Rezension zu Migration und Trauma (PDF-E-Book)
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Rezension von Wolfgang Jergas
David Zimmermann: Migration und Trauma
Thema
Migration verläuft nicht immer geplant, als Folge reiflicher
Überlegung und gründlicher Vorbereitung. Der Wechsel in ein fremdes
Land geschieht wahrscheinlich mittlerweile häufiger überstürzt,
unfreiwillig und unvorbereitet – nur der Wunsch/Zwang zu überleben
oder die Hoffnung »etwas besseres als den Tod findest Du überall«
(Bremer Stadtmusikanten) sind treibende Kraft. Haben erwachsene
Flüchtlinge eine gewisse persönliche Substanz, von der sie im neuen
Land zehren können, so fehlt es Kindern und Jugendlichen an einer
gefestigten Identität, mit Hilfe derer sie neue Wurzeln schlagen
können. Wie sollen Jugendhelfer und Pädagogen damit umgehen? Das
Buch versucht Antworten.
Autor
David Zimmermann war nach Angaben des Verlages lange in der
Beratung junger Flüchtlinge tätig. Das vorliegende Buch versucht
eine Reflexion dieser Tätigkeit, Erfolge und Fehlschläge auf der
theoretischen Basis der psychoanalytischen Traumatheorie.
Aufbau
Zimmermann gliedert seinen Text in drei große Abschnitte.
Teil I ist eine Theoretische Darstellung, Theorien zu Migration,
zur psychoanalytischen Traumatheorie, insbesondere der
Sequentiellen Traumatisierung und der transgenerationellen
Übernahme und deren Folgen im Alltag der Jugendlichen, insbesondere
in der Schule, stellt der Autor vor.
Teil II ist der Qualitativen Untersuchung vorbehalten. Zimmermann
versucht hier, an mehreren Fallbeispielen ausführlich darzustellen,
wie sich die im ersten Teil dargestellten Theorien auf das konkrete
Verhalten problematischer immigrierter Jugendlicher anwenden lassen
und sich die Auffälligkeiten so besser verstehen lassen und ob aus
dem Verständnis ein besserer Umgang folgen könnte. Anliegen ist es
ja, anders als mit den bisherigen institutionell abgesicherten und
geprägten Verhaltensmustern zu reagieren um das eine oder andere
Trauma aufzulösen und den Jugendlichen mehr Freiheitsgrade ihres
Verhaltens zu ermöglichen.
Teil III ist klassischerweise Pädagogische Konsequenzen und
Ausblick benannt. Der Autor entwickelt hier weitergehende
Forderungen für Ausbildung der Pädagogen, die mit den
traumatisierten Jugendlichen umgehen (müssen) und Bausteine einer
Traumapädagogik.
Zu Teil I (Theoretische Darstellung)
Zimmermann betrachtet Migration unter dem Aspekt der
Traumatisierung. Nicht der kreative Umgang mit den
Herausforderungen einer neuen Welt und die damit verbundenen
Lebenschancen stehen bei ihm im Mittelpunkt, sondern das in aller
Regel schon im Herkunftsland vorhandene Leid(en), politisch,
finanziell, gesundheitlich. Besonders für die Kinder und
Jugendlichen, die dem stummen Zwang der Verhältnisse hier und dort
ausgesetzt sind, in der Regel gehorchen müssen und mehr als die
Erwachsenen dem Lauf der Dinge verständnislos folgen müssen.
Der Autor nimmt sich die Theorie der Sequentiellen Traumatisierung,
die von H. Keilson aus den Erfahrungen des Holocaust entwickelt
wurde, in Verbindung mit den Forschungen des Psychotherapeuten D.
Becker in Chile als Orientierung, um die Erfahrungen der migrierten
Jugendlichen zunächst ganz ohne Ansehen der Person ordnen zu
können. Den Erfahrungen im neuen Land gehen erfahrungsgemäß
bestimmte Stufen der Entfremdung vom heimatlichen Umfeld
voraus.
Beginnend mit Angriffen auf die soziale und psychische Integrität
der Familie durch Verhaftungen und andere Trennungen fängt dann die
tatsächliche Verfolgung an: Deportationen, Gettoisierung, physische
Ausgrenzung, manchmal erzwungene Annahme einer anderen Identität.
Die Rückkehr zur Normalität nach kürzerer oder längerer Zeit
erzwingt wiederum Anpassungsprozesse, überwiegend ohne Reflexion
des Vorhergegangenen. Dieser Dreierschritt nach Keilson wird von
Becker weiter differenziert.
