Rezension zu Das Geheimnis unserer Großmütter
GENDER 1|2013
Rezension von Nicole Justen
Eichhorn, Svenja/Kuwert, Philipp, 2011: Das Geheimnis unserer
Großmütter. Eine empirische Studie über sexualisierte
Kriegsgewalt um 1945
Die vorgelegte Studie untersucht, in welchem Ausmaß
Traumatisierungen durch sexualisierte Kriegsgewalt um 1945 bei den
betroffenen Frauen zu Belastungssymptomen geführt und inwieweit
sich diese aufgrund von mangelnden Bewältigungsmöglichkeiten bis
in die Gegenwart hinein zu einer (chronischen) posttraumatischen
Belastungsstörung (PTBS) ausgeprägt haben. Die Veröffentlichung
basiert auf einer Erhebung von Svenja Eichhorn, die unter der
Betreuung und Projektleitung von PD Dr. Philipp Kuwert am Institut
für Psychologie der Universität Greifswald sowie der Klinik für
Psychiatrie und Psychotherapie des Hanse-Klinikums Stralsund
durchgeführt wurde. Die Studie steht im Kontext der sich erst
langsam entwickelnden öffentlichen Beschäftigung mit sexualisierter
Kriegsgewalt um 1945 und dem Aufbrechen der Traumatisierungen im
Zusammenhang des Älterwerdens und entstehender
Pflegebedürftigkeit. Was muss es beispielsweise für eine Frau
bedeuten, die sexualisierte Gewalt erlebt hat, wenn sie von
männlichen Pflegern betreut, gefüttert und gewaschen wird und ihr
eventuell geäußertes Unbehagen als unverständliches, störendes
Verhalten im anstrengenden Pflegealltag verurteilt und entsprechend
behandelt wird?
Hier wird ein Thema aufgegriffen, das auch 65 Jahre nach den
Vergewaltigungen von bis zu zwei Millionen Frauen durch russische
Alliierte sowohl im privaten als auch gesellschaftlichen Raum einem
Tabu unterliegt. Insbesondere der Bosnienkrieg hat jedoch gezeigt,
dass Kriegsvergewaltigungen gezielt als militärtaktisches Mittel
eingesetzt werden. Diese Verbrechen an Frauen finden in unzähligen
kriegerischen Auseinandersetzungen statt, die Eichhorn chronikartig
benennt, um aufzuzeigen, dass Vergewaltigungen zu Kriegen
systematisch dazugehören (können). Sie verschweigt dabei auch nicht
die sexualisierten Gewalttaten, die in den Militärbordellen der
deutschen SS im Zweiten Weltkrieg an jüdischen Frauen verübt
wurden. Das sachliche Erkennen dieser Verbrechen allein reicht
jedoch nicht aus, um das Leid, das Frauen auf der ganzen Welt
betrifft, anzuerkennen und damit Bewältigungsmöglichkeiten und
-hilfen zu schaffen. Eichhorn geht davon aus, dass die
Traumatisierungen, die Frauen durch sexualisierte Kriegsgewalt um
1945 erleben mussten, durch fehlende Bewältigungsmöglichkeiten bis
heute eine psychische Belastung darstellen, über die die wenigsten
Frauen sprechen können. Bis ins hohe Alter sind sie für viele
dieser Frauen ein Geheimnis geblieben, von dem weder ihre Familien
noch das weitere soziale Umfeld etwas wissen.
Die Analyse basiert auf quantitativen und qualitativen Erhebungen.
Quantitativ bedeutet in diesem Zusammenhang, dass vor allem
statistische Daten zum Thema ermittelt und die Häufigkeiten und
deren Verteilung erhoben wurden. Die qualitativen Daten sind als
Interviewaussagen der betroffenen Frauen zu verstehen, die im
Rahmen dieser Studie jedoch nur begrenzt mithilfe qualitativer
Analyseverfahren ausgewertet werden konnten. Im Kontext einer
zunächst relativ klein angelegten Untersuchung war es der
Verfasserin nicht möglich, sowohl die quantitativen als auch die
qualitativen Daten ausführlich in die Veröffentlichung mit
einzubeziehen, was im methodischen Bereich zu Schwächen führt. Die
qualitativen Daten dienen in diesem Werk daher eher als
flankierende Zusätze.
Im ersten Teil der Arbeit erläutert Eichhorn, was unter
sexualisierter Gewalt und Vergewaltigung, sexualisierter
Kriegsgewalt, Traumatisierung und einer posttraumatischen
Belastungsstörung als Folge der erlebten Gewalt verstanden wird.
Sie bezieht dabei die Fachliteratur und den aktuellen
Forschungsstand weiträumig ein. Im zweiten Teil gibt sie einen
ausführlichen Einblick in das gewählte Studiendesign mit den
soziodemografischen Daten ihrer Stichprobe sowie dem
Erhebungsverfahren (narratives Leitfadeninterview und Fragebogen)
und den Messinstrumenten. Im dritten Teil stellt Eichhorn dann die
Ergebnisse ihrer deskriptiven und interferenzstatistischen Analyse
vor. Im deskriptiven Teil finden sich Angaben »zu den erlebten
Traumata im Allgemeinen, zum Trauma der Kriegsvergewaltigung und
zur Bewältigung. Der interferenzstatistische Teil enthält
Analysen der Variablen PTBS, Kohärenzgefühl, Traumazahl und
peritraumatische Belastung und liefert damit die Grundlage für die
Beantwortung der theoretischen Fragestellung« (S. 71).
