Rezension zu Rechtsextremismus der Mitte
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Rezension von Dr. Andreas Siegert
Oliver Decker, Elmar Brähler u.a.: Rechtsextremismus der Mitte
Thema und Aktualität
Rechtsextremismus war, ist und bleibt ein aktuelles
gesellschaftspolitisches Thema. Nicht nur wegen dem (erneut)
anstehenden NPD-Verbotsverfahren, sondern weil es die Grundlagen
unseres Gesellschaftssystems berührt: Wie gehen die in Deutschland
lebenden Menschen miteinander um? Welche Ziele und Werte verbinden
unsere Gesellschaft? Wie behandeln wir Menschen, die mit anderer
Prägung und anderen Erfahrungen Teil unserer Gesellschaft sind oder
zu uns kommen? Diese Fragen bilden einen Querschnitt zu anderen
gesellschaftspolitischen Diskussionen.
Die selektive Wahrnehmung eines autoritären Weltbildes wird
offensichtlich, wenn die Autoren darauf hinweisen, dass
Ausländerfeindlichkeit am besten ohne Ausländer gedeiht und
Antisemitismus sowie Islamfeindlichkeit sich nicht aus eigener
Religiosität speisen müssen. Das Zentraleuropa seit Jahrhunderten
intensiv durchwandert wurde und schon deshalb viele genetische
Spuren trägt, scheint der Ablehnung »des Fremden« keinen Abbruch zu
tun (S. 132). Die Frage bleibt, warum dies so ist. Und dieser Frage
gehen die Autoren sehr fundiert, überzeugend und mit Engagement
nach. Sie legen eine Grundlage für notwendige und grundlegende
gesellschaftliche Diskussionen, die sich – bei Aufnahme aktueller
Bezüge (wie dem NSU-Verfahren; S. 39) – fragen muss, warum sich
gesellschaftspolitische oder wirtschaftliche Zyklen ständig
wiederholen.
Ohne Antwort auf diese Frage, so die Autoren (S. 34), wird der
gesellschaftliche Zusammenhalt gefährdet – und zwar, so kann
hinzugefügt werden, sowohl zwischen momentanen, als auch künftigen
Gesellschaftsmitgliedern. Denn angesichts der Tragweite
gesellschaftlicher Themen wie demografischer Wandel und
Fachkräftemangel, bleibt zu fragen, wer eigentlich in einer auf die
Vermarktung aktueller Nachrichten ausgerichteten Umgebung die
Interessen von (künftigen) Migranten in Deutschland vertritt (S. 47
f.)?
Herausgeber und Autoren
Die vier Kapitel (zzgl. Einleitung und Informationen zum
Fragebogen) wurden von den Autoren in unterschiedlicher
Zusammensetzung erarbeitet. Sie fassen die Ergebnisse einer seit
2002 im Zweijahresrhythmus laufenden quantitativen Erhebung zu
rechtsextremen Einstellungen zusammen. Oliver Decker als Sozial-
und Organisationspsychologe, Johannes Kiess als
Politikwissenschaftler und Elmar Brähler aus der Perspektive der
medizinischen Psychologie und Soziologie nähern sich dem Thema
interdisziplinär und mit sehr gut aufeinander aufbauenden
Beiträgen.
Aufbau
Kapitel des Buches sind
1. »Einleitung« (Kapitel 1; Oliver Decker, PD Dr. phil., Dipl.
Psychologe, Vertretungsprofessor Sozial- und
Organisationspsychologie der Universität Siegen/ Johannes Kiess,
M.A., Institut für Soziologie der Universität Leipzig/ Elmar
Brähler, Professor Dr. rer. biol. hum., Leiter der Abteilung für
Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie der
Universität Leipzig),
2. »Moderne Zeiten« (Kapitel 2; Oliver Decker/ Johannes Kiess),
3. »Politik und Leben in Deutschland« (Kapitel 3; Johannes Kiess/
Oliver Decker/ Elmar Brähler),
4. »Traditionslinien der Moderne« (Kapitel 4; Oliver Decker/
Johannes Kiess/ Elmar Brähler),
5. »„Die demokratische Gesellschaft und ihre Mitglieder in einer
sich stets überholenden Moderne« (Kapitel 5; Roland Imhoff, Dr.,
Juniorprofessor der Universität Köln/ Oliver Decker/ Immo Fritsche,
Professor Dr. phil., Universität Leipzig/ Janine Deppe,
Diplom-Psychologin, Universität Leipzig/ Johannes Kiess/ Elmar
Brähler) sowie
6 »Fragebogen zur rechtsextremen Einstellung – Leipziger Forum«
(Kapitel 6; Oliver Decker/ Andreas Hinz, Professor Dr. rer. nat.
habil., Universität Leipzig/ Normann Geißler, Dr., HTWK Leipzig/
Elmar Brähler).
