Rezension zu Freuds Lektüren (PDF-E-Book)
Deutsches Ärzteblatt August/2006
Rezension von Christian Maier
Ringen mit dem Titan
Die Fülle der in diesen Wochen auf den Markt
geworfenen Bücher, Neuerscheinungen und Wiederauflagen zu Sigmund
Freud macht es auch dem psychotherapeutisch geschulten Leser nicht
leicht zu erraten, was ihn unter dem Etikett »Freud-Literatur«
erwartet. Es ist also schon im Vorfeld der Lektüre einiges an
Entschlüsselungsarbeit zu leisten, und das gilt auch für Michael
Rohrwassers Buch »Freuds Lektüren«, das sich der
Entschlüsselungsarbeit Freuds, und zwar vorrangig die Literatur
betreffend, widmet.
Der Literaturwissenschaftler und Kritiker unternimmt den durchaus
anspruchsvollen Versuch, Freuds Entzifferungsbemühungen an der
Literatur einer kritischen Prüfung zu unterziehen. »Freuds
Lektüren« handelt also nicht von den literarischen Vorlieben des
Lesers Freud. sondern es geht um »die öffentlichen Lektüren. seine
Interpretationen und Kommentare zur Literatur«. Das Buch ist in
fünf Kapitel aufgeteilt. deren Überschriften Programm sind und
meist mit »Freud liest ...« beginnen.
Ausnahmen sind das letzte Kapitel (»Canetti liest Freud«), das
Canettis Kommentare zu Freud kommentiert, und das erste Kapitel
(»Freud und Sherlock Holmes«), das anhand von Freuds Aufsatz »Das
Unheimliche« und der darin wiedergegebenen Lektüre Freuds von E. T.
A Hoffmanns »Der Sandmann« die argumentative Richtung vorlegt und
in der Rohrwasser Entzifferungen des Entzifferers Freud versucht.
Dadurch kommt der spannende Nebeneffekt zustande, dass der Leser
zum Beobachter des Beobachters des Beobachters wird. Damit wird
auch offensichtlich, dass sich dieses Buch nicht an den praktisch
tätigen Psychotherapeuten wendet, sondern an wissenschaftlich
interessierte und lehrende Kollegen.
Rohrwasser bringt überzeugend zur Darstellung, dass Freuds
Erzählstil, wenn er auf eigene Zweifel und Bedenken verweist,
Glaubwürdigkeit suggeriert, dass aber eine solche Vorgehensweise
über literarische Strategien, wie »Spannungserzeugung durch
Vorenthaltung von Information und detektivische Verrätselung«,
autoritäre Denkfiguren widerspiegele. Kurzum, hinter Freuds
vermeintlicher Unsicherheit und Offenheit verberge sich bereits
eine Überzeugung, die ihn zwangsläufig zu bereits vorbestehenden
Überzeugungen führe. Auf Freuds Aufsatz »Das Unheimliche« trifft
diese Aussage zu und gilt wohl auch für manch andere
Interpretationen Freuds, die der auf Kunst und Literatur anwendet.
Aber ist das wirklich neu? Freud hat das selbst eingeräumt,
beispielsweise in seinem Aufsatz über eine »Teufelsneurose im
siebzehnten Jahrhundert«: »Es ist auch gar nicht meine Absicht,
diesen Fall als Beweismittel für die Gültigkeit der Psychoanalyse
zu verwerten; ich setze vielmehr die Psychoanalyse voraus und
verwende sie dazu, um die dämonologische Erkrankung des Malers
aufzuklären.«
Mit diesem autoritären Freud, einem geistigen Titanen, ringt
Rohrwasser – dabei Elias Canetti nicht unähnlich, dessen
»heimlichen Dialog mit Freud« er im letzten Kapitel zu Wort kommen
lässt – kenntnisreich und in lauterer wissenschaftlicher Absicht.
»Freuds Lektüren« werden am überzeugendsten, wenn der Autor Themen
touchiert, die in Bereiche führen (Realtrauma; Psychologie der
Macht), in denen die Psychoanalyse auch heute noch offenkundige
Lücken aufweist.