Rezension zu Das Geheimnis unserer Großmütter
Zeitschrift für Sexualforschung 1/2013
Rezension von Maike Petersen
Svenja Eichhorn, Philipp Kuwert Das Geheimnis unserer
Großmütter
Vor knapp zehn Jahren veröffentlichte der Eichborn-Verlag mit dem
Buch »Eine Frau in Berlin« die Tagebuchaufzeichnungen einer Frau,
die im Frühjahr 1945 in Berlin von russischen Soldaten vergewaltigt
worden war. Die Publikation stieß eine weitreichende öffentliche
Diskussion über die Massenvergewaltigungen durch Rotarmisten gegen
Ende des Zweiten Weltkrieges an, ein Thema, über das Betroffene wie
Zeitgenossen mehr als ein halbes Jahrhundert hartnäckig geschwiegen
hatten.
Viele der Frauen sind heute verstorben, die anderen hochbetagt. Um
so verdienstvoller ist, dass es den AutorInnen der vorliegenden
Untersuchung gelang, für eine empirische Studie 27 Frauen zwischen
76 und 89 Jahren zu befragen, die 1945 in Berlin, Brandenburg und
Mecklenburg-Vorpommern lebten und damals Opfer von
Kriegsvergewaltigungen geworden sind. In Interviews berichteten
diese Frauen von ihren Erfahrungen. Zudem erfassten Svenja Eichhorn
und Philipp Kuwert, inwieweit die Teilnehmerinnen mehr als 65 Jahre
nach den erlebten Gewaltanwendungen eine Posttraumatische
Belastungsstörung (PTBS) aufweisen.
Die Frage, wie sehr das Erlittene das Leben der Frauen gestört und
beeinträchtigt hat, steht demnach im Zentrum der Studie. Sie ist
umso relevanter, als unter den Veröffentlichungen über
sexualisierte Gewalt im Zweiten Weltkrieg keine Untersuchung
vorliegt, bei der gezielt die posttraumatische Belastung der Opfer
erhoben wurde. Eichhorn und Kuwert wollen mit ihrer Arbeit, die
einen quantitativen Ansatz verfolgt, diese Lücke schließen. Das
Buch ist mit 112 Seiten ein schmaler Band, was unter anderem daran
liegt, dass aus den geführten Interviews nur kurze Zitate
dokumentiert wurden. Hervorgegangen ist es aus der Diplomarbeit der
Psychologin Svenja Eichhorn. Sie arbeitet ebenso wie Philipp
Kuwert, zu dessen Forschungsschwerpunkten das Thema
Kriegstraumatisierungen gehört, an der Universität Greifswald.
Das vorliegende Buch ist zweigeteilt: in der ersten Hälfte nähern
sich die AutorInnen ihrem Gegenstand theoretisch und historisch, in
der zweiten werden die empirische Studie und ihre Ergebnisse
vorgestellt. Der erste Teil beginnt mit Definitionen sexualisierter
Gewalt und Vergewaltigung und nimmt die sexualisierte Kriegsgewalt
in den Fokus. Vergewaltigungen im Krieg nehmen unter anderen
potentiell traumatischen Kriegserfahrungen eine Sonderstellung ein.
Schamgefühle und Tabuisierung verhindern mehr als bei anderen
Traumata eine Selbstöffnung und damit die Chance auf soziale
Anerkennung als Opfer.
Eichhorn und Kuwert fassen dann den historischen Forschungsstand
zusammen. Bis zu 1,9 Millionen Frauen sind nach heutigem Wissen
gegen Kriegsende in und um Berlin von russischen Soldaten
vergewaltigt worden. Viele der Opfer überlebten die erlittenen
körperlichen und psychischen Verletzungen nicht. Schätzungen
zufolge nahmen sich 200.000 Frauen das Leben. Zudem kam es durch
die Vergewaltigungen zu Schwangerschaften – möglicherweise waren es
bis zu 300.000. Der illegale Abbruch einer Schwangerschaft nach der
Vergewaltigung durch einen russischen Soldaten wurde nach
Forschungsberichten stillschweigend unterstützt: von Ärzten ebenso
wie von Richtern und der Polizei.
Von einer Tabuisierung der sexualisierten Kriegsgewalt kann 1945
noch nicht die Rede sein. Zu groß war vermutlich die offen zutage
liegende Not und der Handlungsbedarf angesichts von Verletzungen,
Krankheiten und Schwangerschaften nach den gewalttätigen
Übergriffen. Mit dem Beginn des Wiederaufbaus im öffentlichen wie
im privaten Leben wurde das Thema jedoch zunehmend
verschwiegen.