Im fünften Kapitel werden unterschiedliche Aspekte des
gesellschaftlichen Themas »demokratische Gesellschaft und ihre
Mitglieder im Wandel« behandelt, bei denen sich die
interdisziplinäre Herangehensweise wechselnder Autorenteams
auszahlt: »Verschwörungsmentalität als Weltbild« (Kapitel 5.1,
Roland Imhoff/ Oliver Decker), »Außer Kontrolle? Ethnozentrische
Reaktionen und gruppenbasierte Kontrolle« (Kapitel 5.2, Immo
Fritsche/ Janine Deppe/ Oliver Decker), »Wo ist der Ort der
Demokratie heute? Öffentlichkeit und Partizipation 2012« (Kapitel
5.3, Oliver Decker/ Johannes Kiess/ Elmar Brähler) sowie
»Bedrohungserleben und Kontakthypothese« (Oliver Decker/ Johannes
Kiess/ Elmar Brähler).
Inhalt
Angenehm ist, dass sich die aufgeworfenen Fragen wie ein roter
Faden durch die Publikation ziehen, die Religion in den Kontext des
Wirtschafts- und Gesellschaftssystems (S. 53 f.) stellt,
Systemkritik übt, indem sie die Externalisierung gesellschaftlicher
Spannungen (auf Ausländer, Muslime, Juden) sowie ungleiche Chancen
sozio-ökonomischer Teilhabe offenlegt und die Folgen für
Gesellschaft und Wirtschaftssystem zeigt. Diese Aspekte
beeinflussen, so die Autoren, gesellschaftliches Engagement,
Zusammenhalt und Attraktivität einer Gesellschaft (S. 74).
An konkreten Beispielen und mit interdisziplinärer Reflektion wird
das übergreifende Thema Rechtsextremismus aufgearbeitet. So zeigen
die Autoren z.B. wie Sozialisation Ausländerfeindlichkeit fördert
(S. 98), dass davon vor allem in Ostdeutschland immobile und
bildungsferne Gesellschaftsteile betroffen sind (S. 109) und, dass
deren Einstellungen Ausdruck sozialer Prozesse sind (S. 124).
Gleichzeitig wird erkennbar, wie sehr diese Entwicklung den
wirtschaftlichen Aufholprozess, die Angleichung von
Lebensverhältnissen und den Aufbau von Vertrauen erschweren. Und
während es sich bei ausländerfeindlichen Einstellungen in
Ostdeutschland vorwiegend um ein Jugendproblem handelt, sind es im
Westen Deutschlands vor allem Ältere, die so geprägt sind (S.
124).
Zur Leistung der Studie gehört, zu verdeutlichen, wie groß die
Bedeutung ökonomischer Teilhabe und sicherer Arbeitsverhältnisse
auf die Perzeption abwertender Urteile über Juden, Muslime oder
Ausländer ist (S. 158 ff.). Erlebte oder empfundene Ausgrenzung vom
wirtschaftlichen Fortschrittsmythos der Gesellschaft führt zu
Kontroll- und Handlungsverlust und begünstigt autoritäres Denken
und Handeln. Kollektive Identitäten dienen dazu, Grundbedürfnisse
wie Kontrolle, Unsicherheitsreduktion, Selbstwert und Zugehörigkeit
von Gesellschaftsmitgliedern zu erfüllen, die sich als ausgegrenzt
empfinden oder es tatsächlich sind (S. 165, 173).
Ermutigend ist die Bestätigung der Kontakthypothese gegen Ende des
Buches: »Der Kontakt zu Migrant/innen wirkt sich positiv … aus –
persönliche Kontakte stehen Vorurteilen im Weg. Der direkte Kontakt
im persönlichen Umfeld ist dabei noch durchschlagender als die
bloße Gegenwart von Migrant/innen im Arbeits- oder Wohnumfeld« (S.
195).
Diskussion
Die interdisziplinäre und gut aufbereitete Behandlung dieses
aktuellen und wichtigen gesellschaftspolitischen Themas ist ein
Verdienst der Autoren.
Allerdings sollte die These, dass für das Selbstverständnis einer
kapitalistischen Warenwirtschaft die Expansion und Käuflichkeit
aller Waren und Leistungen zentral ist (S. 62), etwas
differenzierter formuliert werden und gegenläufige Tendenzen
aufgreifen.
Dringend benötigte qualifizierte Zuwanderer (OECD 2013) haben
häufig die Auswahl zwischen mehreren Migrationszielen (Stichweh
2007, 5) und sind oft weltweit vernetzt (Lerman 2000, 37; Abella
2004, 8). Ausländerfeindlichkeit wird in globalen Netzwerken
kommuniziert (vgl. Siegert 2008), mindert die Attraktivität von
Ländern und Regionen und ist daher für die Anwerbung von
Fachkräften relevant. Wenn z.B. die Konsequenz einer xenophoben
Umgebung die wäre, dass eine Region für Zuwanderer unattraktiver
wird, zeigt dies auch, dass Menschen nicht wie Figuren eines
Schachbretts verschoben werden können, sondern mit ihren
Überzeugungen und Motiven, ihrem Handeln und Fühlen die
Grundannahmen neoliberaler Wirtschaftspolitik widerlegen (vgl.
