Rezension zu Die Macht der Emotion im Unterricht
Beiträge zur Lehrerbildung. Zeitschrift zu Theorie und Praxis der Aus- und Weiterbildung von Lehrerinnen und Lehrern
Rezension von Jürg Frick
Beiträge zur Lehrerbildung. Zeitschrift zu Theorie und Praxis der
Aus- und Weiterbildung von Lehrerinnen und Lehrern, Juni 2013, Jürg
Frick
Datler, M. (2012). Die Macht der Emotion im Unterricht. Eine
psychoanalytisch-pädagogische Studie
Zuerst ein kritischer Hinweis: Der Titel des Buches entspricht nur
teilweise dem Inhalt. Von rund 200 Seiten Text sind ca. 115 dem
eigentlichen Thema gewidmet, gut 84 Seiten behandeln aber Aspekte
des Erlebens von therapeutischen Situationen von
Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytikern, aufgezeigt anhand
sorgfältig ausgewählter Textstellen aus der psychoanalytischen
Literatur des 20. Jahrhunderts. Das ist – wenn man vom Titel
ausgeht – etwas ärgerlich. Trotzdem ist das Buch für Interessierte
lesenswert.
Wie Datler treffend schreibt, beeinflussen Emotionen unser
Wahrnehmen, unser Denken und unser Handeln, obwohl uns dies oft
wenig oder gar nicht bewusst ist. Zudem haben Emotionen einen
bedeutsamen Anteil am Gelingen – oder Scheitern – schulischer
Prozesse. Datlers Anliegen ist es, den Zusammenhang zwischen den
Emotionen der Lehrpersonen und ihren Schülerinnen und Schülern ins
Bewusstsein zu rücken. Im vorliegenden Buch wird im zweiten Teil
dargestellt, in welcher Weise sich die psychoanalytische Pädagogik
seit ihren Anfängen in der Zwischenkriegszeit mit diesen Fragen
auseinandergesetzt hat. Der fünfte Teil widmet sich derselben
Fragestellung in der jüngeren Zeit der psychoanalytischen Pädagogik
bis ins neue Jahrtausend. Im letzten Teil folgt ein kurzer Ausblick
für die Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen. Die ausführlichen
Teile drei und vier widmen sich dem Erleben von therapeutischen
Situationen von Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytikern. Ich
werde im Folgenden nur einige wenige Schwerpunkte zum eigentlichen
Thema (siehe oben) aufgreifen.
In der Einleitung erfahren wir, dass gemäss Untersuchungen in
Österreich im Schuljahr 2008/2009 rund 26% der Pädagoginnen und
Pädagogen vielfach wegen psychischer Belastungen Teilzeit
arbeiteten: Beziehungen und Emotionen im Unterricht (und im Kontext
der Elternarbeit) scheinen offenkundig belastend zu sein.
In den älteren Beiträgen psychoanalytisch orientierter Pädagoginnen
und Pädagogen wie etwa Zulliger fällt auf, wie wenig sie eigene
emotionale Regungen thematisieren – trotzdem finden sich hier zum
Beispiel wichtige Empfehlungen dazu, eigene sexuelle Hemmungen,
Verklemmungen und Ängste zu bearbeiten, damit ein sachlicher
Aufklärungsunterricht in der Schule möglich wird. Andere Autoren
der Frühzeit (1920erJahre) betonen die Bedeutung der Bearbeitung
eigener Gefühle – am besten in einer Analyse. Diese Forderung wird
nach 1945 aufgeweicht. Schon bei Aichhorn, der sich mit der Wirkung
von »Dissozialen« auf Lehrerinnen und Lehrer auseinandersetzt,
findet sich der wichtige Hinweis darauf, dass sich Lehrkräfte ihres
aktuellen Erlebens als Zugang zum besseren Verstehen der
Schülerinnen und Schüler bewusst sein müssen: Die emotionale Arbeit
mit Kindern und Jugendlichen ermöglicht es, sich selbst näher
kennenzulernen, sich nicht einfach abgelehnt zu fühlen und die
»Störenfriede« aufzugeben. Kündig schliesslich, ein Schweizer
Lehrer, erkennt schon 1927, dass Schülerinnen und Schüler umso eher
bessere Leistungen vollbringen können, je mehr sie sich von der
Lehrperson verstanden fühlen. Neuere Forschungen bestätigen diese
erstaunlich frühe Aussage. Im Teil nach 1945 finden sich unter
anderem lesenswerte Gesprächsprotokolle sowie Tagebucheinträge,
z.B. darüber, was von Lehrpersonen im Unterricht »als emotional
unerträglich« erlebt wird: Wie und warum rufen Schülerinnen und
Schüler Gefühle der Sympathie, aber auch der Ablehnung hervor? Jede
Lehrperson reagiert, empfindet individuell – besonders spannend
sind solche Beobachtungen bei Lehrerkonferenzen, wenn Schüler X
ganz unterschiedliche Gefühle bei seinen Lehrpersonen auslösen
kann. Hier wäre ein wichtiger Ansatz für die Arbeit an eigenen
Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomenen, z.B. in einer
Team-Intervision oder einer (externen) Supervisionsgruppe. Die
Praxis von Hirblinger, Beobachtungen in der Klasse, seien es
Gedanken, Urteile, Assoziationen oder auch Fantasien, in einem
»Lehrertagebuch« festzuhalten, kann nur weiterempfohlen werden und
könnte als Basis für die individuelle Arbeit an sich selber
(»Selbstentwicklung«) oder als Beitrag in einer Lehrer-Intervision
bzw. -Supervision fruchtbar sein. Datler führt dies in ähnlicher
Form in Wien seit 2008 mit Praxisprotokollen in der
Lehrpersonenweiterbildung systematisch und regelmässig erfolgreich
durch: In wöchentlichen Sitzungen werden die Protokolleinträge in
geleiteten Sechsergruppen besprochen.
Nicht nur psychoanalytisch qualifizierte Lehrkräfte sollten
grundsätzlich bereit und in der Lage sein, ihr Erleben zu
thematisieren und reflexiv für die weitere Gestaltung der Arbeit zu
nutzen. Dies ist, wie die Autorin zu Recht bemerkt, nicht einfach
und nicht immer angenehm – besonders weil man mit der eigenen
Geschichte und möglicherweise eigenen ungelösten Themen, Konflikten
und starken Gefühlen in Berührung kommt, die vielleicht vergessen
oder verdrängt wurden. Umso lohnender aber wäre diese Arbeit, weil
Lehrkräfte sonst lernhinderliche Entwicklungsprozesse – bei
Schülerinnen und Schülern wie bei sich selber – unerkannt
mitkreieren.
Leider muss dem Satz von Datler, dass in der Lehreraus- und
-weiterbildung dem emotionalen Bereich seitens der Lehrperson im
Unterrichtsgeschehen kaum Bedeutung zugestanden wird, mehrheitlich
zugestimmt werden. Hoffen wir und setzen wir uns dafür ein, dass
sich dies endlich ändert. Schade ist hingegen, dass kein Hinweis
auf das 1978 erschienene, umfangreiche und sehr erfolgreiche Buch
von Horst Brück (»Die Angst des Lehrers vor seinem Schüler«)
erfolgt, das wichtige von der Autorin thematisierte Aspekte
ausführlich behandelt.
Das Buch ist weniger Studierenden als vielmehr psychoanalytisch
interessierten Lehrpersonen als Anregung zu empfehlen.
Prof. Dr. Jürg Frick, Pädagogische Hochschule Zürich