Rezension zu Versuch über die moderne Seele Chinas

Zeitschrift für Sexualforschung 1/2013

Rezension von Sonja Düring

Antje Haag, Versuch über die moderne Seele Chinas

Die moderne Seele Chinas. Der Wunsch und auch die Notwendigkeit, dieses eigentümlich fremde China zu verstehen, das mit hoher Wahrscheinlichkeit die USA als ›leading nation‹ ablösen wird, sind groß. Da ist man gut beraten, sich beizeiten aufzumachen und zu informieren. Und man macht – selbst unsere Berufsgruppe, die nicht im Verdacht steht, gesellschaftlich zur Avantgarde zu gehören. Das vorliegende Buch steht im internen Ranking des Psychosozial-Verlags auf Platz 1 der Bestsellerliste. Und das nicht zu Unrecht.

Die Autorin Antje Haag blickt auf 20 Jahre intensive Ausbildungstätigkeit in China zurück, hat verschiedene Generationen von Therapeutinnen als Lehrtherapeutin und entsprechend viele Ausbildungsfälle supervidiert und das in einer Zeit rasanter gesellschaftlicher Umbrüche. Die ersten Kandidatinnen und ihre Patientinnen waren noch von den Schrecken der Kulturrevolution geprägt, die letzten durch eine entfesselte kapitalistische Ökonomie, in der im Zeitraffer eine Entwicklung stattfand, die in Europa ein ganzes Jahrhundert gedauert hatte.

Nach der Öffnung Chinas im Jahr 1978 drang die Psychologie, während der Kulturrevolution als bourgeoises Gedankengut verpönt, langsam wieder ins öffentliche Bewusstsein. Der enorme Versorgungsdruck hatte bereits Anfang der 1970er-Jahre dazu geführt, die psychiatrischen Bettenzahlen zu erhöhen, viele Psychiaterinnen vom Land zurückzuholen und die medikamentöse Behandlung wieder zuzulassen. Neue Behandlungskonzepte wurden gesucht.

1988 kam es zum ersten Deutsch-Chinesischen Symposium für Psychotherapie, das später u. a. vom DAAD finanziell gefördert wurde. Damit nahm ein psychotherapeutisches Ausbildungsabenteuer relativ unbekümmert, oder – wenn man es kritischer formulieren will – mit dem in der Psychoanalyse verbreiteten, universalistischen Geltungsanspruch, seinen Anfang. Die Autorin resümiert im vierten Kapitel des Buches, in dem es um die Geschichte der Psychoanalyse in China geht, dass die Psychoanalyse nicht ohne Weiteres auf fremde Kulturen zu übertragen sei: »Sie wird sich den Gegebenheiten der unterschiedlichen Kulturen anpassen müssen, wenn sie nicht erstarren will« (S.146).

Aber der Reihe nach. Das Buch gliedert sich in vier Teile. Im ersten Teil werden kulturspezifische Besonderheiten Chinas aus der Perspektive der Autorin beschrieben. Die Ausführungen zu einzelnen Teilaspekten – wie z. B. Grenzen, Innenräume oder Scham und Gesicht – wirken nach einer hochinteressanten Einleitung, die den Leser neugierig macht, irritierend holzschnittartig. Weder das eigene Erleben der kulturellen Besonderheiten wird differenziert dargestellt, was in eine interessante Reflexion der eigenen kulturellen Selbstverständlichkeiten hätte münden können, noch wird versucht, sich der Andersartigkeit durch Einfühlung zu nähern. Das ist schade, denn die kulturhistorischen und gesellschaftlichen Überblicke, wie zum daoistischen und konfuzianischen Denken, die die Autorin immer wieder einstreut, sind außerordentlich kenntnisreich und erhellend. Hier gelingt es ihr hervorragend, die hegemoniale westliche Sicht hinter sich zu lassen und eine andere Perspektive zu öffnen.

