Rezension zu »Meine Identität ist die Zerrissenheit«
Anders. Zeitschrift für Psychologische Morphologie 14/2013
Rezension von Yizhak Ahren
Auswirkungen einer Stigmatisierung
Brigitte Gensch und Sonja Grabowsky (Hrsg.): Der halbe Stern
Sonja Grabowsky: »Meine Identität ist die Zerrissenheit«
Als die nationalsozialistische Rassenideologie während des Dritten
Reiches in die Praxis umgesetzt wurde, hat man nicht wenige
Menschen, die sich zum Christentum bekannten, trotzdem als Juden
verfolgt. Die Geschichte dieser Personen jüdischer und
teiljüdischer Herkunft – die Nazis sprachen von »Halbjuden« – war
vor einigen Jahren Gegenstand einer Konferenz. Dieser Tagung in
Berlin verdanken wir das Erscheinen einer informativen Publikation,
der eine Video-Dokumentation eines Zeitzeugengesprächs beigefügt
ist.
Den Herausgeberinnen des Bandes, der evangelischen Theologin B.
Gensch und der Erziehungswissenschaftlerin S. Grabowsky ist es
gelungen, in der Einleitung jeden der 18 Beiträge in wenigen Zeilen
zusammenzufassen. Natürlich können solche Zusammenfassungen die
Lektüre der einzelnen Texte nicht ersetzen; aber sie können uns
eine Hilfe bei der Wahl leisten, welche Texte wir studieren
möchten. Denn wer liest schon einen Tagungsband von der ersten bis
zur letzten Seite?
Jetzt hat Grabowsky ihre Doktorarbeit, mit der sie 2011 an der
Bergischen Universität Wuppertal promovierte, in geringfügig
überarbeiteter Form veröffentlicht. Die Autorin untersucht die
Auswirkungen der nationalsozialistischen Zuschreibung »halbjüdisch«
auf die betroffenen Personen. Insgesamt hat Grabowsky 16 Frauen und
Männer interviewt; 6 Fälle werden ausführlich vorgestellt.
Interessant und lehrreich sind nicht nur die Analysen der 6
Lebensläufe, sondern auch 8 historische Exkurse (z.B.: »Mischlinge«
als Wehrmachtsangehörige, »Mischlinge« im Konzentrationslager).
Was ist das Ergebnis der Studie? Die Verfasserin gelangt zu dem
Schluss, dass die Stigmatisierung durch die Zuordnung zur Gruppe
der »Mischlinge« bei den Betroffenen eine innere Zerrissenheit
bewirkte. Manche Leser werden sicher überrascht sein, wenn sie
erfahren, welche Nachwirkungen die »alten Geschichten« oft hatten.
Die Zwiegespaltenheit ihrer Interviewpartner betrachtet die Autorin
als folgerichtige Reaktion auf ambivalenzerzeugende Strukturen. Bei
einem Vergleich ihrer Fälle stellte Grabowsky fest, dass man sie in
zwei Gruppen einteilen kann, deren Ambivalenzausprägungen
unterschiedlich sind.
Das umfangreiche Literaturverzeichnis enthält viele interessante
Titel, die eine weitere Vertiefung in die behandelte Materie
ermöglichen. Kritisch anzumerken ist, dass Goethe irrtümlicherweise
nach Grabowsky aufgelistet wird.