Becker nimmt eine Unterteilung in 6 Schritte, genannt Sequenzen,
vor, die in unterschiedlicher Intensität und Dauer
aufeinanderfolgend postuliert werden. Sequenz eins beschreibt die
Zeit von der Verfolgung bis zur Flucht, Sequenz zwei ist den
Geschehnissen auf der Flucht gewidmet, worauf Sequenz drei die
Anfangszeit am Ankunftsort umfasst, die Becker als »Übergang eins«
bestimmt. Sequenz vier ist die erzwungene Ruhe, um weitere Schritte
einzuleiten oder im Wartezustand zu verharren, weshalb er sie auch
als »Chronifizierung der Vorläufigkeit« bezeichnet. Sequenz fünf
ist die Phase der Rückkehr, ob erzwungen oder freiwillig, weshalb
sie auch als »Übergang zwei« fungiert. In der vorerst letzten
Phase, Sequenz sechs, geht es dann um die freiwillige oder
erzwungene Rückkehr oder die freiwillige oder erzwungene
Eingliederung ins neue Heimatland (vgl. dazu S. 43-46).
Eine solche Feingliederung möglicher traumatisierender Zeiten und
Möglichkeiten mag übergenau erscheinen, bietet aber den Vorteil,
genauer bestimmen zu können, wo die Bruchstellen der Gesundheit
erfolgen können und kann auch erklären, weshalb es denn manchen
Migranten besser gelingt als anderen, mit ihrem Schicksal fertig zu
werden, ohne unterzugehen. Da Zimmermann mit Kindern und
Jugendlichen arbeitet, ist es ihm ein besonderes Anliegen, auf
deren Entwicklungsstörungen aber auch auf deren Potentiale
einzugehen. Die Feingliederung erlaubt auch, legt man die Folie der
normalen Reifung und Entwicklung auf die konkrete familiäre
Migrations- und Einwanderungsgeschichte, scheinbare Widersprüche
und scheinbar geglückte Anpassungsprozesse besser zu verstehen,
sich nicht vom Erfolg blenden zu lassen, im scheinbar Dissozialen
die Anfänge neuer Identität wahrnehmen.
Ein besonderes Spannungsfeld für die Kinder und Jugendlichen stellt
die Schule dar. Zimmermann macht hier drei Aspekte aus, die für
Migranten über die »üblichen« hinaus die Eingewöhnung und Mitarbeit
erschweren: Erstens eine , wenn möglicherweise auch nur
vorübergehende Zerstörung des feststehenden Raumes zwischen
Individuum und Umwelt, global und persönlich. Das individuelle
Gefüge zwischen dem Heranwachsenden, seiner Familie und seiner auch
physischen Umwelt ist zerstört, die alten Rollen, manchmal sogar
die engsten familiären Akteure, fallen aus, müssen möglicherweise
durch die eigene Person ersetzt (der älteste Sohn, die älteste
Schwester übernehmen Elternfunktion), Personen und Räume erst
wieder verortet werden.
Zweitens stehen plötzlich massive Normenkonflikte an, kulturelle
Bezugssysteme sind inkongruent, die Anforderungen der Schule an die
Kinder kollidieren mit der familiären kulturellen Herkunftsnorm.
Anpassung an die neue peer group, Lehrer u.a. einerseits, Gehorsam
und Loyalität den Eltern gegenüber andererseits, die in der neuen
Gesellschaft u.U. existentiell (sich verständlich machen können
beim Amt, beim Arzt etc.) auf die Hilfe der Heranwachsenden
angewiesen sind, rufen neue Rollendiffusion hervor.
Drittens die Sprachkenntnisse: Kinder lernen schnell, reden können
ist praktisch überlebenswichtig. Die Aneignung der fremden Sprache
wird aber nicht sehr kontrolliert, vor allem nicht bei Kindern
unsicheren Aufenthaltsstatus’, hier tun sich die Schulen schwer.
Das Elternhaus kann in dieser Situation wenig helfen, wirkt manches
Mal destruktiv, wenn die neue Sprache verpönt ist, zu Hause nur die
Muttersprache erlaubt ist bzw. gefördert wird, weil sie
möglicherweise als besonderes Loyalitätsverhalten eingefordert wird
– an mögliche Kontakte zu einheimischen Mitschülern ist gar nicht
zu denken. Die aufrechterhaltene Sprachunmündigkeit kann so nicht
nur als eine Frage der Intelligenz und des Anpassungswillens des
Kindes sondern auch der Eltern und deren innere Einstellung zum
neuen Land gedeutet (und damit verstanden und vielleicht behoben)
werden – schlechtes Deutsch unterbindet die Entfernung von der
Familie.