Besonders aufschlussreich sind die Passagen, in denen die
betroffenen Frauen selbst zu Wort kommen und damit Einblicke in die
an ihnen begangenen Verbrechen geben: »Zwei haben mich
festgehalten, ein Dritter hat dann mich vergewaltigt. Dann haben
die sich abgewechselt. Und das ging so ungefähr fünf Mal« (R. S.,
82 Jahre). Sie beschreiben auch ihre Gefühle und das Schweigen
danach: »Das war so ein Makel an einem« (G. W., 89 Jahre), »Ich hab
mit keinem darüber gesprochen« (U. K., 79 Jahre). Es sind aber
auch Aussagen zu finden wie: »Es ist ja kein Wunder. Das sind auch
bloß Männer. Unsere haben es genauso gemacht« (I. B., 79 Jahre)
oder »Wenn es wirklich einen Gott gibt, der alles erschaffen hat,
der hat ja auch den Sexismus erschaffen. Das gehört doch zum
Menschen« (H. R., 82 Jahre) (vgl. S. 71ff.). Eichhorn legt mit der
Darstellung dieser Zitate einen Zugang zu den Erlebens- und
Erfahrungswelten der befragten Frauen offen, der ein enormes
Potenzial für eine tiefgreifende Analyse zur Thematik der
sexualisierten Kriegsgewalt gegen Frauen und zu den
Verarbeitungswegen bietet. Die interferenzstatistische Analyse
offenbart u. a., dass die »erlebte subjektive Belastung innerhalb
der Situation der Kriegsvergewaltigung [...] einen positiven
Zusammenhang zur Symptomstärke der posttraumatischen Belastung
[zeigt]« (S. 99) und sich bei den Frauen bis heute
Beeinträchtigungen in unterschiedlichen Lebensbereichen finden
lassen. Eichhorn vergleicht die statistischen Daten ihrer Studie
mit anderen Studien zur PTBS und geht dabei auf die aktuelle
PTBS-Ausprägung und Symptomstärke, das Kohärenzgefühl sowie die
peritraumatische Belastung ein.
Im vierten Kapitel reflektiert die Autorin eingehend und kritisch
das methodische Design der Studie. Ohne die Ergebnisse schmälern
zu wollen, weist sie u. a. auf den geringen Stichprobenumfang und
die damit einhergehende Frage der Repräsentativität der
Stichprobe hin. Ebenso nimmt sie das Fehlen einer adäquaten
Vergleichsstichprobe in den Blick sowie die ausschließlich
querschnittlich erhobenen Daten, die keine Aussagen über den
Kausalzusammenhang verschiedener Variablen erlauben. Überdies
werden auch die Effekte angesprochen, die bei Erinnerungen an lange
zurückliegende Ereignisse auftreten und damit verzerrend auf die
Gesamtergebnisse wirken können. Im fünften Kapitel folgt eine
Zusammenfassung mit Ausblick.
Trotz der von der Autorin selbst genannten methodischen
Einschränkungen ist die vorliegende Studie eine bereichernde
Untersuchung sowohl für (angehende) MedizinerInnen,
PsychiaterInnen, PsychotherapeutInnen, Pflegekräfte,
MitarbeiterInnen von Altenhilfe- und -bildungseinrichtungen als
auch für die betroffenen Frauen selbst, deren Familien und die
Gesellschaft. Eichhorn kann herausarbeiten, dass bei vielen
betroffenen Frauen auch nach mehr als 65 Jahren nach dem Erleben
sexualisierter Kriegsgewalt Einschränkungen und Belastungen
wirken, die darauf zurückzuführen und als posttraumatisch zu
verstehen sind. Sie kann zudem aufzeigen, dass Verdrängung die am
häufigsten gewählte Strategie zur Bewältigung des Erlebens war
und ist. Damit verweist sie auch auf den Grad des
Sich-Nicht-Mitteilen-Könnens. Erst viele Jahre nach der
Traumatisierung ist es den Frauen in einem geschützten Rahmen
möglich, ihre Geschichten zu erzählen. Eichhorn hat das von ihr
gesteckte Ziel erreicht, indem sie deutlich macht, »dass das
private und öffentliche Schweigen über die Welle der
Kriegsvergewaltigungen um 1945 in vielen Fällen bis heute eine
unsagbar große Verletzung verbirgt« (S. 100). Ihre Arbeit ist zu
verstehen als eine Form der lange versäumten Auseinandersetzung
mit der Thematik. Die Studie kann Grundlage sein, um den
Folgegenerationen der sexuell kriegstraumatisierten Frauen mehr und
vor allem früher Aufmerksamkeit zu widmen, damit posttraumatische
Belastungsstörungen rechtzeitig als solche erkannt und behandelt
werden können. Die Lektüre dieses Buches sei zum einen all jenen
empfohlen, die sich der Thematik aus einer wissenschaftlichen
Perspektive nähern wollen, und zum anderen denjenigen, die mit
alten Frauen arbeiten und/oder schon immer etwas über das
Geheimnis ihrer Großmütter wissen wollten.
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