Rezension zu Freuds Lektüren (PDF-E-Book)
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Rezension von Friedrich-Wilhelm Eickhoff
Diese sehr lesenswerte Studie des Literaturkritikers und Professors
für Neuere Deutsche Literatur an der Freien Universität Berlin und
neuerdings in Wien, Michael Rohrwasser über das Wechselverhältnis
von Literatur und Psychoanalyse einschließlich der zugespitzten
These, dass »Psychoanalyse in ihrem Kern eine Lesetechnik und
Kunsttheorie« sei, ist ohne ausdrücklichen Bezug zu dessen 150.
Geburtstag eine überraschende, wenngleich sicher auch kritische
Hommage an Sigmund Freud. Der Autor beginnt mit Umberto Ecos in
seinem Roman »Das Foucaultsche Pendel« indirekt dargestellter
Einsicht, dass das Eingeständnis eines fehlenden Schlüssels den
Blick auf einen verschlossenen Text öffnen und damit vor
vordergründigen Entzifferungen schützen kann, also einer ironischen
Botschaft in der Gestalt des scheiternden Detektivs (S. 9).
Rohrwasser liest Freud »in den Rollen des Entzifferers, des
Detektivs, des Übersetzers und des Archäologen, als modernen
Autor«, der »nicht nur Enträtseler, sondern auch Konstrukteur des
Rätsels ist«(S.15/16). Er zielt nicht auf Freuds Privatlektüre, in
denen Peter Brückner 1975 dessen Spiegelbild zu erkennen meinte,
sondern die öffentlichen Lektüren, seine Interpretationen und
Kommentare zur Literatur, auch wenn sie nur an den Berliner Freund
Wilhelm Fließ gerichtet waren, und erschließt den verborgenen
Schreibprozess, mit dem Freud zum konkurrierenden Part des
Schriftstellers wurde. Dieser Aspekt beleuchtet die gegenüber
Arthur Schnitzler in Freuds Brief zu dessen 60 Geburtstag
eingestandene »unheimliche Vertrautheit« und »Doppelgängerscheu«
(Freud 1960 a, 357) von einer ungewohnten Seite, insofern nicht nur
Schnitzler als »psychologischer Tiefenforscher« (a.a.O.), sondern
implizit Freud als Schriftsteller Gestalt annimmt. Psychoanalyse
und literarische Moderne verband »das Ergriffensein von den
Wahrheiten des Unbewussten, von der Triebnatur des Menschen«
(a.a.O.). Rohrwasser beschränkt sich auf vier von Freud
kommentierte Traumgeschichten, nämlich E.T.A. Hoffmanns Nachtstück
»Der Sandmann«, drei Novellen von Conrad Ferdinand Meyer, Wilhelm
Jensens »Gradiva. Ein Pompejanisches Phantasiestück« und Arthur
Schnitzlers »Die Weissagung« und befasst sich am Ende mit Elias
Canettis stillschweigender Auseinandersetzung mit Freud in seinem
genialischen Roman »Die Blendung«.
Faszinierend an der Untersuchung ist die große Nähe von
psychoanalytischer und literarischer Hermeneutik, die die
Unterscheidung von mündlicher und schriftlicher Rede relativiert
und die poetische Funktion der Sprache sowohl in der Psychoanalyse
als auch in der literarischen Interpretation unterstreicht.
Akribisch trägt Rohrwasser Freuds Nachträglichkeitskonzept
Rechnung, an dessen von Freud anerkannter Vorwegnahme durch Conrad
Ferdinand Meyer (Brief an Fließ vom 6. Juni 1898) er zum Beispiel
erinnert. Aber auch die »Ursprungskonstellation der Psychoanalyse«
(S. 370) verliert er nicht aus dem Auge, das Behandlungszimmer, von
dem Ricoeur und Habermas, so eine kritische Anmerkung, sich in
ihren Diskussionen über eine hermeneutische Psychoanalyse
stillschweigend verabschiedet hatten.