Auch der Besonderheit unbegleiteter minderjähriger Migranten und
die aufenthaltsrechtliche Situation aller Flüchtlinge widmet
Zimmermann im ersten Teil die in diesem Rahmen notwendige
Aufmerksamkeit.
Zu Teil II: Qualitative Untersuchung
Zimmermann hat sich mit der vorliegenden Arbeit vorgenommen, das
zunächst aus den psychoanalytischen Traumatheorien deduzierte
Geschehen an konkreten Schicksalen zu verifizieren. Als Methode
wählte er dazu das themenzentrierte Interview, das fünf
Fragenbereiche erfassen sollte: Lernsituation/Schulbildung,
psychosoziale Situation in der Schule, Erfahrungen im direkten
Kontext der Migration, Rollenerfahrung innerhalb des
Familiensystems, Aspekte des Selbstkonzeptes. Die Interviews wurden
auf Band aufgenommen, dann transskribiert und in einer
Auswertungsgruppe weiter bearbeitet, wobei die dabei entstehenden
Gruppen- oder Einzelphantasien und Gefühle (Stichworte
»Gegenübertragung« und »szenisches Verstehen«) wiederum bei der
Erstellung der Psychogramme der einzelnen interviewten Jugendlichen
berücksichtigt werden. Daher besteht der Teil II aus seiner
Forschungsarbeit an Jugendlichen daraus, sechs ausführliche
Biografien mit den jeweiligen Überlegungen, dem
entwicklungspsychologischen Hintergrund einerseits, die Entstehung
der Pathologie der Einzelnen andererseits, ausführlich darzustellen
und auf mögliche pädagogische Einflussnahme hin zu
reflektieren.
Als Beispiel der Bericht über Ibrahim (S.140 bis 158): Der syrische
Kurde, zum Zeitpunkt der Untersuchung 13 Jahre alt, lebt seit zehn
Jahren mit seinen Eltern und einer älteren Schwester in Berlin.
Weshalb die Familie floh, weiß der Junge nicht. Ihm bekannt ist ein
Fluchtweg mit Flugzeug nach Tschechien, dann zu Fuß nach
Deutschland. Eine befristete Aufenthaltsgenehmigung erst vor
kurzem. Der Vater fährt Taxi, die Mutter ist chronisch krank. Der
Junge besucht jetzt eine öffentliche Sonderschule, möchte
Bauarbeiter werden oder in einem Sportgeschäft arbeiten. Der Junge
erinnert sich an die Flucht (S.142): »…sind wir Flugzeug bis
irgendein europäisches Land, Tschechien oder so oder Slowakei oder
so. Da war richtig viel Schnee, also bis zu mein Brustkorb. Dann
hat mein Vater, ich konnt ja nicht laufen, sonst wär ich da
erstickt drinne, mein Vater hat mich so oben gepackt auf die
Schulter, meine Schwester war n bißchen größer, die konnte noch
laufen, meine Mutter war eigentlich krank der Zeit … Da war immer
mehr Schnee, immer mehr Schnee, auf einmal meinte meine Mutter:
›Ich will hier bleiben, lass mich hier los, ich will weiter gehen.
Geht ihr weiter, ich bleib hier.‹« In dieser Erinnerung verdichtet
sich nicht nur die konkrete Erfahrung mit den symbolisierten
Eindrücken der erfahrenen Fremde (überall Schnee = kalt, abweisend
und lebensgefährlich), auch die familiäre Rollenzuweisung scheint
schon auf: der aktive Vater, die passiv-ängstliche und schwache
Mutter, die scheinbar nicht existente Schwester.
In der Schule fällt der Junge nicht durch Leistung auf. Erst ein
Lehrer in der Sonderschule findet einen Zugang, aber da ist es
schon fast zu spät. Der Vater hat sich Deutsch beigebracht, würde
gerne in einem anderen Beruf arbeiten, muss aber von Amts wegen
damit vorlieb nehmen, als Taxifahrer zu arbeiten, findet denn auch
die Bewunderung seines Sohnes, der sich diese Arbeitshaltung noch
nicht zu eigen machen kann. Zwar ist sein Berufswunsch konkret,
eventuell auch erreichbar, aber die Barrieren liegen in ihm, seine
Frustrationstoleranz gering, Fehlverhalten wird externalisiert: das
Stören der anderen in der Schule hindert ihn am Arbeiten.
