Rezension zu Wendepunkte (PDF-E-Book)

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Rezension von Dunja Voos

Autistische Zustände psychoanalytisch erklärt – Buchtipp: »Wendepunkte«

Es ist so unglaublich spannend, wenn der Autismus aus psychoanalytischer Sicht erklärt wird. Kürzlich las ich das Buch »Wendepunkte – zur Theorie und Klinik psychoanalytischer Veränderungsprozesse«. Das Kapitel »Die Analyse autistischer Zustände im Erwachsenenalter« von Judith Mitrani erlaubt faszinierende Einblicke in die autistische Welt.

Körperempfindungen und Sinneseindrücke anstelle von Gefühlen und Vorstellungen
Die Autorin weist auf das hilfreiche Konzept der »autistischen Objekte« und der »autistischen Formen« der Psychoanalytikerin Frances Tustin hin. Tustin erklärt, dass autistische Kinder sich möglicherweise zu früh gewahr wurden, dass sie eine von der Mutter getrennte Person sind. Das »vorzeitige Gewahrsein der Zweiheit« und die »Ekstase des Einsseins« können dann zu ungewöhnlichen Verhaltensweisen führen. Das Kind lenkt zum Beispiel seine ganze Aufmerksamkeit auf seine Sinne und liebt die »Autosensualität«. Schaukeln, Kopfanschlagen und zwanghafte Wiederholungen können die Folge sein.

Kein Spiel, kein Traum, kein Symbol
Viele autistische Kinder können nicht spielen (Tustin 1988). Anstatt Objekte zur Kommunikation bzw. zum Spiel zwischen sich und dem anderen zu nutzen, benutzen sie die Objekte, um ihre Haut zu reizen und sich damit selbst zu spüren. Viele autistische Kinder können aber auch nicht träumen, weil ihnen die projektive Identifizierung als Kommunikationsmittel (Bion 1962) nicht zur Verfügung steht.

Die Psyche ist so unentwickelt, dass sie nicht dazu fähig ist, Symbole zu bilden oder zu verstehen (M. Klein 1930). Das, was in der Psyche des Patienten geschieht, bleibt ihm verborgen. Auch der Analytiker kann das Versteckte nicht fassen und so muss der Analytiker sich »sich dessen, was fehlt, gewahr sein« und »dieses Gewahrsein ertragen«. Das Fehlende kann zur »Nahrung des gemeinsamen Nachdenkens werden«, so Judith Mitrani.

Lieber ein »Ding« besitzen als eine Beziehung haben
Der Analytiker findet Hinweise auf psychisch Verborgenes, indem er die Übertragung und Gegenübertragung »minutiös« beobachtet. Patienten im autistischen Zustand nehmen ihren Analytiker nicht als lebendiges Wesen wahr, sondern als »lebloses Ding«. Dieses »Ding« haben die Patienten selbst in der Hand – sie können es ausbeuten, konstruieren, manipulieren oder meiden, so Judith Mitrani. Für Patienten im autistischen Zustand ist es unerträglich zu merken, dass sie anders sind als der Analytiker. Daher »macht« der Patient es so, dass er sich selbst und den Analytiker ganz ungenau (undifferenziert) wahrnimmt.
Es gibt zwar keine Beziehung zum Analytiker, aber der Patient konzentriert sich auf die Oberfläche der Haut, auf die Eindrücke über die Augen, die Ohren und die Schleimhäute. Auch bei Kindern kann man das beobachten: Das Schnüffeltuch, das immer wieder entlang der Nase gerieben wird, gibt ihnen das Gefühl von Sicherheit und »Undurchdringlichkeit«. Das Empfinden über die Haut wirkt beruhigend oder auch betäubend.

Die autistischen Patienten haben als Gegenüber also noch nicht einmal ein »Objekt«, also einen Menschen, den sie als »Ding« ansehen. Daher können sie noch nicht einmal die frühen Abwehrformen einsetzen, wie Melanie Klein (1946) sie beschrieben hat. Sie sind darauf angewiesen, ihre Haut und ihre anderen Sinne zu benutzen. die Ängste werden »im autistischen Zustand mithilfe auto-sensueller oder adhäsiver Maßnahmen« (Bick 1968) gemieden (S. 139).

Angst, zu verschwinden
Viele autistische Patienten haben Angst, nicht vorhanden zu sein, niemand und nirgendwo zu sein – diese Ängste haben bereits Tustin und Winnicott (1949) beschrieben (S. 139). Unter anderem deshalb stimulieren die autistischen Patienten ständig ihre Sinne. Sie haben jedoch kaum Erfahrung mit menschlicher Beziehung. Häufig beschreiben sich autistische Patienten als »flüssig«. Eine Patientin der Autorin Judith Mitrani fühlte sich wie ein »Wasserfall«, wenn die Aufmerksamkeit ihrer Analytikerin in den Ferienzeiten weg war. Um nicht die Kontrolle zu verlieren, »erstarren« die autistischen Patienten. Die Patienten fühlen sich manchmal in ihrer ganzen Existenz als »flüssig« – die Persönlichkeit und der Körper sind »noch nicht hinreichend voneinander differenziert und gefestigt« (Tustin 1986).

