Rezension zu Ein Junge namens Sue

Zeitschrift für Sexualforschung 1/2013

Rezension von Robin Bauer

Alexandra Köbele. Ein Junge namens Sue. Transsexuelle erfinden ihr Leben

In dieser Veröffentlichung stellt die Autorin die Ergebnisse einer empirischen Studie zu Transsexualität dar. Köbele, selbst Psychologin, Familientherapeutin und Theaterpädagogin in München, folgt dabei dem interpretativen Paradigma der empirischen Sozialforschung und fragt, welchen Sinn Menschen ihrem Leben selbst geben, wie sie dementsprechend handeln bzw. ihre Handlungen interpretieren. Dazu hat sie mit fünf Transsexuellen – zwei Transfrauen und drei Transmännern – narrative Interviews zu deren Lebensgeschichten durchgeführt und ausgewertet. Die Methode des narrativen Interviews reproduziert den der Biografie als Genre inhärenten Zwang, das eigene Leben als in sich stimmig, kohärent und nachvollziehbar zu erzählen, bzw. im Erzählen zu (re)konstruieren. Transsexuelle sind darin bereits geübt, da sie schon im Begutachtungsverfahren ihren Lebenslauf auf die Diagnose hin überzeugend darstellen müssen. Die Tendenz zur Rechtfertigung der eigenen biografischen Entscheidungen zeigt sich in der transsexuellen Narration beispielsweise in der Idee einer starren Geschlechtsidentität der Erzählfigur des »Ich war schon immer so«.

Köbeles Studie ist einer neuen Generation der Forschung zu Trans* Thematiken zuzuordnen, den sogenannten Transgender Studies, einem interdisziplinären Forschungsfeld, das einer nicht-pathologisierenden Perspektive verpflichtet ist. Als eigenständiger Bereich sind die Transgender Studies in Deutschland noch im Entstehen begriffen. So verfolgt die Autorin eine Normalisierung von Transsexualität, da sie explizit nicht nach einer Ursache derselben sucht. Hier bleibt sie allerdings widersprüchlich, denn sie fragt ihre Interviewten schließlich doch danach, was bei einigen prompt auf Widerstand stößt, die den Sinn und Zweck einer Erklärung hinterfragen; andere geben kreative individuelle Erklärungen zum Besten. Eine Transfrau interpretiert ihr zweites Steißbein als Hinweis darauf, dass sie eigentlich ein nicht voll entwickelter Zwilling sei, und daher quasi für beide Geschwister (unterschiedlichen Geschlechts) leben müsse.

Anders als die Mehrheit der Transgender Studies Vertreterjnnen ist Köbele nicht selbst trans*, aber sehr selbst-reflektiert in ihrer Verortung in Bezug auf das Thema Geschlecht. Sie macht eigene offene Fragen zu Geschlechtsidentität und Zweigeschlechtlichkeit in unserer Gesellschaft transparent und stellt heraus, dass das Thema mit ihr (und daraus folgend, eigentlich mit jeder/jedem, nicht nur mit Transsexuellen) und mit dem eigenen Leben zu tun hat. Ihre Forschung ist motiviert von einer Kritik an Zweigeschlechtlichkeit, die nicht in abstrakten Theorien verharrt, gleichzeitig liegt der Fokus auf der tatsächlichen Lebensrealität der Interviewten; beides sind zentrale Anliegen der Transgender Studies. Jedoch zeigen sich hier auch Probleme von Köbele, ihr politisches Anliegen (Hinterfragen der Zweigeschlechtlichkeit) mit den Selbstdarstellungen der interviewten Transsexuellen zu vereinbaren. Diese haben überwiegend nämlich kein Problem damit, in eine von zwei Schubladen passen zu müssen, das ist sogar ihr angestrebtes Ziel; ihr Problem liegt darin, dass sie in der falschen Schublade gelandet sind. Die Aussage der Autorin, sie hätte eigentlich Individuen, die sich zwischen den Geschlechtern verorten, interviewen wollen anstatt klassischer Transsexueller, ist hier symptomatisch. Problematisch ist daran u. a., dass sich dahinter bereits wieder eine bewertende Dichotomie von Transsexuellen als normativ und Transgenders als nicht-normativ versteckt, die Köbele eigentlich vermeiden wollte und die ihre Daten auch nicht zu unterstützen scheinen. Denn auch die Aussagen der interviewten Transsexuellen sind in sich sehr komplex und widersprüchlich, also keineswegs eindeutig normativ oder nicht-normativ. Das wird beispielsweise in der Diskussion eines Problems deutlich, das die Interviewten beschreiben und sehr unterschiedlich für sich lösen: Die Diskrepanz zwischen dem Wunsch, ein »normaler« Mann/Frau zu sein (und Transsexualität als abgeschlossene Periode der Biografie ohne Bedeutung für das heutige Leben zu sehen) und gleichzeitig immer transsexuell zu bleiben, anders zu bleiben, sei es aufgrund mangelnden »Passings« oder innerlich empfundener Andersartigkeit. Einer versteht sich daher explizit als Transmann statt einfach als Mann, eine andere bezeichnet sich als »Frau mit Vergangenheit«.

