Rezension zu Der Besen, mit dem die Hexe fliegt

Analytische Psychologie. Zeitschrift für Psychotherapie und Psychoanalyse, Juni 2013

Rezension von Ruth Sandmann-Strupp

Mit ähnlichem Anspruch und didaktischem Aufbau wie in »Macht und Dynamik des Unbewussten« haben die Herausgeber erneut ein Viel-Männer (und Wenig-Frauen, sieht man einmal von der gewagten Umschlaggestaltung ab) Buch verfasst, gewidmet der »Hexe Metapsychologie« und ihrem Besen. Erstere verfügt über die magische Fähigkeit, letzteres, ein simples Haushaltswerkzeug, das scheinbar nur dazu taugt, Ordnung zu schaffen, zu einem weiteren Zweck zu gebrauchen: zum Fliegen, dazu, die Dinge aus einer anderen Perspektive, distanziert und im Überblick, zu betrachten. Ohne den Besen allerdings könne die Hexe nur »Verwüstung und Verführung« produzieren. Die Hexe steht, man ahnt es, für den individuellen Denker bzw. Therapeuten, der Besen für eine Theorie, die als »Besen der Manuale« einerseits ordnen und begrenzen muss, es andererseits dem kundigen Benutzer ermöglichen soll, sich kühn zu den »Höhenflügen der Phantasie« aufzuschwingen. Geht das? Dorthin, wo die Gesetze der Physik nicht gelten, d. h. außerhalb des Paradigmas der empirischen Wissenschaften? Oder, so endet das zweibändige Werk, muss der Begriff der Empirie für Psychotherapie und Psychotherapieforschung neu definiert werden? Diese Frage stellte sich und dem Leser bereits Freud, als er sich befremdet zeigte, dass seine Falldarstellungen »wie Novellen zu lesen« seien. Feststellung oder sogar Aufforderung? Das bleibt offen.

Existenz, personales Sein, der Mensch in seinen sozialen und kulturellen Bezügen können nicht, schon gar nicht als linear kausale Abfolge von Ursache und Wirkung, vollständig erfasst werden. Ohne diese Kategorie wohl auch nicht. Das Buch, wollte es beides leisten, müsste an den Widersprüchen zwischen den beiden Sichtweisen kranken und gesunden. Doch es vertritt die Position der verfolgten Außenseiterin, der über den Dingen schwebenden Hexe – und tut dies durchaus polemisch einseitig –, als Versuch, sich einem gesellschaftlichen und gesundheitspolitischen Trend entgegenzustemmen. Dabei verfällt es einer anderen Einseitigkeit, dies aber gekonnt. Der »Rundflug« führt über die Nachbargebiete, insbesondere Wissenschaftstheorie, Philosophie, Sozialwissenschaften und Linguistik, welche jeweils einen anderen Blick auf Phänomene und Begriffe bieten, die in der Psychoanalyse zentrale Bedeutung haben: Bewusstsein, Unbewusstes, Dialog, Konversation, Wissen, Wahrheit ... Es streift dabei auch die Frage, ob man das Fliegen theoretisch erlernen könne oder, wie das Titelbild andeutet, dazu praktischer Übung in Begleitung einer erfahrenen Fluglehrerin bedürfe, entsprechend der notwendigen Praxis eigener Analyse(n).

Ausgangspunkt ist die Frage, in welcher Weise man wissenschaftlich über das Unbewusste sprechen könne, wobei das »Basisproblem der wissenschaftlichen Psychologie« in der »Polarität zwischen einer naturwissenschaftlich-nomothetisch-objektivierend-erklärenden und einer geisteswissenschaftlich-ideographisch-subjektivierend-verstehenden Wissenschaftsauffassung« gesehen wird. Diese Polarität zwischen empirischen und hermeneutischen Wegen von Erkenntnis und Darstellung sehen die Autoren als notwendige Komplementarität zweier Wissenskulturen, die beide jeweils eine Seite einer Münze repräsentieren, weshalb die Münze nicht auf eine Seite fallen dürfe. Das wird mehrfach hergeleitet und dargestellt: wissenschaftstheoretisch, philosophisch, soziologisch und anthropologisch. Dadurch ergeben sich notwendigerweise Spannungen und – ärgerlich für den Leser – umfangreiche Überschneidungen, die sich auch durch das Nietzsche-Zitat im Artikel von Christian Sell nicht auflösen lassen: »Je mehr Augen, verschiedene Augen wir uns für dieselbe Sache einzusetzen wissen, umso vollständiger wird unser ›Begriff‹ dieser Sache.« (Sell, C.: »Die Wissenskultur der Psychoanalyse und ihre Differenz zur kognitiven Verhaltenstherapie«, Bd. 1, S. 296) Aus jungianischer Sicht, geübt im Denken in Paradoxien zwischen Komplementarität und Polarität, bereit, den Widerspruch zu denken und auszuhalten statt ihn grundsätzlich und endgültig auflösen zu wollen, kann man sich darauf gut einlassen.

