Rezension zu Sexualität und Partnerschaft bei Menschen mit geistiger Behinderung (PDF-E-Book)
Zeitschrift für Sexualforschung 1/2013
Rezension von Petra Winkler
Svenja Bender. Sexualität und Partnerschaft bei Menschen mit
geistiger Behinderung. Perspektiven der Psychoanalytischen
Pädagogik
Was wissen wir über die innerpsychischen Zustände von Menschen mit
geistiger Beeinträchtigung? Viel zu wenig!
Die Frage nach Sexualität und Beeinträchtigung
(Lernschwierigkeiten)(1) veranlasst zu Recht, über bisherige
Erkenntnisse hinaus intensiver zu forschen. Selber seit vielen
Jahren als Sexualberaterin tätig, stimme ich der Autorin Svenja
Bender zu, dass es sich immer noch um Pionierarbeit handelt. Wie
sie auf S. 84 verdeutlicht, unterliegen insbesondere
Therapieangebote einer deutlichen Begrenzung. Ausgebildete
Fachkräfte sind selten zu finden. Hier spiegelt sich die soziale
Ausgrenzung wider, eben auch bezogen auf Psychotherapie und
Sexualberatung.
Im vorliegenden Buch, der Dissertation von Svenja Bender, werden
u.a. folgende inhaltliche Schwerpunkte behandelt: Psychosexuelle
Entwicklung und deren spezifische Aspekte bei geistiger
Beeinträchtigung, psychische Entwicklung bei Menschen mit geistiger
Beeinträchtigung, gruppentherapeutische Arbeit bzw.
Erwachsenenbildung, Bedeutung von Partnerschaft und Sexualität,
Partnerschaftsanbahnung (z. B. Singlepartys) und Begleitung von
Paaren sowie Fallstudien aus der Partnervermittlung und deren
Interpretation.
Das Fachbuch geht vertiefend den benannten Inhalten nach. Es
verbindet die Psychoanalyse mit pädagogischen Fragestellungen. Auch
ist es das erste, mir bekannte Buch, welches innerpsychische
Prozesse bei Menschen mit geistiger Beeinträchtigung zu deuten
versucht und daraus entstehende Handlungsmöglichkeiten und Zugänge
beschreibt. Bisher fand das innere konflikthafte Erleben bei diesem
Personenkreis wenig Beachtung. Gleichwohl wissen wir viel zu wenig
über den Spannungszustand zwischen innerer Reife und körperlicher
Entwicklung.
Bender gelingt eine Bestandsaufnahme zur Lebensrealität von
Menschen mit geistiger Beeinträchtigung. Dabei stellt die Autorin
heraus, dass der Aspekt der Lebensqualität durch Beziehungen für
Menschen mit geistiger Beeinträchtigung gesellschaftlich negiert
wird. Sie macht eindrücklich deutlich: Partnerschaft und Sexualität
dürfen nicht weiter unzugänglich sein. Individuelle Assistenz ist
erforderlich, um Barrieren zu überwinden. Zur Bedeutung von
Partnerschaft führt sie weiterhin aus: Partnerschaft und
Eheschließung dienen in unserer Gesellschaft als äußere Faktoren
der Ablösung vom Elternhaus. Das Selbstbewusstsein von Menschen
wächst in dem Maße, in dem sie sich ihrer Attraktivität gegenüber
ihrem Partner bewusst werden. Partnerschaften bei Menschen mit
geistiger Beeinträchtigung tragen dazu bei, aggressivem oder
depressivem Verhalten entgegenzuwirken (vgl. S.124).
Bender betrachtet die erwachsene Sexualität aus psychoanalytischer
Sicht, was die Erörterung ihrer Entstehungszusammenhänge in der
frühen Kindheit erfordert. Mit der Theorie der Psychosexualität hat
Freud Bedingungen dargelegt, die für die Entstehung der
Liebesfähigkeit von entscheidender Bedeutung sind. Auch Bender
bezieht den seelischen Faktor des Sexuallebens in ihre
Darstellungen ein (vgl. 50ff.).