Freud hatte offenbar seiner Tochter Anna eine Vorliebe für
Detektivgeschichten anvertraut, und es war Serge Pankejeff, der
Wolfsmann, der in seinen Erinnerungen von seiner Überraschung
schreibt, dass Freud mit Conan Doyle und der von ihm geschaffenen
Figur Sherlock Holmes vertraut war und »diese Art von leichter
Lektüre« keineswegs ablehnte (Gardiner 1971/72, 182). Rohrwasser
belegt nun in seinem ersten, vor allem dem Essay »Das Unheimliche«
von 1919 gewidmeten Kapitel über »Freud und Sherlock Holmes« mit
einer Fülle von Verweisen zu Edgar Allan Poe, Carlo Ginzburg ,
Charles Sanders Peirce und Morelli seine These, dass Arthur Conan
Doyle und nicht E.T.A. Hoffmann als Autor des von Freud
interpretierten »Nachtstücks Der Sandmanns« das heimliche Ideal
verkörpert. Beide, Freud und Sherlock Holmes machen sich auf die
Suche nach der geheimen Spur, die sich nicht in der Tiefe, sondern
gerade an der Oberfläche verbirgt. Rohrwassers Wiedergabe von
Freuds Lektüre des Sandmanns hebt sehr kritisch die an der
Individualanalyse nach Abwendung von der Verführungstheorie und
Hinwendung zum Ödipusmodell orientierte rigorose ärztliche Lesart
hervor, die sich um Nathanaels Krankheitsbild, die in der Angst vor
dem Verlust der Augen im Augenblick seiner Verliebtheit zum
Ausdruck kommende Wiederkehr der Kastrationsangst, müht, und den
Sandmann, Coppelius und Coppola als Projektionen auf die gespaltene
Vaterimago wertet. Er weist genau die Abweichungen von der
Erzählung in Freuds in einer Fußnote wiedergegebener parteiischer
Nacherzählung nach, die manipulativ die unheimlich schillernde
Unentschiedenheit der Hoffmannschen Figuren aus der Welt schaffe.
Er folgt indessen Freuds ästhetischer Fragestellung und seiner
Unterscheidung des Unheimlichen als Wiederkehr einerseits
verdrängter infantiler Vorstellungen und andererseits einer
überwundenen animistischen, phylogenetisch begründeten
Weltauffassung. Er lässt aber eine zentrale Interpretation Freuds
aus, nämlich die Bedeutung der unheimlichen Figur, der Puppe
Olimpia als Personifikation der femininen Einstellung des in sie
verliebten Nathanael, und sieht Freud in der Rolle des
detektivischen Aufklärers durch die Konzentration seines Blickes
auf die Spuren der Fallgeschichte scheitern. Anerkennend vermerkt
Rohrwasser das kompositorische Geschick, mit dem Freud, Teile
seines Ichs trotz seiner Reserve gegenüber allem Okkulten
literarisch sichtbar machend, drei autobiographische Beispiele für
das Unheimliche einflicht: die Wiederkehr des Gleichartigen in
einer italienischen Kleinstadt, die Erscheinung eines Doppelgängers
in einem Zugabteil und die abergläubisch mit dem Todesdatum
verknüpfte Wiederkehr der Zahl 62. Der spezifische Charakter von
Hoffmanns Erzählung »Der Sandmann«, von Rohrwasser anderen Orts
interpretiert, so dass der Leser des vorliegenden Buches diese
Interpretation nicht erfährt, sei von Freud, dem er polemisch ein
detektivisches »Regelsystem« unterstellt nicht wahrgenommen
worden.
Verwunderlich ist, dass in Rohrwassers Argumentation trotz der
ausdrücklichen Erwähnung von Peirce jeder Hinweis auf die Logik der
Abduktion, des Erratens, des Vermutungschlusses als dritter
Möglichkeit neben Induktion und Deduktion fehlt, die die
»gleichschwebende Aufmerksamkeit« des Psychoanalytikers ebenso
mitbestimmt wie die Wahrnehmungseinstellung Sherlock Holmes (siehe
dazu Hinz 1991). Rohrwasser lastet Freud in gewisser Weise auch die
1919 bemerkenswerte Vernachlässigung der Unheimlichkeit von Krieg
und Revolution ebenso an wie das Übersehen etwa von Rilkes Roman
»Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge« als Beispiel für die
Literatur der Jahrhundertwende. Ausführlich widmet er sich der
demonstrativen Ablehnung Freuds gegenüber dem neuen Medium Film,
der die Welt der Träume direkter als die Literatur zu evozieren
vermöge, und erwähnt seine Weigerung, das Filmprojekt zu
autorisieren, mit dem Karl Abraham und Hanns Sachs mit Hilfe des
berühmten Regisseurs G.W. Pabst den abendfüllenden Spielfilm
»Geheimnisse einer Seele« gestalteten, der, so der Filmtheoretiker
Paul Ries, in die Annalen der Filmgeschichte einging, aber noch
heute als ein Mühlstein am Hals der Psychoanalyse gilt (Ries 1997).