»Tatsächlich gehen Flüssigkeiten durch Erstarrung in einen festen Zustand über« (Mitrani, S. 141). Auch andere Menschen werden durch die »Eisschranke« ferngehalten. »In der Analyse versuchen wir – häufig erfolgreich –, in die schützende Kapsel unserer Patienten einzudringen und setzen dabei explosive, gewalterfüllte Gefühle, überwältigende Panik, unaussprechliche Verzückung und untröstliche Trauer frei« (Mitrani, S. 143). Autistischen Patienten fällt es im sicheren Rahmen der Psychoanalyse oft leichter, ein »zuhörendes als auch sprechendes Objekt wahrzunehmen« als anderswo (Mitrani S. 143).

Der Körper im Mittelpunkt
Die autistischen Patienten »spüren« eher als dass sie sich etwas vorstellen können (Tustin 1986). So kommt es auch, dass die Patienten Phantasien oder Träume eher am Körper wahrnehmen als sie sich im Geist vorzustellen. Sie empfinden ihre »Phantasien oder Träume als taktile Halluzinationen«.

Die Patienten sind außerdem sehr empfindlich, wenn es zu äußeren Veränderungen kommt. Eine Patientin von Judith Mitrani nahm zum Beispiel »jede Veränderung in meinem Bücherregal körperlich wahr« (S. 145). Wenn sich die Stellung der Bücher im Regal veränderte, war es, als würde sich die Position der Therapeutin verändern. Das erinnerte die Patientin unbewusst an die unberechenbaren Veränderungen ihrer manisch-depressiven Mutter. Die Patientin fühlte sich so, als hätte sie eine »Monstermutter« gehabt, die sie nicht »zusammenhalten« konnte, als die Patientin ein Baby war (S. 146). Andere Patienten wiederum reagieren irritiert, wenn sich Lichtverhältnisse ändern. Eine Patientin von Judith Mitrani erlebte eine Lichtveränderung als »Vorbote« einer »Stimmungsveränderung« der Analytikerin ihr gegenüber (S. 146).

Autistische Kinder lieben geometrische Formen
Im Kapitel »Formen auf der Schwelle« beschreibt die Analytikerin Maria Rhode, wie Kinder aus dem Autismus auftauchen (S. 81). Die Autorin zeigt deutlich, wie Körperliches und Psychisches bei den autistischen Patienten zunächst zusammenhängen. Ein Kind war zum Beispiel nicht fähig, zwischen »emotionaler Offenheit« und »physischer Offenheit« zu unterscheiden (S. 88). Beispielsweise öffnete ein autistisches Kind die Tür, um zu zeigen, dass eine Kommunikation stattgefunden hat. Auch die Vorstellung, im anderen einen Platz zu haben, nehmen die Patienten manchmal wörtlich. Sie können kaum denken: »Die Therapeutin denkt an mich« – stattdessen stellen sie sich vor, sie wären im Körper eines anderen. Ein Teil der Psyche eines anderen zu sein ist für die Patienten wie ein Teil des Körpers eines anderen zu sein. Oft spielen dabei geometrische Formen eine wichtige Rolle. Maria Rhode (2010) hat zum Beispiel »in ihrer Arbeit mit autistischen Kindern die Erfahrung gemacht, dass Dreiecksformen auftauchen, wenn die Kinder dabei sind, wichtige Entwicklungsschritte zu machen« (S. 70).

Wie die psychoanalytische Therapie bei Autismus helfen kann
In der psychoanalytischen Therapie mit autistischen Patienten versuchen die Analytiker, »immer wieder etwas in Worte zu fassen und damit auch zu riskieren, einen Schrecken auszulösen«, schreibt Angelika Staehle im Kapitel »Ich bin du und du bist ich« (S. 70). Sie macht Hoffnung: »… denn bei jedem Kind, auch einem Kind mit schwerwiegenden autistischen Zügen muss man daran festhalten, dass es einen nicht autistischen Teil gibt, wie entwicklungsverzögert er auch sein mag.« (S. 70)

»In den Sitzungen mit einem solchen Kind geht es nicht darum, Unbewusstes bewusst und der Einsicht zugänglich zu machen, sondern das Erleben des Patienten aufzunehmen und zu versuchen, ihm einen zunächst rudimentären Sinn zu geben. Es geht hier um Halten im Winnicott’schen Sinne und um Bion’sches Containment, das heißt die bislang nicht mit Sinn versehenen Beta-Elemente oder rudimentären Erfahrungsbrocken sukzessive in einen Gefühls- und Sinnzusammenhang zu bringen (vgl. Staehle 1999, 2006, 2007).« Angelika Staehle, S. 70.

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