Rezension zu »Er war halt genialer als die anderen«
Zeitschrift für Sozialpädagogik 2013 H2
Rezension von Burkhard Müller
Dudek, Peter: »Er war halt genialer als die anderen.«
Christian Niemeyer hat einst Siegfried Bernfeld als den
»entdecktesten« aller pädagogischen Klassiker bezeichnet; zu
verstehen wohl als ironischen Kommentar auf den Umstand, dass
Bernfeld bis zu seiner Wiederentdeckung im Zug der
Studentenbewegung zwar ohne Zweifel ein weithin vergessener
Außenseiter war, seit dem aber gerade als ein solcher
Außenseiter viel zitiert und als vielseitig verwendbare Quelle
einer (selbst?)-kritischen Erziehungswissenschaft Karriere gemacht
hat. Die Werkbiographie Bernfelds von Peter Dudek, des wohl besten
Kenners dieser Materie, fängt dementsprechend mit der
rezeptionsgeschichtlichen Frage an: »Vom Außenseiter zum
Klassiker?«
Dudek zeigt gleich zu Anfang, dass sich die Frage nicht mit ja oder
nein beantworten lässt. Er führt die verschiedenen bekannten
Rezeptionslinien vor – Bernfeld als Pionier der Jugendforschung,
als »sozialistischer« oder auch »antiautoritärer« Pädagoge, als
radikaler Kritiker der Pädagogik, als Vertreter einer methodisch
strengen Wissenschaft ebenso, wie als praktizierender
Psychoanalytiker und psychoanalytischer Pädagoge, der zugleich die
naturwissenschaftlichen Ansprüche Freuds keineswegs für ein
»szientifisches Selbstmissverständnis« (Haberrnas) hielt – all das
scheint irgendwie nicht zusammen zu passen. Entweder ist Bernfeld
zwar anregend, aber doch inkohärent in seinem Werk – so sehen ihn
offenbar noch viele in der Pädagogenzunft –, oder er ist ein so
origineller und »genialer« Querdenker, dass er in kein
disziplinäres Paradigma passt; in beiden Fällen ist er als
Klassiker kaum geeignet.
Duclek macht in dieser Lage das, was gute Historiker eben machen:
Er verortet Bernfeld und sein Werk in ihrem »Sitz im Leben«, ihrem
historischen und geistigen Kontext. Was dabei herauskommt, ist
allerdings weit mehr als das, was er selbst, allzu bescheiden, für
sein Werk beansprucht: »meine Annäherungen an einen Intellektuellen
des frühen 20. Jahrhunderts vor(zu)legen, der disziplinär kaum zu
verorten ist (... ) Querdenker, der stets zwischen allen Stühlen
saß« (S.9). Dudek hat auf seinen über 600 Seiten m.E. die von ihm
selbst als unmögliche »Herkulesaufgabe« (ebd.) bezeichnete Leistung
tatsächlich weitgehend eingelöst. Er hat nicht nur eine detailreich
recherchierte und gut geschriebene Biographie dieses
Intellektuellen vorgelegt und nicht nur den roten Faden, wie die
Verästelungen, von dessen Lebenswerk darin eingebettet und auch
inhaltlich dargestellt. Er hat vielmehr darüber hinaus die
Denkweisen und zeitgeschichtlichen Rollen seiner Lehrer, seiner
Weggefährten und Weggefährtinnen, wie auch die seiner Gegner und
Gegenständen seiner Kontroversen so materialreich mit umfassender
Literatur- und Quellenkenntnis unterfüttert dargestellt, dass aus
dem Buch zugleich ein geistesgeschichtlicher Blick auf das frühe
20. Jahrhundert von hohem Rang geworden ist. Die zahlreichen
Arbeiten, die Dudek zu Bernfeld und seiner Zeit bereits vorgelegt
hat, werden darin aufgegriffen aber auch vielfältig erweitert und
vertieft.
Die Methode der Darstellung ist ebenso einfach, wie nur mit großer
Meisterschaft zu realisieren: Dudek lässt einerseits Bernfeld
selbst in seinen Schriften, Briefen wie anderen Dokumenten
ausführlich zu Wort kommen. Zugleich aber zeigt er ihn im Spiegel
von Dokumenten jener unterschiedlichen Zeitgenossen und damit
zugleich als einen ebenso dialogischen wie streitbaren Denker.