Vermutlich auf Grund der erlittenen Gewalt im Heimatland Syrien
(das Haus der Familie wurde, da sie Kurden sind, beschossen),
Erfahrungen in Deutschland mit Neonazis und der erzwungenen
Anpassung im neuen Land ist bei Ibrahim viel Hass in Wort und Tat,
die Mitgliedschaft in einer kurdischen Jugendlichengruppe, die sich
mit jungen türkischen Migranten(kindern) schlägt, gibt ihm
Möglichkeit, einiges auszuagieren, ein Verständnis seiner Gefühle
kann er nicht zulassen: »„Ich bin Kurde und so, ich wurde immer,
immer beleidigt. Und danach, ich glaube, hat sich der ganze Hass in
mir reingefressen, ich werd immer aggressiver, nur wegen so was,
glaube ich.« (S.147)
Resümierend stellt Zimmermann fest: »Im Hinblick auf die schulische
Situation ist die große Ambivalenz zwischen der Reinszenierung von
Brüchen ... und dem Wunsch nach Struktur und Halt deutlich …wegen
der hoch komplizierten Interaktionsstrukturen mit Ibrahim leitet
sich daraus ein besonderer Anspruch an die Schule ab, einem solch
haltenden Raum bereitzustellen. Dass dies in einem entsprechenden
Setting zumindest ansatzweise gelingen kann, zeigt die Bedeutung,
die sein gegenwärtiger Klassenlehrer für Ibrahim gewonnen hat… Eine
besondere Aufgabe der Schule muss das Angebot von
muttersprachlicher Förderung sein. Gerade im Kontext von
Zwangsmigration stellt die Abschneidung von … Anteilen der
Identität eine besondere Gefahr da. Ihre Reaktivierung wäre ein
wesentlicher Bestandteil einer angemessenen schulischen
Unterstützung.« (S.159)
Am Beispiel von Julia, einem 17-jährigen Mädchen aus Uganda, die
mit ihrem Bruder mit drei Jahren nach Deutschland kam, zeigt
Zimmermann andere Schwierigkeiten auf, die übersehen werden können.
Das Mädchen schildert sich als sehr beliebt, kontaktfreudig und
angepasst, Schwierigkeiten in der Schule werden durch gute
Kenntnisse des Systems und rechtzeitige Maßnahmen ihr zugeneigter
Akteure abgewendet bzw. durch passende Maßnahmen unschädlich
gemacht. Dies hilft ihr auch, eventuelle Selbst- und Fremdzweifel
auszublenden, Brüche im Lebenslauf, hervorgerufen durch eine
kritische Existenz der Eltern, die unklar bleibt (vielleicht
Politiker, mutmaßt Zimmermann) besser nicht aufzugreifen sondern
durch eine geglättete Darstellung zu entschärfen. Die ersten
Lebensjahre im neuen Land waren, wie der Forscher durch ihren
Bruder erfährt, eben doch nicht so ideal und zugewandt, sie
verbrachte sie bei Bekannten, die sie versteckt hielten. Die
positive Ausstrahlung, die das Mädchen sich geradezu antrainiert
hat, verdeckt aber viele ihr selbst unklaren und ängstigenden
Entwicklungsschritte, die sie gegenwärtig noch nicht bearbeiten
kann – bei einem Unfall gestorbene Eltern, z.B. kann man weniger
verantwortlich machen für das Migranten-Schicksal als einen
Politiker-Vater, der einen, wenn auch in Fürsorge, weg schickt.
In weiteren Beispielen von Jugendlichen, die Zimmermann erforschte,
macht er die Unterschiede zwischen äußerer Anpassung und
»Integrationserfolg«, innerer Zerrissenheit und unterdrückter
Destruktivität und Autoaggressivität deutlich. Nicht immer wird der
Leser den Schlussfolgerungen zustimmen, was manchmal einfach aus
Platznot geschieht (siehe auch weiter unten).