Der zweite Teil beschäftigt sich mit der Geschichte Chinas seit 1949: mit Revolution, Säuberungskampagnen und mit dem traurigen »Höhepunkt«, der Kulturrevolution. Die komprimierte Darstellung ist wieder sehr gelungen. Wer Lust hat, intensiver in die Geschichte Chinas einzutauchen, findet umfassende Literaturhinweise. Es folgen verschiedene Fallgeschichten von Patientinnen und Ausbildungskanditatlnnen, die einen Einblick in die Zeit der Kulturrevolution geben. Das Ausmaß der psychischen Destruktivität ist erschütternd und die Frage, wie eine Gesellschaft mit solch einem kollektiven Trauma fertig werden kann, drängt sich förmlich auf. Es ist deutlich spürbar, dass diese Frage die Autorin, die als Kind im NS-Staat aufgewachsen ist, besonders umtreibt. Die Antwort bleibt offen. Das Anliegen einiger Lehrtherapeutinnen, die Auswirkungen der Kulturrevolution anhand von Biografien zu erforschen, fand bei den Ausbildungsteilnehmerinnen kaum Anklang. So verständlich der Wunsch, sich mit dieser Frage auseinanderzusetzen, gerade aus deutscher Sicht ist – die kritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus hat mindestens zwei Generationen von Intellektuellen stark geprägt –, so nachvollziehbar finde ich es auch, dass die meisten Chinesen und Chinesinnen sich dieser Frage verweigern. Wenn es eine Lehre aus der Geschichte gibt, denn sicherlich die, sich vor einer erneuten machtpolitischen Vereinnahmung ihrer Anliegen schützen.

In der nächsten Generation der Ausbildungskandidatinnen spielt die Kulturrevolution kaum noch eine Rolle. Sie sind überwiegend mit der Adaptation an ein kapitalistisches System beschäftigt. Die eigenen Interessen verfolgen zu müssen, um im System erfolgreich zu sein, wurde von vielen als ungewohnt und konflikthaft beschrieben. Der Respekt vor den Eltern, die traditionelle enge Bindung zwischen den Generationen, die für Stabilität und Kontinuität sorgte, kann unter den Bedingungen rasanter gesellschaftlicher Veränderungen kaum aufrechterhalten werden. Die Lebenswelten klaffen auseinander, was vor allem von der Elterngeneration als Entfremdung und Verwerfung empfunden wird. Interessant hierbei ist, dass es offensichtlich den Männern sehr viel schwerer fällt, in neu geforderter Weise initiativ und aktiv zu handeln als den Frauen – viele Kandidaten und Patienten erleben sich hier gehemmt und leiden unter ihrer Passivität.

Ein Thema, das sich durch alle Bereiche zieht, ist das fluidere Selbst der Chinesinnen, das geprägt ist durch ein Streben nach Harmonie in der Gruppe und der Gesellschaft. Während wir uns abmühen, Ambivalenzen zu ertragen, eigene Interessen mit denen der Familie, der Freundinnen und den Erfordernissen einer Berufstätigkeit unter einen Hut zu bringen, scheinen Chinesinnen noch nicht einmal eine Ahnung von der Anstrengung zu haben, die dies mit sich bringen kann. In China können Gegensätze offenbar nebeneinander bestehen bleiben, ohne dass eine Auflösung bzw. eine Synthese des Widerspruchs erfolgen muss. Das ist ein spannender Punkt; Slavoj Zizek erklärte vor einiger Zeit in einem Interview, die Zukunft der westlichen Gesellschaft werde in einem Kapitalismus mit asiatischen Werten liegen. Und in den Strategiediskussionen großer Unternehmen hat die systemische Sichtweise schon seit längerem Einzug erhalten – die eine Abkehr von dem gewohnten westlichen linear/kausalen Denken und dem daraus folgenden Aktionismus fordert. Die Autorin beschreibt als Kehrseite dieser weniger auf Abgrenzung rekurrierenden Selbstkonstitution, dass die Grenzen des Einzelnen weniger respektiert werden. Während wir es in westlichen Kulturen als auffällig und für die Entwicklung von Kindern als gravierende Störung ansehen, wenn andere zu Selbstobjekten gemacht werden, scheint dies in China sowohl weit verbreitet als auch akzeptierter zu sein. Die Grenzen des Einzelnen werden in solchen Fällen aus unserer Sicht nicht wahrgenommen und überschritten – aus chinesischer sind sie vielleicht einfach nicht vorhanden. Sich in diese unterschiedliche Erlebensweise einzufühlen, ist sehr schwierig, vielleicht auch unmöglich. Die Grenzen der kulturellen Prägung treten im gesamten Buch immer dann hervor, wenn es um die eigenen Erlebnisse der Autorin geht. Es wird deutlich, wie unmöglich es ist, über Menschen zu schreiben, sie zu verstehen, wenn kulturelle Selbstverständlichkeiten nicht teilbar sind. Aber das Buch soll ja auch ein Versuch über die moderne Seele Chinas sein. Und als Versuch finde ich es unbedingt lesenswert – gerade auch, weil die Diskrepanz zwischen intellektuellem Verstehen und den emotionalen Barrieren, die bleiben, so deutlich wird. Es macht noch einmal klar, wie schwer eine kulturübergreifende Verständigung ist.

Sonja Düring (Hamburg)

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