Nicht nur die Freunde und Kampfgefährten Bernfelds bekommen dadurch
ihr eigenes Profil. Auch die bekannten Gründergestalten seiner
thematischen Bezugsfelder (in der Jugendforschung z.B. Hans und
Charlotte Bühler, Stanley Hall und William Stern, als Protagonist
seiner Gegner auch Eduard Spranger, oder aus der Psychoanalyse und
Psychoanalytischen Pädagogik vor und mit vielen anderen Sigmund und
Anna Freud) werden über ihre Bezüge zu Bernfeld in neuen Facetten
sichtbar. Gerade durch diese historische Kontextualisierung bekommt
die langzeitige Aktualität seiner Ansätze erst richtig Profil: z.B.
für die Jugendforschung, für das Programm einer
sozialwissenschaftlich fundierten Erziehungswissenschaft, für eine
transdisziplinäre Verschränkung des sozialwissenschaftlichen,
historischen und psychoanalytischen Blicks auf
Entwicklungsprozesse, wie auch für die Theorie pädagogischer
Institutionen. Denn einen in der Tat in vielen Bereichen seiner
Zeit vorausdenkenden Autor wie Bernfeld kann man nicht verstehen,
wenn man ihn sich als Denker im einsamen Kämmerlein vorstellt,
sondern nur, wenn man ihn als zeitgebundenen Streiter mitsamt
seinen ebenso zeitbedingten Suchbewegungen und Irrtümern zu sehen
bekommt.
Dudek entfaltet seine Darstellung in sechs großen Teilen. Das erste
(Kap. 3) handelt von Bernfelds Familie, seiner Jugend, den Anfängen
seiner wissenschaftlichen Laufbahn, seinen persönlichen Netzwerken.
Werkbiographisch geht es darin vor allem um seiner Doppelrolle als
Protagonist und zugleich Erforscher wie theoretischer Kommentator
der von Wyneken inspirierten Jugendkulturbewegung. Bernfelds
Arbeitsweise erscheint darin als exemplarisch für eine réflexion
engagée, die ihren Gegenstand mit Leidenschaft selbst herstellt und
doch kritisch reflektiert. Dudek zeigt allerdings, wie sehr jene
vor allem von jüdischer Intelligenz getragene Jugendkulturbewegung,
welche der junge Bernfeld in eine übersteigerte, wo nicht
welthistorische Bedeutung empor zu reden suchte (vergleichbar den
Akteuren der selbsternannten revolutionären Parteien der 70er
Jahre), faktisch, selbst innerhalb der Jugendbewegung, eine
Randerscheinung mit wenig Einfluss blieb.
Im zweiten Teil (Kap 4) wird die, abgesehen vom »Kinderheim
Baumgarten« weniger bekannte, Phase von Bernfelds Lebenswerk (ca.
1918–23) vorgestellt, in der er als Vorkämpfer zionistischer Ideen
auftrat, die er – auch hier in der politischen Wirkung auf die
zionistische Bewegung kaum erfolgreich – mit seiner
jugendkulturellen Programmatik zu verschmelzen suchte. Die frühe
Kibbuzpädagogik allerdings verdankt seinen Anregungen viel.
Gleichzeitig fällt in diese Phase aber auch Bernfelds Etablierung
als Mitglied der Wiener psychoanalytischen Vereinigung und als
anerkannter Dozent im frühen analytischen Ausbildungsbetrieb:
Interessant an diesem Kapitel ist, dass Dudek zeigt, wie sehr
beides durch die Erfahrung des Zusammenbruchs der »Welt von
Gestern« (Stefan Zweig) am Ende des ersten Weltkriegs bedingt ist.
Offensive Wendung und Polemik gegen eine vor wachsendem
Antisemitismus sich duckende jüdische Assimilation einerseits, und
Hinwendung zu einer dem Anschein nach politisch neutralen
analytischen Professionalität andererseits, werden so als zwar
gegensätzliche aber doch zusammengehörige Pole bernfeld’schen
Denkens besser verständlich.
Der dritte Teil (Kap. 5) ist »Siegfried Bernfeld und die Frauen«
überschrieben. Er verlässt das biographische Zeitschema und stellt
Bernfeld als Sohn, Bruder, Freund, Ehemann, Vater und Liebhaber
über seine ganz Lebensspanne dar. Dies führt zwar
darstellungstechnisch zu einigen Doppelungen in den
Schlusskapiteln, die den chronologischen Ablauf wieder aufnehmen.
Es ermöglicht aber einen besonderen Zug in Bernfelds Werk klarer
herauszuarbeiten. Nämlich ihn nicht nur als Liebling der Frauen und
»womanizer«, der er sicher auch war, vorzustellen, sondern seine
Auseinandersetzung mit der Frauenbewegung, wie seine geistige
Partnerschaft und Kooperation mit starken und autonomen Frauen,
allen voran seinen drei sukzessiven Ehefrauen, als wesentlich für
sein Wirken und Denken zu zeigen.
Der vierte hier nur kurz zu erwähnende Teil (Kap.6) ist ein Exkurs
zu Bernfelds bekanntestem Buch, dem Sisyphos, vor allem zur
Rezeptionsgeschichte. So interessant insbesondere die Dokumentation
der zeitgenössischen Reaktionen auch ist, bleibt das Kapitel doch
ein Fremdkörper. Es betont, gängiger Rezeption entsprechend, die
Sonderstellung dieses Buches im Bernfeld’schen Gesamtwerk, statt es
darin einzubetten. Dudek zeigt z.B. nicht, wie Bernfeld wesentliche
Gedanken des Sisyphos, etwa der, dass das Erziehungswesen eher
durch seine Institutionalisierungsformen als durch seine Inhalte
wirke, schon in früheren Schriften wie »Das jüdische Volk und seine
Jugend« (1921) formuliert hat.