Rohrwassers besonderes Interesse gilt dem Kino des Expressionismus,
Fritz Langs »Dr. Mabuse« und Robert Wienes »Dr. Caligari«.
Das zweite Kapitel »Freud liest Conrad Ferdinand Meyer« gibt
Rohrwassers eigener, höchst gründlicher Lektüre der »Richterin« und
anderer Novellen des Schweizer Dichters ein unangemessenes
Übergewicht. Hinter ihm erscheint Freuds aphoristischer Versuch
einer psychoanalytischen Interpretation der »Richterin« in einem
Brief vom 20. Juni 1898 an Wilhelm Fließ, dessen Begeisterung für
den Dichter Freud in einer Stimmung geteilter Größenphantasien
entgegenkommen wollte, armselig und mit dem Fehler behaftet, in die
mit dem berühmten Widerrufsbrief vom 21. September 1897 gerade
überwundene Sackgasse der Verführungstheorie zurückzufallen und
eigene Positionen zu ignorieren, nämlich das Subjekt des Träumers
oder Autors in einer Nebenfigur zu suchen. Freud hatte sich auf den
Protagonisten Wulfrin, den Sohn der Richterin, konzentriert und
selbstgewiss behauptet »Kein Zweifel, dass es sich um die poetische
Abwehr der Erinnerung an ein Verhältnis mit der Schwester handelt«,
als gäbe es im Unbewussten doch ein Realitätszeichen, eine Annahme,
die er ein Jahr zuvor im Widerrufsbrief gerade aufgegeben hatte.
Die Verborgenheit der verwandtschaftlichen Konstellationen habe
Freud bei der Lektüre sowohl der Richterin als auch des Ödipus von
Sophokles übersehen. In Freuds psychobiographischer, bzw.
psychopathographischer Sicht erscheint die Richterin als Dokument
einer psychischen Selbstentlastung, als »Schutzdichtung« (S. 147).
Dem Autor Conrad Ferdinand Meyer blieb aber, so Rohrwasser, Freud
treu. In der von seinem Verleger Heller erbetenen Liste zehn
»guter« Bücher fand sich nämlich auch die patriotische Dichtung
»Huttens letzte Tage«. Der Schweizer Dichter habe schließlich die
Verbindung zu einer anderen Freundschaft, der zu Hanns Sachs,
gebahnt. Die sorgfältig belegte Anmerkung (S. 352), dass Freud und
Sachs auch die Schätzung für Sherlock Holmes teilten. ist typisch
für Rohwassers ingeniöses Aufspüren primärer Quellen, die er
miteinander verknüpft. Sein Buch ist überreich an vergleichbaren
Beispielen.
Im ersten Heft der »Schriften zur angewandten Seelenkunde«
veröffentlichte Freud 1907 seine Untersuchung »Der Wahn und die
Träume in W. Jensens Gradiva«. In ihr wendet sich Freud dem
literarischen Text allein zu und klammert programmatisch
zurückhaltend den Autor aus, der auf der Suche nach neuen Beweisen
für die Gültigkeit seiner Theorie zum Bundesgenossen und nicht zum
Patienten wird. Die interne pathographische Spekulation über einen
Geschwisterinzest erwies sich als »Falschmünzerei«, um eine von
Freud nicht aufgegriffene Vokabel aus der Novelle zu benutzen.
