Rezension zu Der kleine Vogel heißt Goral
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Rezension von Roland Kaufhold
Eine jüdische Familiengeschichte
Ruth Korens Leben ist von Verlusten, von Brüchen aber auch von
verborgenen Kontinuitäten geprägt: Sie wurde 1948 als Kind eines
jüdischen Shoah-Überlebenden in Berlin geboren. Ein großer Teil
ihrer Familie wurde ermordet, einige waren rechtzeitig ins damalige
Palästina emigriert. Ihre Eltern hingegen hatte es nach Leipzig
verschlagen. Dort konnte sie nicht lange bleiben, der
Antisemitismus in der DDR zwang sie nach fünf Jahren zu einer
erneuten Flucht, diesmal nach Frankfurt am Main …
Ruth Koren wuchs dort unter schwierigen Bedingungen auf – und
21-jährig erfüllte sie das familiäre Erbe: Sie wanderte 1969, ohne
ihre Eltern aber mit deren inneren Einverständnis, nach Israel
aus.
In Israel lebt die dreifache Mutter nun seit 41 Jahren, arbeitete
in einer Boutique, in der Diamantenbörse – und entdeckte im Alter
das Schreiben. Sie machte sich, auch mit Unterstützung von
Archiven, auf die schwierige Suche nach ihrer Familiengeschichte.
Die Spurensuche hat sich gelohnt: Es ist ein gut geschriebenes,
aufrichtiges historisch-biographisches Dokument entstanden, dessen
Lektüre lohnt.
Im einführenden Kapitel »Vorgeschichte« rekonstruiert Koren die
Geschichte ihrer in Leipzig aufgewachsenen jüdischen Großeltern.
Ihr Vater wuchs mit zehn Geschwistern auf – »Die Hälfte der zehn
Geschwister meines Vaters und deren Familien wurden in
verschiedenen Lagern ermordet. Ich kenne sie nur aus Erzählungen
meiner Tanten und Onkel« (S. 11) – und aus den Erzählungen ihrer
Großmutter Emma Rachel, die sie erstmals 15-jährig während ihres
ersten, prägenden Israelaufenthaltes kennen lernte. Die Geschichten
ihrer Großmutter prägten Ruth Korens familiären Forscherdrang.
Schrittweise erfährt die Autorin vom schweren Schicksal ihres
Vaters, der im Frühjahr 1945, er war 24 Jahre alt, schwerst
geschädigt von der Roten Armee aus dem Lager Stutthof befreit
wurde. Seine beiden Beine mussten nach seiner Befreiung amputiert
werden – und diese russischen Soldaten verliebten sich so sehr in
das tragische Schicksal ihres Vaters, dass sie sich bedingungslos
für seine Gesundung engagierten.
Auf zahlreichen Fotos begegnen wir ihren Familienangehörigen. Diese
nahmen die faschistische Gefahr des Nationalsozialismus zwar wahr,
verleugneten deren Dramatik jedoch teilweise – aus allzu
verständlichen Gründen(!): »Immer wieder endeten die Gespräche mit
dem Satz: ›Mal sehen und abwarten.‹ Wir wollten die Gefahr nicht
wahrhaben.« (S. 37) Detailliert, vor allem mittels Auszügen aus
Briefen und zahlreichen Fotos, wird das Schicksal mehrerer
Familienangehöriger nacherzählt, insbesondere der verzweifelte
Kampf ihrer mittellosen Großmutter, vom Kibbuz Sade Nahum aus,
ihren Kindern mittels der Jugend-Alijah sowie des Palästina-Amtes
Berlin der Jewish Agency eine Emigration zu ermöglichen – ein
Versuch, der in der Mehrzahl scheiterte. Ihrem Gedenken ist das
Kapitel »Meine umgekommenen Verwandten« gewidmet.
In den beiden umfangreichsten, persönlichen Kapiteln des Buches
erzählt die Autorin über das Leben ihrer Eltern (S. 85 –151), über
welches sie als Kind nur wenig erfahren hatte. Ruth Koren hebt
hervor: »Je intensiver ich mich mit den Wurzeln meiner Familie
beschäftige, desto besser verstehe ich die Bedeutung unseres
jüdischen Staates und meine Bindung an Israel.« (S. 85) Ihr 1921 in
Leipzig geborener Vater fand als Kind seelische Zuflucht in den
religiösen Zeremonien. Früh prägt ihn die rassistische Verfolgung,
christliche Klassenkameraden wenden sich von ihm ab: »›Leo, wir
können keine Freunde mehr sein wie früher, ich kann dich nicht
beschützen, sonst stellt sich die ganze Klasse gegen mich. Ich
wollte dir nur sagen, dass es mir leid tut.‹ Er drehte sich um und
rannte weg. Ich setzte mich auf die Treppe und weinte.« (S. 93)
Sein Untertauchen in der Illegalität wird verraten, er kommt in ein
Ghetto, im Januar 1945 stoßen ihn deutsche Aufseher vor einen
herannahenden Zug – er überlebt, seine Beine müssen amputiert
werden.
Die Familie ihrer Mutter lernt Ruth Koren hingegen nie kennen. In
den familiären Überlieferungen wird ihre Mutter ihr als »einer der
gütigsten und bescheidensten Menschen« beschrieben (S. 114). Sie
überlebt als Christin den Krieg, lernt den schwerverwundeten Mann
kennen, den sie pflegt und in den sie sich verliebt. Eine
Übersiedlung nach Israel wird zwar erwogen, auch wegen der
gesundheitlichen Probleme ihres Vaters jedoch wieder verworfen. Die
Autorin erinnert sich an einige Episoden aus ihrer Kindheit in
Leipzig, wie auch an die Zeit in Leipzig, ab 1954, als eines der
wenigen jüdischen Kinder in der Nachkriegsperiode.
Seit ihrem ersten Besuch in Israel identifizierte sie sich mit dem
jungen jüdischen Staat. 21-jährig zieht sie dorthin, wohnt bei
Verwandten. Ihr schwer kranker Vater begleitet sie, und stirbt kurz
nach ihrer Ankunft. Nun erzählt ihr ihre Großmutter vom Vogel Goral
(Schicksal), der jeden Menschen sein Leben lang begleite.
Israel wird ihre Heimat, mit der die Autorin tief verbunden ist.
Sie erzählt einige Szenen aus ihrem heutigen Leben, die Sehnsucht
nach Frieden mit den arabischen Nachbarn bleibt in ihr lebendig –
trotz aller Rückschläge. Erst beim Schreiben ihrer
Familiengeschichte kehrt sie erstmals wieder nach Leipzig
zurück.
Ruth Koren: Der kleine Vogel heißt Goral. Eine jüdische
Familiengeschichte
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