Eine der Kernaussagen des Buches ist in diesem Zusammenhang die
Bedeutung der Erwachsenenbildung für Menschen mit geistiger
Beeinträchtigung. Können auch diese Menschen die Fähigkeit des
Mentalisierens entwickeln? Können sie in anderen Menschen wie bei
sich selbst Wünsche, Gedanken und Überzeugungen vermuten? Dies
würde – vereinfacht ausgedrückt – auch heißen, am Verhalten ablesen
zu können, was in den Köpfen Anderer vorgeht. Eine Voraussetzung
hierfür ist, die mit einer Beeinträchtigung einhergehenden
traumatischen Aspekte und Erinnerungen zu bedenken, um sie als
schmerzliche, aber wesentliche Erlebnisse in die Identität
integrieren zu können (vgl. S.270). In der zweiten Hälfte der
Arbeit werden uns darüber hinaus Fallstudien nahe gebracht, in
denen es z. B. um den Wunsch nach Partnerschaft sowie die
Fortführung der Mutter-Kind-Symbiose und daraus folgende
Interpretationen der Autorin geht.
Die Dissertation beschäftigt sich überzeugend mit Übertragung und
Gegenübertragung und der Deutung der Szenen in der gemeinsamen
Realität, hier Professionelle_r – Klient_in (vgl. S. 40f.). Die
Autorin geht außerdem der Frage nach, ob das Konzept des szenischen
Verstehens auch für Menschen mit geistiger Behinderung anwendbar
ist. Ein weiterer, spannender Aspekt sind ihre Ausführungen zur
Adoleszenz. Ein regelrechter Entwicklungsstopp in der Adoleszenz
scheint maßgeblich für ein Verharren auf der autoerotischen Stufe
der Sexualität verantwortlich zu sein und gleichermaßen eine
eingeschränkte Autonomie (vgl. S. 60).
Bender liefert zudem prägnante Beispiele aus der Paarbegleitung.
Dadurch wird ersichtlich, welche Anforderungen an die
Professionellen gestellt werden und welche Herausforderung eine
Paarberatung oder Paarbegleitung sein kann. Mein persönlicher
Wunsch ist es, dass mehr über die Übertragung in der Beratung
reflektiert wird, ebenso eigene Normen und Werte bezogen auf das
eigene Bild von Paarbeziehungen.
Was mich als Beraterin berührt hat, ist der beschriebene Wunsch
nach einem Kind, der mir auch regelmäßig in meiner Arbeit begegnet.
In einem Beispiel interpretiert die Autorin den Kinderwunsch damit,
dass die symbiotische Verstrickung auf der Paarebene nicht
realisierbar scheint (»dann wären wir immer zusammen«). Ihre
Beobachtung scheint durchaus nachvollziehbar, ist aber nicht
spezifisch für Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung,
sondern genauso vorhanden bei Männern und Frauen ohne
Beeinträchtigung.
Sie betont das Konzept des Verbalisierens und Mentalisierens. Die
Reinszenierung der frühkindlichen Konflikte mit den Eltern in den
erwachsenen Paarbeziehungen konnte so in der Begleitung der
Klient_innen und der Familien verstanden und bearbeitet werden
(vgl. S.267). Dies scheint mir ein sehr hoch gestecktes Ziel zu
sein.
Als besonders wichtig möchte ich die Auseinandersetzung mit der
eigenen Beeinträchtigung als Chance für gelingende Beziehungen
hervorheben. Wesentlich ist die notwendige Trauerarbeit der Eltern,
um die Behinderung des Kindes zu akzeptieren, das Kind mit seinen
Ressourcen und realen Möglichkeiten zu sehen. Dies wird zu kurz
abgehandelt, da die unverarbeitete Trauer der Eltern ein Leben
lang, bis sie sterben, auf Sohn oder Tochter wirken kann.
Wichtig und richtig dargestellt ist die Bedrohlichkeit des
Geschlechtsaktes, insbesondere für Frauen, aber auch für Männer.