Eine wesentliche Stärke der meisten Beiträge liegt im Bemühen, die verschiedenen Theorien jeweils aufeinander zu beziehen und anzuwenden, z. B. historische, strukturalistische und psychoanalytische Theorien auf die Ideengeschichte der Psychoanalyse, wie z. B. in den Artikeln von Hans-Jürgen Wirth und Christina von Braun. Dadurch entsteht eine dem Thema angemessene Komplexität, die den Leser am Ende nicht verwirrt und ratlos zurücklässt, sondern Wirklichkeit und Wahrheit hinter den Begriffen erahnen lässt.

Leider nimmt die These von der unheilvollen Dominanz des »naturwissenschaftlichen« Paradigmas sehr viel Raum ein, erweitert um berufspolitische Themen wie der Angst, von einem simplifizierten naturwissenschaftlichen Paradigma und dazu passenden Therapieformen, sei es der biologischen Psychiatrie, sei es der Verhaltenstherapie, marginalisiert zu werden. Folgerichtig wird darauf verwiesen, welches Studiendesign zur Untersuchung menschlichen Erlebens und therapeutischer Wirksamkeit nicht taugen könne: randomisierte, kontrollierte Studien, welche in Bezug auf psychotherapeutische Verfahren ohnehin nicht durchführbar wären. Wenig später heißt es jedoch: »Hochkomplexe Konstrukte der Psychoanalyse wie Abwehr, Übertragung, Gegenübertragung, Widerstand etc. sind qualitativ-quantitativ erfassbar. Dazu allerdings muss die Patient-Therapeut-Beziehung in concreto et totaliter erfasst und objektiv untersucht werden.« (Tschuschke, V.: »Wissenschaftlich fundierte Psychotherapie – unbedingt, aber wie?«, Bd. 2, S. 583-604) In concreto? Totaliter? Objektiv? Der Autor führt selbst entsprechende Studien durch, man wünscht ihm Erfolg und ahnt doch: Selbst das komplexeste Studiendesign wird diesem Anspruch nicht genügen können, auch, aber nicht nur deshalb nicht, weil die statistische Auswertung umso höhere Fallzahlen erfordert, je zahlreicher und vielfältiger die untersuchten Merkmale sind. Hier würde die übel beleumundete positivistische Methodik zeigen können, warum das Experiment/die Studie leider keine Aussicht auf mathematisch darstellbare Ergebnisse hat. Entgegen dem derzeitigen Trend wird die Frage nach der Bedeutung neurowissenschaftlicher Erkenntnisse für die Fragestellung in dem 15-seitigen Artikel von Thomas Fuchs äußerst knapp abgehandelt: »Die Welt ist nicht im Kopf. Das Selbst ist nicht im Gehirn. Psychische Krankheiten sind keine Gehirnkrankheiten.« (Fuchs, T.: »Das Gehirn als Beziehungsorgan in verkörperten Interaktionen«, Bd. 2, S. 409-429) Statt des polemischen »nicht« könnte man auch ein »nicht nur« oder sogar ein »auch« setzen. Es ist unbestritten, dass das Gehirn ein »Beziehungsorgan«, der Mensch ein »ultrasoziales Wesen« ist. Es reicht nicht aus, eine scheinbar isolierte Person in ihrem Handeln zu betrachten, sondern sie muss mit ihren realen Bezügen, ihren selbstreflexiven Überzeugungen, ihren immer vorhandenen, wenn auch meist impliziten, anthropologischen Grundannahmen gesehen werden. Letztere wiederum sind gleichzeitig Niederschlag persönlicher Beziehungserfahrungen, womit die Brücke zu Säuglingsforschung und Entwicklungspsychologie geschlagen wird. Das trifft ohne Frage zu, doch wohin es führt, wenn die empirische, verkürzt medizinisch-naturwissenschaftliche Seite nicht oder nur verfälscht zu Wort kommt, demonstriert ein Artikel, der sich in so gewagte, sowohl neurowissenschaftlich als auch physikalisch und philosophisch nicht tragfähige Höhen versteigt, dass eine Bruchlandung unvermeidlich ist. Wer sich, wie Adnan Sattar (Sattar, A.: »Entsteht die Welt im Kopf?