Nach dem historischen Rahmen werden die theoretischen Grundlagen
des klinischen Studieninteresses erläutert: die Begriffe
Traumatisierung und Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)
werden ausführlich dargestellt und diskutiert. Traumatische
Erfahrungen sind vergleichsweise häufig, ziehen jedoch meist keine
anhaltenden psychischen Störungen nach sich. Kriegserfahrungen
bergen eine besondere Gefahr der Traumatisierung, Studien zeigten
in der Vergangenheit auch ein erhöhtes Auftreten einer
PTBS-Symptomatik. Sehr hoch ist die Wahrscheinlichkeit einer PTBS
zudem nach einer Vergewaltigung.
Studien zu Folgestörungen nach Kriegsvergewaltigungen sind bislang
selten. 2006 wurde eine Untersuchung über 65 kroatische Frauen
veröffentlicht, die während des Jugoslawienkrieges 1991–1995
vergewaltigt worden waren. Zusammenfassend sprachen die
Wissenschaftler von schweren, lang anhaltenden Konsequenzen »für
die mentale Gesundheit« der Frauen.
Von diesen Erkenntnissen ausgehend formulieren Eichhorn und Kuwert
ihre Fragestellungen: Sie wollten unter anderem wissen, ob ihre
Stichprobe eine aktuelle PTBS-Symptomatik aufweist, ob die
anteilige Vollausprägung der Symptomatik jene in der
Allgemeinbevölkerung übersteigt, ob ein signifikant negativer
Zusammenhang zwischen aktuell gemessener PTBS und dem gemessenen
Kohärenzgefühl besteht und ob es einen Zusammenhang einerseits
zwischen der Zahl der erlebten Vergewaltigungen, andererseits der
Zahl der erlebten Traumata mit dem gemessenen Kohärenzgefühl
gibt.
Das Kohärenzgefühl wird hier als eine umfassend
gesundheitsschützende Ressource verstanden, als Denkweise, die
prinzipiell von der Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und
Sinnhaftigkeit des Lebens ausgeht und die nicht stabil, sondern
veränderbar ist.
Die empirische Untersuchung wird erst in der zweiten Hälfte der
Publikation vorgestellt. Der Studienaufruf erfolgte im Herbst 2008,
zeitgleich mit dem Kinostart von »Anonyma – eine Frau in Berlin«.
Rund 300 Personen meldeten sich zunächst, darunter auch Angehörige
von Betroffenen. Schließlich nahmen 27 Frauen an der Studie teil.
Die meisten von ihnen sind Vertriebene, durchschnittlich 80 Jahre
alt. Zum Zeitpunkt der Vergewaltigungen waren sie zwischen 12 und
26 Jahre alt.
Mit jeder Teilnehmerin wurde ein »teilstrukturiertes
(Leitfaden-)Interview mit narrativem Charakter« (S.62 ff.) geführt,
und ein mehrseitiger klinischer Fragebogen ausgefüllt, um eine
aktuell vorliegende PTBS nach den DSM-IV-Kriterien (APA 1996) sowie
Kohärenzgefühl und weitere Variablen zu ermitteln und alle
Ergebnisse statistisch auswerten zu können.
Aus den Interviews geht hervor: Für 74% der Frauen waren die
Vergewaltigungen durch die Alliierten das schlimmste unter allen
von ihnen berichteten Erlebnissen im Krieg und gegen Kriegsende. Im
Durchschnitt nennen die Teilnehmerinnen zwölf Vergewaltigungen, an
die sie sich erinnern. Als Folge der sexuellen Gewalterfahrungen
fühlt sich die Mehrheit der Frauen (81%) vor allem im Lebensbereich
Erotik und Sexualität nachhaltig eingeschränkt. Nur elf Prozent
beschreiben jedoch eine Beeinträchtigung ihrer Lebenszufriedenheit.
Nach Bewältigungsstrategien gefragt, nennen zehn Frauen
Verdrängung, sieben das Darüber-Sprechen, fünf eine aktive
Aufarbeitung der Erlebnisse. Weiter werden Arbeit, Hobbys,
Spiritualität und Wut genannt. Eichhorn und Kuwert zitieren auch
wörtlich aus den Interviews. Es sind diese leider sehr seltenen
Passagen, die den Gegenstand der Studie in seiner schrecklichen
Tragweite für das individuelle Leben fassbarer machen. So erzählt
eine 82-jährige Studienteilnehmerin von einer Vergewaltigung durch
russische Soldaten: »Zwei haben mich festgehalten, ein Dritter hat
dann mich vergewaltigt. Dann haben die sich abgewechselt. Und das
ging so ungefähr fünf Mal. Die Bewohner haben mich von der Straße
aufgelesen, weil ich dagelegen und unten geblutet habe. [...] Ich
hätte kein Kind austragen können, weil innerlich alles kaputt war«
(S. 74, 76).
