Intellektuellen – Professoren, Literaten, Journalisten – die Kritik zugunsten der Affirmation von bestehenden Zuständen aufgegeben hat, fehlt einer wie Peter Brückner ... in unsagbarer Weise.«

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