«, Bd. 2, S. 451-490) fragt, wie es denn möglich sei, dass sich zwei Fußballspieler einen Ball zuspielen können, wo doch die Wahrnehmung um 0,5 Sekunden verzögert, folglich viel zu langsam sei, offenbart damit eine so basale praktische und theoretische Unkenntnis von mentalen Prozessen, dass es nicht verwundern kann, dass er alsbald bei Holobewegung(en) ankommt, bei der angeblich der Quantenphysik entstammenden Behauptung, »dass die materielle Welt nur durch den Akt der Beobachtung entsteht« und sich letztlich im leeren Raum der Feststellung verliert, das Geistige sei das »Primäre«, »ewig«, alles sei »geistiges Potential«. Das führt zu überraschend tiefen Einsichten wie der folgenden: »Wird die Seele dagegen gepflegt, so steigern sich unser Wohlbefinden und unsere Harmonie.« Reduktionismus der anderen Art. Dieser Beitrag ist auf seine Art sehr wertvoll, denn er birgt einen Verfremdungseffekt im Sinne des Brecht’schen Theaters: Vorsicht, das, worauf die Herausgeber abzielen, findet im Kopf des Lesers statt oder eben gar nicht. Die Quantenphysik wird in beiden Bänden des Öfteren herangezogen. Weniger um zu klären, was der Begriff »Wahrheit« in den Naturwissenschaften bedeuten könnte, sondern um zu betonen, dass alles gar nicht so eindeutig und exakt sei, wie manches Studiendesign (und seine Auswertung) vermuten lasse. Das scheint mir jedoch zu einfach: Der naturwissenschaftliche Wahrheitsbegriff gründet sich keinesfalls nur auf Falsifizierbarkeit, sondern ist eine Frage von Syntax und Semantik, von dem, was gesagt werden kann, in welchem System, und worüber man eben schweigen muss, welche intuitiven, erfahrungsnahen, im System selbst oder auch überhaupt nicht beweisbaren Axiome/Definitionen als gültig vorausgesetzt werden und welche Fragen und Antworten das zulässt. Somit wäre einer zweiten Auflage des Buches ein Artikel eines Physikers oder Logikers zu wünschen, um das lieblos (und geistlos) einseitige Bild der »positivistischen Naturwissenschaft« zu korrigieren bzw. zu ergänzen, damit die Münze schließlich nicht auf eine, und sei es diesmal die andere, Seite fällt. Eine weitere, wertvolle Ergänzung aus philosophischer Sicht wäre ein Beitrag zur Neuen Phänomenologie, denn wenn auch in vielen Beiträgen (u. a. dem von Bernard Görlich, »Der Eigensinn des Unbewussten«, Bd. 1, S. 545-571) der Leib-Seele-Dualismus als Denkmodell infragegestellt wird, so genügt das noch nicht, um einen Ausweg aus dieser Sackgasse zu weisen. Es ist doch immerhin eine Münze, und die Frage, wo denn nun die definitive Grenze zwischen den beiden Seiten liegt, ist unsinnig: falsche Frage.

Am Ende steht ein Beitrag der Herausgeber zur Person des Forschers bzw. Therapeuten und seinem Verhältnis zu seinem »Gegenstand«. Dieses gründe, dem Wissenschaftstheoretiker Ulrich Charpa zufolge, auf persönlichen Tugenden wie Neugier, Wahrheitsliebe, Fantasie, Mut und Hingabe (Buchholz, M.; Gödde, G.: »Person versus Methode – Eine zentrale Frage für Therapeutik und Therapieforschung«, Bd. 2, S. 641-669). Dazu befragte Charpa Nobelpreisträger, also vorwiegend Naturwissenschaftler, denn der Bruch verläuft nicht zwischen den Hirnlosen und den Geistlosen, um das bekannte Bonmot zum Problem der kognitiven Neurowissenschaften aufzugreifen, sondern ... Hier möge der psychoanalytisch vorgebildete und geprägte Leser selbst weiterdenken. Wer die beiden Bände mit den genannten Tugenden liest, wird neue Ausblicke, Verbindungslinien und Sackgassen kennenlernen. Wer einfache Wahrheiten sucht, wird fast durchgehend enttäuscht – umso besser.

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