Rezension zu In Anerkennung der Differenz
Freie Assoziation 1/2013
Rezension von Dr. Marga Löwer-Hirsch
Frauen beraten Frauen (Hg.): In Anerkennung der Differenz.
Gießen: Psychosozial-Verlag 2010, € 26,90
Das Buch stellt eine wichtige und facettenreiche Bestandsaufnahme
feministischer Beratung und Therapie dar; ein solches Buch war
längst überfällig. Allerdings muss sich die Leserin und der Leser
die Mühe machen, ein Mosaik unterschiedlicher Themen und
Sichtweisen für sich zusammenzusetzen. Hat frau sich erst einmal
darauf eingelassen, so werden die verschiedenen Ansätze der
Herausgeberinnen und Autorinnen deutlich, und auch, welche
Anstrengungen es gekostet haben mag, dieses Buch Gestalt gewinnen
zu lassen, denn die feministische Beratung oder Therapie gibt es
nicht. Die gemeinsame Klammer ist eine Gesellschafts- und
Kulturkritik aus feministischer Sicht, aber über die Art und Weise,
wie diese in der konkreten Arbeit von Frau zu Frau angewendet
werden kann, ohne den Klientinnen etwas überzustülpen, können die
Meinungen auseinandergehen. Die Herausgeberinnen haben sich zur
Aufgabe gestellt, Vergangenheit, Entwicklung und Gegenwart von
feministischer Beratung und Psychotherapie zu dokumentieren und
Zukunftsvisionen für sie zu entwerfen.
»Die Vision des Feminismus ist nicht eine ›weibliche Zukunft‹. Sie
ist eine menschliche Zukunft. Ohne Rollenzwänge, ohne Macht- und
Gewaltverhältnisse, ohne Männerbündelei und Weiblichkeitswahn.« So
lautet das Eingangszitat von Johanna Dohnal, das dem Buch
vorangestellt wurde. Das erscheint mir mutig, denn aus
organisationspsychologischer Sicht wird dabei das eigene
Sich-überflüssig-Machen in Kauf genommen, bei gleichzeitigem
Wissen, dass es eine starke Tendenz des Verharrens in einmal
etablierten Strukturen gibt (dies gilt für Frauenberatungsstellen
genauso wie für andere Organisationen). Ebenso lässt das Zitat, wie
ich meine, eine mögliche Zukunft der Überführung von feministischer
Beratung und Therapie in eine allgemeine gendersensible Beratung
und Therapie ahnen oder erhoffen, was gegenwärtig schon die Angst
vor Identitätsaufweichung, Positions- und Bedeutsamkeitsverlust in
Kauf nähme. Die Dimensionen von Gesellschafts- und Kulturkritik,
die im Buch als Grundpfeiler feministischer Beratung und Therapie
angeführt werden, sollten ja eigentlich Basis einer jeden
gendersensiblen Beratungs- und Therapiearbeit sein.
Das Buch gliedert sich in zwei Bereiche, den Bereich feministischer
Beratungsarbeit, vertreten durch unterschiedliche Autorinnen mit
Themen wie Gewalt gegen Frauen, Beratung bei Trennung und
Scheidung, Online-Beratung oder strategisch-vernetztem Denken, und
den Bereich feministisch orientierter Psychotherapie, wobei die
Beiträge dieser Autorinnen jeweils angelehnt sind an
unterschiedliche therapeutische Schulen. Hier werden z.B. Fragen
zur weiblichen Aggressivität oder die Herausforderung von
Paartherapie für die feministische Praxis diskutiert. Eingerahmt
wird das Buch durch ein Interview mit zwei Pionierinnen, Sabine
Scheffler und Christina Thürmer-Rohr, und je unterschiedlichen
Auswertungen einer Expertinnenrunde, zu der die Herausgeberinnen
geladen hatten. Einführend steht das Interview mit den
Pionierinnen, abschließend kommentieren die vier Herausgeberinnen
Traude Ebermann, Julia Fritz, Karin Macke und Bettina Zehetner das
Gespräch mit zehn ausgewählten Expertinnen aus dem Wiener Raum.
Eine besonders auf- und anregende Note erfährt das Buch außerdem
durch Beiträge der beiden Schriftstellerinnen Elfriede Gerstl und
Marlene Streeruwitz.
Es mag mit meinem fortgeschrittenen Alter zusammenhängen, dass für
mich das Interview mit den beiden Pionierinnen, »Vom Sand im
Getriebe zum polierten Stein«, zu einem der Highlights des Buches
gehört. Es rollen noch einmal die Jahre der Frauenbewegung im
deutschsprachigen Raum seit den 70er Jahren des vorigen
Jahrhunderts vor dem inneren Auge ab und der weite Weg, der seither
zurückgelegt wurde. Es wird deutlich, wie mutig damals innerhalb
der Frauenbewegung die These von Thürmer-Rohr war, dass, ich
zitiere aus dem Interview, »das Patriarchat nicht ein System ist,
das von Männern agiert und von Frauen erlitten wird, sondern das
von beiden Geschlechtern agiert wird, mit verschiedenen Mitteln und
Instrumenten« (S. 26).
Nachfühlen können wir auch aus der heutigen Distanz die heftigen
eigenen Bewegungen in der damaligen Zeit, über die Scheffler sagt,
dass »die Verbindung von gesellschaftlicher Analyse und eigenem
Leid […] in gewisser Weise auch eine wahnsinnige Überforderung« war
(S. 23). Folgerichtig fragt man sich am Ende des Interviews, wie
denn eine neue Form der Rebellion im mittlerweile längst
institutionalisierten Rahmen überhaupt wieder oder noch möglich
sei, und ob sie nicht ganz anders aussehen müsste als damals und ob
nun nicht die jungen Frauen gefragt seien. Sehr spannend finde ich
die Beobachtung von Traude Ebermann aus dem Expertinnengespräch
über Wiener Frauengeschichten, dass manche jüngere Kolleginnen sich
von vornherein mehr am Geschlechterverhältnis Frau/Mann orientieren
und Formen eines Miteinanders mit größerer Selbstverständlichkeit
thematisieren als die älteren Kolleginnen. So werden die jüngeren
Feministinnen, die an der Expertinnenrunde beteiligt waren, dem
Zitat von Johanna Dohnal, das dem Buch vorangestellte wurde,
vielleicht unkomplizierter gerecht?
Wohin die Reise gehen mag ist ungewiss, aber die Frau als Amazone
muss nicht brustlos gedacht werden, wie Ebermann in ihrem Artikel
»Was wir von den Amazonen lernen können« überzeugend darlegen
konnte. Vielleicht stehen wir vor einem Neubeginn feministischer
Auseinandersetzung mit Geschlechter- und Machtverhältnissen im
Marsch durch die etablierten Therapieverbände – oder hat diese
politische Auseinandersetzung mit der »Anerkennung der Differenz«
einen vorläufigen Schlusspunkt gefunden?
Der Titel des Buches »In Anerkennung der Differenz«, womit sowohl
die Differenz von Frau zu Frau als auch die von Frau zu Mann wie
auch jene innerhalb der Herausgeberinnen als Professionelle in der
Arbeit mit Frauen benannt wird, ist eine treffende Überschrift für
das Gesamtunterfangen. Meine Hochachtung gilt den Herausgeberinnen,
die den Spagat hinbekommen haben, die Differenz in den eigenen
Reihen auszuhalten und zuzulassen, exemplarisch für die ganze
Landschaft feministischer Beratung und Psychotherapie.
Dr. Marga Löwer-Hirsch