Nacherzählung und Interpretation der literarischen Träume und der
»klinischen« Verfassung des Protagonisten, dem zu Unrecht ein Wahn
zugeschrieben wird, verschmelzen miteinander. Freud schreibt für
Nichtinformierte eine Art Einführung in die Psychoanalyse und
demonstriert vor allem die Unentbehrlichkeit der Übertragungsliebe
am Beispiel des Archäologen Norbert Hanold, der in Pompeji die
verschüttete Liebe zur Spielgefährtin seine Kindheit Zoe
wiederfindet, an die das zur Ikone der Psychoanalyse gewordene
antike Relief der Gradiva ihn erinnert hatte. Zoe ist in der Lage,
Liebe als ihr Heilmittel anzuwenden: in einem Liebesrezidiv
vollzieht sich der Prozeß der Genesung. Der Arzt behelfe sich mit
bescheideneren Mitteln, sich diesem Vorbild zu nähern. Den im
Dezember 1907 im Salon des Verlegers Heller gehaltenen Vortrag »Der
Dichter und das Phantasieren« liest Rohrwasser überzeugend als
Nachtrag zu Freuds Gradiva-Essay. Er wirft Freud eine gewisse
Verharmlosung der Kunst vor und sieht ihn als Konkurrenten der
Dichter, denen er zwar seine Reverenz erweist, um dann aber doch
auf den Unterschied zu seiner wissenschaftlichen Arbeit zu pochen,
die im Gegensatz zum möglichen Escapismus der Dichter der
Wirklichkeitsflucht widerstehen muss.
Das vierte Kapitel »Freud liest Schnitzler. Ästhetizismus,
Antisemitismus und Traumdeutung« geht von Freuds kritischer
Bemerkung über Schnitzlers 1905 in der Neuen Freien Presse in Wien
erschienenen wenig bekannten Erzählung »Die Weissagung«, mit der
Rohrwasser den Leser sorgfältig vertraut macht, in der Arbeit »Das
Unheimliche« aus und behandelt sehr umfassend das spannungsreiche
Verhältnis beider zueinander. Freud hatte »ein Gefühl von
Unbefriedigung, eine Art Groll über die versuchte Täuschung« bei
der Lektüre der Erzählung beklagt und von seinem Unbehagen mit
Produktionen, die mit dem Wunderbaren liebäugeln, geschrieben.
Rohrwasser macht die vielen Gemeinsamkeiten als jüdische Ärzte im
antisemitischen Wien, Assistenten Theodor Meynerts, Anhänger
Bernheims und der dynamischen Psychiatrie Moritz Benedikts, Kenner
der Hypnose und Liebhaber E.T. A. Hoffmanns kenntlich und arbeitet
überzeugend heraus, was sie trennt: vor allem die unterschiedliche
Einschätzung der Deutbarkeit von Träumen. Freud hat nachhaltig auf
dem Zeichencharakter des sprachlich mitgeteilten Traums bestanden
und gewarnt, die Zeichen nach ihrem Bilderwert zu lesen, in der
Sicht Rohrwassers einer vormodernen Linearität verpflichtet, die
dem Traum die Radikalität raubt, während Schnitzler die
Übersetzbarkeit in Frage stellt, weil Worte sich immer »in
verschiedener Weise auslegen« (S. 235) lassen, der
Entzifferungseuphorie misstraut und die zu primärer Identifikation
(Sandler & Sandler, 1995) einladenden lebenden Bilder des
Stummfilms liebte. Seine Erzähltechnik habe, so Rohrwasser, jede
objektive Instanz verweigert. Schnitzlers Spiel mit doppeltem
Boden, auf dem die Literatur ins Leben hinüberreicht, und den ihr
von Freud angewiesenen »Naturschutzpark« verlasse, sei Freud so
wenig wie der von seiner Lehre begeisterte Surrealismus geheuer
gewesen. Wie eine Detektivgeschichte liest sich Rohrwassers Analyse
vor allem des vielleicht E.T.A. Hoffmanns Coppola nachempfundenen
Marco Polo, des jüdischen Taschenspielers aus Schnitzlers
Erzählung, der, zugleich Racheengel und mit den Zügen einer
antisemitischen Projektion ausgestattet, Freud zu sehr an den
später bedeutungsloser gewordenen Hannibal, den Lieblingshelden
seiner Gymnasialjahre erinnert habe (S. 268). Nicht zuletzt setzte
»Die Weissagung« die von Freud bestrittene Annahme eines
prophetischen Traums voraus. Schließlich habe aber der mit beiden
vertraute Theodor Reik in seiner Autobiographie versöhnlich Freud
und Schnitzler nebeneinander gesehen; Denkmal ihrer brüderlichen
Einheit in der Literatur.
Ein Chiasmus verbindet die ersten vier mit dem fünften Kapitel
»Canetti liest Freud«: nicht, wie Freud gelesen hat, sondern wie er
gelesen oder vielmehr diese Lektüre verleugnet wurde, zeigt
Rohrwasser am Beispiel des großen Psychoanalysehassers Elias
Canetti. Freuds Lektüre verwandelt sich so in die Lektüre Freuds.