Zu Teil III: Pädagogische Konsequenzen und Ausblick
Pädagogisches Verstehen ist keine Therapie. Eine Aufarbeitung
traumatisierender Erfahrung mit dem Ziel der »Integration ins Ich«
nicht das Ziel des Autors. Ihm geht es vielmehr darum, im
Konfliktfeld Schule und Jugendarbeit die Besonderheit jugendlicher
Migranten hervorzuheben, um deutlich zu machen, dass einfühlsames
Verstehen leidvoller Lebensgeschichten nur ein erster Schritt sein
kann, aber nicht ausreicht, um die Quote der Schulversager zu
senken. Eine besondere Art des Umgangs sollte vielmehr Lehrern und
Erziehern nahegebracht werden, da die Erklärung »gestörter
Hormonhaushalt in besonderen Lebensabschnitten« ja nur allzu platt
daher kommt.
Er plädiert daher für eine neue Leitlinie im Umgang mit den
Innenwelten der Migranten, die nicht auf Handlungskonzepte setzt,
sondern auf das Verständnis der je aktuellen Interaktion zwischen
den SchülerInnen und dem System Schule, das für jene zunächst ja
eine Verkörperung fremder Kultur und Sitten darstellt und Anpassung
verlangt, ohne Belohnung garantieren zu können.
Fände das Verständnis der Migration inklusive möglicher
Traumatisierungserfahrungen Eingang in das Verhalten der Erzieher,
könnte eine Brücke zum Jugendlichen geschlagen werden. Der Autor
plädiert hier auch für Offenheit der Methoden: Theater, Musik,
Bedeutung fremdkultureller Rituale und Einführung in unsere
Lebenswelten könnten weitere Bausteine sein. Dringend erforderlich
ist dem Autor auch eine simple Kenntnis der Migrationsgeschichte –
wenn stattgehabt auch der Fluchtgeschichte und deren Gründe und
Hintergründe. Selbstverständlich ist hierfür auch eine Schulung
bzw. Bildung der Erzieher und fortlaufende Supervision
erforderlich.
Diskussion
Fallgeschichten haben etwas Verführerisches. Dies sieht Zimmermann
auch so, lässt sich aber darauf ein, da nur so eine Darstellung
allgemeiner Ansichten der Einzelperson gerecht werden kann. Auch
dabei besteht immer noch die Gefahr, nur das mitzuteilen, was die
eigene These stützt. Der Untergang des einzelnen in Mittelwert und
Standardabweichung ist ja auch nicht schöner. Letzteres hat zudem
den Nachteil, die, um die es geht, nicht mehr anschauen zu müssen
und sich auf sie nicht einlassen zu müssen. Deshalb hebt Zimmermann
den Aspekt der Gegenübertragung und des szenischen Verstehens auch
hervor, beides Elemente einer intensiven und zugewandten
Interaktion. Ihm geht es bei aller Bemühung um den Nachweis
triftiger Theorie doch vor allem um das Öffnen von Zugängen und die
Hilfestellung bei Kenntnis fremder Schicksale. Man mag der
dahinterstehenden Theorie nicht immer wohlgesonnen sein – dem Ziel,
einen pädagogischen Zugang zu einer großen Gruppe Heranwachsender
in unserem Land, die möglicherweise sonst abdriften würde, kann man
die Zustimmung nicht versagen. (Würden sich die Neoliberalen einmal
darauf einlassen, auch diesen Bereich wirklich durchzurechnen, was
Knast und nochmal Knast die Gesellschaft kosten und was dadurch an
menschlichen Potentialen verloren geht, würde die Sozialarbeit
vermutlich deutlich vor Derivaten an Investitionsbewertung
zulegen.) Insofern gilt auch hier: wer die Jugend hat, hat die
Zukunft.
Fazit
Junge Flüchtlinge verstehen ist möglich. Es erfordert Zeit,
Bereitschaft, die eigene Kultur zu relativieren, sich belastende
Erfahrungen anzuhören und dabei die positiven Kräfte und
verschüttete Lebendigkeit wieder zu entdecken. Das Trauma passiert,
aber wie kann das Leben im fremden Land weitergehen.
Hilfsmöglichkeiten werden entwickelt. Sind aber nicht umsonst zu
haben. Aber auch der Jugendknast kostet Geld. Wer trifft die
Entscheidung?
Rezensent
Dipl.-Psychol. Wolfgang Jergas
Jahrgang 1951, Psychologischer Psychotherapeut, bis 2006 auf einer
offenen gerontopsychiatrischen Station, seit 2007
Gedächtnissprechstunde in der Gerontopsychiatrischen
Institutsambulanz der CHRISTOPHSBAD GmbH Fachkliniken
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