Die interferenzstatistische Auswertung der Fragebögen ergab, dass
fünf der 27 Frauen (19%) eine vollausgeprägte PTBS aufweisen, ein
Wert, der Vergleichsstichproben der Normalbevölkerung (3,4%), aber
auch allgemein Kriegstraumatisierter (14%) weit übersteigt. Jede
zweite der von Eichhorn und Kuwert befragten Frauen leidet unter
einer teilweise oder voll ausgeprägten PTBS. Je stärker die PTBS,
desto geringer ist im Schnitt das gemessene Kohärenzgefühl. Dies
gilt jedoch nicht für den Teilbereich der empfundenen
Sinnhaftigkeit des Lebens: Eine hohe Traumazahl und auch eine hohe
Zahl erlebter Vergewaltigungen geht im Gegenteil mit höheren Werten
auf dieser Skala einher. Die Autoren verweisen zur Erklärung auf
eine Parallele zum Konstrukt des »posttraumatischen Wachstums«,
nach dem stark Traumatisierte besonders gewillt sind, nach
Sinnhaftigkeit zu suchen, um das Erlebte ertragen zu können. Ein
weiteres Ergebnis: Die Wahrscheinlichkeit, dass Frauen in ihrem
Kohärenzgefühl nachhaltig beeinträchtigt durchs Leben gehen, steigt
rückblickend sowohl mit der Zahl der Vergewaltigungen als auch
jener der Traumata.
In der Ergebnisdiskussion ist ein Unbehagen der Forscher über die
gewählte Methodik der Trauma- und PTBS-Erfassung zu spüren.
Ausführlich – auf zehn von gut 100 Seiten – beschreiben sie
Probleme bei der Operationalisierbarkeit der Variablen, unsichere
Begriffsbestimmungen, Begrenztheiten des gewählten Instruments, das
Fehlen von statistischen Vergleichsstichproben und vor allem den zu
kleinen Stichprobenumfang. Teilweise erscheinen diese
Einschränkungen als übertrieben redlich, sind doch auch andere
Studien zum Thema Trauma und PTBS oft klein.
Fraglos verbreitert und vertieft diese Studie das Wissen um die
Folgen sexualisierter Kriegsgewalt. Gerade wegen der unerwartet
großen Zahl von Frauen mit einer PTBS unterstreicht sie auch die
Bedeutung einer therapeutischen Intervention nach
Kriegsvergewaltigungen. Zwar sind therapeutische Konsequenzen aus
den Ergebnissen für die 1945 vergewaltigten Frauen nur noch
begrenzt möglich, doch für neu Betroffene sind sie es sehr wohl.
Auch heute ist sexualisierte Kriegsgewalt ein erschreckend
verbreitetes Verbrechen. Die Frauen, die vor bald 70 Jahren zu
Opfern sexualisierter Kriegsgewalt in Deutschland wurden, könnten
von den Ergebnissen immerhin noch durch eine bessere Schulung der
Aufmerksamkeit von Medizinern und Pflegepersonal gegenüber älteren
Patientinnen profitieren, wie Eichhorn und Kuwert selbst
schreiben.
Ein besonderer Verdienst dieser Studie ist die Verwirklichung ihres
zweiten Zieles: den Teilnehmerinnen Raum für ihre persönliche
Geschichte zu geben und diese zu würdigen. Es scheint den Frauen
ein großes Bedürfnis gewesen zu sein, nach vielleicht
jahrzehntelangem Schweigen endlich zu reden und gehört zu werden.
Die Zitate geben eine Ahnung davon, dass gerade die
teilstrukturierten Interviews den eigentlichen Wert dieser
besonderen Untersuchung im Grenzland zwischen deutscher
Zeitgeschichte, Soziologie und Medizin ausmachen. Sind sie doch
auch einzigartige Zeitzeugenberichte, die schon bald niemand mehr
in dieser Form wird geben können. Es wäre unbedingt wünschenswert,
sie noch einmal ausführlicher zu dokumentieren und zugänglich zu
machen.
Aus einer historischen Perspektive betrachtet wäre ein stärker
qualitativer Ansatz der Studie vorteilhafter gewesen. Ein offeneres
Studiendesign hätte integrieren können, was jetzt nicht erfasst
wurde, etwa das Verhalten während der Interviews, den umfassenden
Gesundheitszustand der Teilnehmerinnen, inhaltliche Fragen wie die
nach Schwangerschaft und/oder Abbrüchen nach den Vergewaltigungen.
Warum dies nicht geschehen ist, verraten die Autoren selbst (S.57):
Es hätte den Rahmen einer Diplomarbeit – der von Svenja Eichhorn –
schlicht gesprengt.
Maike Petersen (Lüneburg)