Anders als Schnitzlers, Hofmannsthals, Musils und anderer offene
Auseinandersetzung mit Freud und seinem Einfluss auf die Literatur
und den Geist der Moderne entfaltet Canetti seinen heimlichen
intensiven Dialog mit Freud, ohne dass vorerst sein Name genannt
wird oder von Psychoanalyse die Rede ist, in seinem Roman »Die
Blendung«. Canetti gibt dem Protagonisten Dr. Peter Kien, dem
weltentrückten Wissenschaftler und »größten Sinologen seiner Zeit«,
die Züge einer Freud-Karikatur: er hat seine Ohren verschlossen,
die Fenster zugemauert, sich den Blick auf die Straße versperrt und
öffnet die Augen nur noch vor seinen Manuskripten. Die
bürgerkriegsähnlichen Zustände in Wien am 15. Juli 1927, als es zu
einer spontanen führerlosen Demonstration gegen die Billigung eines
Unrechtsurteils zu Gunsten rechtsradikaler Täter seitens der
Regierung kam, die Polizei in die Menge schoss und der Justizpalast
in Flammen aufging, motivierte den tief beeindruckten Canetti, auf
die Straße zu gehen, und den 71-jährigen Freud, vom Semmering aus
an Ferenczi von einer faulen Sache zu schreiben: »Dieser Sommer ist
eigentlich katastrophal, als ob ein großer Komet am Himmel stünde«.
Erfahrungsmangel und affirmative Neigungen lauten Canettis Vorwürfe
an Freud, die sich in seinem Gegenentwurf zu Freuds
»Massenpsychologie und Ich-Analyse« widerspiegeln, nämlich in
»Masse und Macht«, wo Canetti seine Kritik an Freuds
Schreber-Analyse nicht mit dessen Namen verbindet und vor allem im
Gegensatz zu den von Freud untersuchten Institutionen Kirche und
Heer die neuen Massen, die Arbeitslosen, Streikenden, religiösen
Fanatiker und die Inflationsmasse des entwerteten Geldes mehr von
innen als von außen in den Blick nimmt. Rohrwassers glänzende
Untersuchung der Deutung des makabren fiktionalen Tag-Alptraums
Kiens, in dem Menschen sich in Bücher und Bücher in Menschen
verwandeln, durch den Träumer selbst, zeigt an erstaunlichen
Entsprechungen die unterirdische Verbindung zu Freuds Traumdeutung.
»In seine Bestandteile zerlegt, verliert der Traum seine Macht«
heißt es bei Canetti, der Freuds berühmte Formulierung » Nach
vollendeter Deutungsarbeit lässt sich der Traum als Wunscherfüllung
erkennen« (1900a, 126) parodiert und die Macht der Angst und nicht
dem Wunsch zuschreibt. Hinter der literarischen Anstrengung einer
Ausgrenzung weist er die Spuren des heimlichen Dialogs zwischen
Freud und Canetti nach und erkennt die Gemeinsamkeiten in der
jüdischen Herkunft ohne ein Leben in der jüdischen Tradition, der
Neigung, Archaisches und Moderne zu verbinden und dem Glauben an
die Erfassbarkeit und Sagbarkeit des Erlebten und Erkannten (S.
308).
Rohrwasser erschließt nicht nur den literaturwissenschaftlichen,
sondern auch den zeitgeschichtlichen und
psychoanalysegeschichtlichen Kontext der von ihm untersuchten
Lektüren mit einer Vielzahl überraschender, gut belegter
Entdeckungen. Sein Buch ist ausgesprochen spannend zu lesen, würde
aber durch ein Register noch gewinnen.
Bibliographie
Hinz, H. (1991), Gleichschwebende Aufmerksamkeit und die Logik der
Abduktion. Jahrbuch der Psychoanalyse 27, 146-175
Ries, P. (1997), Geheimnisse einer Seele. Wessen Film und wessen
Psychoanalyse? Jahrbuch der Psychoanalyse 39, 45-80
Sandler, J. and Sandler, A.-M. (1995), Unconscious Phantasy,
Identification and Projection in the Creative Writer. In: On Freuds
«Creative Writer and Day-Dreaming«, ed. Person, E.S., Fonagy, P.,
Figueira, S.A., New Haven and London: Yale University Press