Der fünfte und mit fast 150 Seiten ausführlichste Teil (Kap. 7) ist
Bernfelds Berliner Jahren (1925–1932 gewidmet. Er zeigt ihn auf der
Höhe seiner Schaffenskraft und zugleich mehr denn je als Mann
»zwischen allen Stühlen«: Bernfeld als Autor bahnbrechender
Aufsätze zur Theorie der gesellschaftlichen Bedingtheit
adoleszenter Entwicklung und zur Theorie sozialpädagogischer
Institutionen; Bernfeld als glänzender und unermüdlicher Redner für
die sozialdemokratische Schulreformbewegung der späten Weimarer
Republik; Bernfeld als maßgebliche wenn auch umstrittene Figur in
dem neben Wien führenden Berliner psychoanalytischen Institut;
Bernfeld als der vorn Wiener Kreis um Moritz Schlick inspirierte
Vordenker einer Integration der Psychoanalyse in ein experimentell
verfahrendes Wissenschaftsverständnis (woran er scheiterte und
dabei doch hochaktuelle Fragestellungen vorwegnahm). Zugleich aber
zeigt er einen Bernfeld, der vergeblich um eine gesicherte
Grundlage für seinen Lebensunterhalt kämpft, der tief in familiären
Turbulenzen steckt, der antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt
ist. Seine Rückkehr nach Wien kurz vor der Machübernahme der Nazis,
die diese Lebensphase abschließt, wird so biographisch
verständlich.
Der letzte Teil des Buches (Kap. 8) ist den späten Jahren Bernfelds
im Exil gewidmet, zuerst in Südfrankreich (Menton) und dann über
London und New York nach San Francisco, wo er 1953 starb. Das
Kapitel beginnt mit einer politischen Skizze der Wirkungen von
Austrofaschismus und wachsendem, im »Anschluss« von 1938
kulminierenden, Nationalsozialismus für die psychoanalytische
Gemeinde Wiens. Auch die Darstellung des Exilschicksals von
Bernfeld und seiner Familie werden in den Kontext der fast
kompletten Vertreibung der Psychoanalyse aus Wien und ihrer
Neuetablierung im englischen und amerikanischen Kontext gestellt.
Bernfeld hat darin insofern exemplarische Bedeutung, als er
streitbarer Vertreter einer nicht medizinalisierten »Laien«analyse
ist, die an Freud selbst eine starke Stütze hatte, in Amerika aber
kaum mehr Chancen hatte. Im Lebenswerk Bernfelds ist seine
Exilszeit vor allem durch die biographischen Freud-Studien
Bernfelds und seiner Frau Suzanne Bernfeld-Cassierer bedeutsam, die
(in Teilen) von Ilse Grubrich-Simitis herausgegeben wurden. Diese
warf dem »offiziellen« Freud-Biographen Ernest Jones vor,
wesentliche Teile daraus ohne Quellenangabe übernommen zu haben.
Dudek entkräftet diesen Vorwurf zwar nicht ganz, stellt aber doch
mehr die freundschaftliche Kooperation heraus, die es auch gab.
Das Buch ist trotz seiner Detailfülle sehr spannend zu lesen. Es
wird hoffentlich zu einer neuen »Wiederentdeckung« Bernfelds für
die Sozialpädagogische Ausbildung beitragen. Denn auch wenn es kein
Lehrbuch im klassischen Sinn ist, können viele Passagen nicht nur
anschaulichen Kommentare zu Bernfelds Schriften geben, sondern auch
seine Beiträge zu sozialpädagogischen Grundfragen besser zu
verstehen. Zum Schluss ist auch die Ausstattung des Buches durch
den Psychosozial-Verlag zu erwähnen, mit vielen Bildern zur
Lebensgeschichte für die Studierenden und einem ausführlichen
Register samt einer vollständigen Liste der veröffentlichten
Schriften Bernfelds wie der Fundorte seines unveröffentlichten
Nachlasses für die wissenschaftliche Weiterarbeit. Der höchst
verdienstvollen Buchreihe »Bibliothek der Psychoanalyse«, die sich,
neben andern vergriffenen Klassikern der Psychoanalyse, auch der
vom Beltz-Verlag abgebrochenen Gesamtausgabe Bernfelds angenommen
hat, wird mit dieser Biographie ein neuer Glanzpunkt
hinzugefügt.
Bedauerlich ist eigentlich nur der etwas missglückte Titel »Er war
halt genialer als die andern«, für den sicher auch der Verlag
verantwortlich zeichnet. Er entspricht mit seinem burschikosen Ton
kaum der Substanz des vorgelegten Werks. Sollte dadurch die
verdiente breite Rezeption in der Fachwelt nicht behindert werden,
so würde mich das freuen.
Burkhard Müller