Sie haben stark verinnerlicht, dass Sexualität negativ und
gefährlich ist, für Frauen zudem häufig im Zusammenhang mit Gewalt
vermittelt. Jeder potentielle Partner wird mit Grenzverletzung
gegenüber der Frau phantasiert, was sich auch mit meiner
Praxiserfahrung deckt. Bedauerlich ist, dass im vorliegenden Buch
Frauen teilweise in dem Negativbild der »Opfer« gehalten werden:
Missbrauchsgefahr als ständige »Aura« um die Betreffenden.
Was ich hervorheben möchte, ist Benders erklärtes Ziel, das
Tabuthema geistige Beeinträchtigung aufzubrechen und zu verändern.
Positiv sind auch ihre Hinweise auf die Arbeit mit Gefühlen. Ein
berührendes Beispiel wird hier benannt: Lächeln als eine Art
Tribut, am Leben zu bleiben. Ich unterstütze die von Bender
benannten Ziele in der Beratung oder Behandlung sehr: Stärkung des
Selbst, Bewusstmachung unbewusster Konflikte, Entlastung von
Schuldgefühlen, Stärkung des Ichs und Stärkung der Autonomie. Ich
würde diese Ziele noch um Eigensinn und Anderssein erweitern
wollen. Auch trifft es die Realität, wenn sie beschreibt: welche
Ich-Leistung ihre Klient_innen erbringen mussten, ihrem Wunsch nach
Partnerschaft nachzugehen, teilweise gegen erhebliche Einwände der
Bezugspersonen.
Der Aufbau des Buches ist nachvollziehbar, Gestaltung und
Gliederung sind übersichtlich. Bis zum Abschnitt Paarbegleitung ist
es ein nicht leicht lesbares Buch, bei dem es sich nicht empfiehlt,
nur einzelne Kapitel zu lesen. Nach dem Lesen dieses Buches konnte
ich beobachtetes Verhalten besser nachvollziehen und einordnen.
Ich bin mit dem vorliegenden Stoff gewachsen und habe fortwährend
versucht, es auf mein eigenes Fachwissen und meine beruflichen
Erfahrungen zu übertragen und abzugleichen. Mit Erfolg: dieses
Fachbuch ist transferierbar in die pädagogische Praxis. Es macht
Mut, Partnerschaften zu befördern und bei Bedarf zu begleiten. Die
Fallstudien aus der Partnervermittlung bilden deutlich
Lebensrealitäten von Frauen und Männern mit geistiger
Beeinträchtigung ab. Insbesondere die Mutter-Kind-Symbiose (auch
noch im Erwachsenenalter) und die Fortführung in der Paarbeziehung
wird nachvollziehbar beschrieben.
Wesentlich erscheint mir an dieser Stelle der Hinweis auf die
notwendige gesellschaftliche Diskussion zum Thema Kinderwunsch und
Elternschaft bei Menschen mit geistiger Beeinträchtigung. Auch hier
leistet das Buch einen Beitrag, orientiert sich allerdings nicht an
den Persönlichkeitsrechten.
Geeignet erscheint das Buch für Student_innen der Psychologie und
Pädagogik, die sich in Richtung Menschen mit Beeinträchtigung
orientieren, für Mitarbeiter_innen der Behindertenhilfe,
Kolleg_innen aus dem Bereich Therapie, Beratung und
Sexualpädagogik. Grundlegende Voraussetzung ist, dass sie oder er
bereit ist, sich auf das psychoanalytische Denken einzulassen.
Was bleibt: Erwachsene mit einer Beeinträchtigung werden uns ihren
individuellen Weg vermitteln und wir können von ihnen persönlich
viel lernen.
Petra Winkler (Berlin)
(1)Ich benutze in meinen Ausführungen im Gegensatz zu Svenja Bender
den Begriff der geistigen Beeinträchtigung. Damit möchte ich
deutlich machen, dass es sich um ein Persönlichkeitsmerkmal neben
anderen handelt, ohne die Besonderheit der Person verharmlosen zu
wollen.