Der Titel das Buches, »Das eigene Leben erfinden«, der Fragen nach der Handlungsmächtigkeit (Agency) Transsexueller aufwirft, ist insofern irreführend, als die Autorin anhand ihrer Interviews selbst immer wieder aufzeigt, wie eingeschränkt die Möglichkeiten sind, sich selbst zu erfinden und wie sehr vom sozialen Kontext mit – und vorbestimmt wird, wie man sich in Bezug auf Geschlecht positionieren und verhalten kann/muss. Darüber hinaus sagen die Interviewten selbst, dass sie gar keine Wahl hatten, sprechen vom inneren Zwang der Identitätsverwirklichung. Sie wehren sich teilweise jahrzehntelang gegen das Eingestehen der eigenen Transsexualität, bevor sie ihr eigenes Leben aktiv in die Hand nehmen und mit der Transition beginnen. Und auch dann verbleiben sie oft in geschlechterstereotypen Vorstellungswelten, die wenig mit Erfindung von etwas Neuem zu tun zu haben scheinen. Andererseits finden sich viele Beispiele dafür, wie die Interviewten einen kreativen Umgang mit ihrer besonderen Situation finden und aktiv auf ihr Leben einwirken. Interessant ist die ausführliche Darstellung von Schlüsselerlebnissen, die jede/r der Transsexuellen hatte. Diese führten zur Akzeptanz der eigenen Transsexualität und schließlich dazu, Konsequenzen aus dieser Erkenntnis zu ziehen und zu handeln. In diesem Sinne sehen sich die Interviewten gezwungen, ihr Leben grundlegender als andere Menschen zu hinterfragen und zu gestalten. In Hinblick auf »sich erfinden« im Sinne eines freiwilligen kreativen Akts berichten die Befragten eher, dass das Leben nach der Transition erst richtig oder nochmal ganz neu beginnt und einem dann mehr Möglichkeiten offenstehen, die eigenen Wünsche, z. B. beruflich, umzusetzen. Andererseits sind auch dieser neuen Gestaltungsfreiheit deutliche Grenzen gesetzt, z.B. bei der Schwierigkeit, geeignete Beziehungspartner/innen zu finden.

Die Autorin bezieht vielfältige Quellen ein, interdisziplinär und international; jedoch wirkt die Auswahl bisweilen unsystematisch und nicht dem Forschungsstand angemessen. So fehlt streckenweise der Anschluss an bereits vorhandene Theorien und Forschungsergebnisse, z. B. der Flucht in die Hypermaskulinität als biografische Episode bei Transfrauen oder Bezug zur Diskriminierung von Transsexuellen. Erzählungen hierzu wirken individualisiert und werden nicht analytisch in den gesellschaftlichen Kontext von Transphohie und aktuellen Diskussionen sowie politischen Maßnahmen dazu auf Bundes- und EU-Ebene gestellt. Hier wäre ein Hinausgehen über die eigenen Daten bereichernd gewesen.

Insgesamt scheint die Studie nicht viel Überraschendes ans Licht zu fördern. Aus der Literatur bereits bekannte Themen werden auch hier erörtert, so wie die Bedeutung geschlechtsspezifischer Kleidung, der Leidensdruck, das Doppelleben vor der Transition, die Abwertung alles Weiblichen durch einige Transmänner, die Reproduktion klischeehafter Geschlechterstereotype in den eigenen Positionierungen, Probleme in Partnerschaften aufgrund eines anderen Körpers, anderer Geschlechtersozialisation oder mangelnder Reproduktionsfähigkeit. Jedoch erfahren diese Thematiken aufgrund der Forschungsperspektive und der Methode des narrativen Interviews teilweise eine andere Tiefe und Differenziertheit als bisher. Und bereits in dieser kleinen Stichprobe zeigt sich die Vielfalt transsexueller Lebensentwürfe, die der immer noch weit verbreiteten Vorstellung, Transsexuelle seien doch alle gleich, entgegenwirken kann. Daher ist das Buch lesenswert für all diejenigen, die sich für transsexuelle Lebensgeschichten und -wirklichkeiten und das Selbstverständnis Transsexueller jenseits der klinischen und Begutachtungspraxis interessieren.

Robin Bauer (Brüssel)

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