Thaler/ Sunstein 2008, Wilkinson/ Picket 2009, Ostrom 1999). Auch
vor diesem Hintergrund wäre es wünschenswert, Schlussfolgerungen
aus den Ergebnissen in Form gesellschaftspolitischer Empfehlungen
zu erfahren. Was bedeutet es z.B. konkret für Politik, Gesellschaft
und Wirtschaft, wenn sozio-ökonomische Faktoren die Meinungsbildung
beeinflussen (S. 68 ff.)?
Es ist hilfreich, dass die Autoren mehrfach auf die Rolle der
Medien (S. 100, 133) in diesem systemimmanenten Prozess von
Meinungsbildung und -beeinflussung verweisen. Aber wie beeinflusst
politische Einflussnahme das Meinungsbild in Richtung und
Intensität? Bei wem verfangen ausländerfeindliche Stammtischparolen
insbesondere der Volksparteien? Erinnert sei z.B. an den hessischen
CDU-Wahlkampf gegen die doppelte Staatsbürgerschaft oder den Stolz
der Berliner SPD, die Einreise Asylsuchender über Ost-Berlin
erschwert zu haben.
Möglicherweise bieten weiterführende Studien Ansätze für
differenzierte, kohärente und auf Integration ausgerichtete
politische Angebote, die politisch längst überfällig sind. Denn, so
zeigt eine empirische Studie von Shamir (2012), undifferenzierte
Integrationsangebote verfehlen ihr Ziel, während erfolgreiche
Interaktion hilft, Vertrauen zwischen Zuwanderern und
Ortsansässigen zu entwickeln. Was aber, wenn die
Aufnahmegesellschaft nicht oder unzureichend zur Interaktion bereit
ist?
Vertrauen zu entwickeln ist dringend nötig, allein um Pflegekräfte
für strukturschwache Regionen zu gewinnen. Prognosen sehen einen
Bedarf an Fachkräften des Gesundheitssektors in Deutschland von
165.000 Ärzten und 800.000 Pflegekräften bis 2030 (Ostwald et al.
2010, 10). Ausländerfeindliche Einstellungen schrecken diejenigen
ab, die Ältere benötigen um ihren Alltag zu bewältigen. Die OECD
(2013, 28, 42) sieht die Leistungsfähigkeit des
Wirtschaftsstandorts Deutschlands gefährdet. Deshalb gilt neben
inländischen Arbeitsmarktreserven die Förderung der Zuwanderung als
unverzichtbar (OECD 2013, 39 ff.).
Doch nicht allen Regionen fehlen Fachkräfte. Vielmehr zeigt sich
dieser Mangel besonders in strukturschwachen Regionen – also dort,
wo sozio-ökonomische Teilhabe schwierig ist und xenophobe
Einstellungen ausgeprägt sind. Bei erfolgreicher Anwerbung
ausländischer Fachkräfte träfen hier zwei Gruppen mit
gegensätzlichen Voraussetzungen aufeinander: Gut ausgebildete,
selbstbewusste und leistungsbereite Zuwanderer und ausgegrenzte,
immobile Deutsche mit geringem Selbstwertgefühl. Ohne
gesellschaftspolitische Gegensteuerung bleibt zu befürchten, dass
sich strukturelle Trends regionaler Abkoppelung verstärken. Diese
Gefahr besteht umso mehr, als die OECD (2013, 15) darauf verweist,
dass Deutschland kein attraktives Einwanderungsland ist.
Offenbar fehlt uns eine gesamtgesellschaftlich getragene
»Willkommenskultur«.
Fazit
Das rechtsextreme Einstellungen aus dem Blickwinkel
unterschiedlicher Wissenschaften betrachtet werden, dient dem
Verständnis, verdeutlicht Zusammenhänge und stellt einen wichtigen
gesellschaftspolitischen Beitrag dar. Darüber hinaus ist das Thema
von ungebrochener Aktualität. Die Autoren legen mit den Ergebnissen
ihrer Studie die Grundlage für notwendige gesellschaftliche
Diskussionen und politisches Handeln. Es bleibt zu hoffen, dass
diese Vorlage aufgegriffen wird. Denn wenn es nicht gelingt, eine
ausreichende Zahl ausländischer Fachkräfte anzuwerben und
erfolgreich zu integrieren (vgl. hierzu auch: Sievers et al. 2010),
droht eine fortschreitende Abkoppellung und Radikalisierung
erheblicher Gesellschaftsteile. Und das kann in niemandes Interesse
sein.
Literatur
• Abella (2004): Das globale Ausmaß der Migration von Eliten. In:
gtz (Hg.): Brain Drain oder Brain Gain? Die Migration
Hochqualifizierter. 8 – 10
• Lerman (2000): Information Technology Workers and the U.S. Labor
Market: A Review and Analysis of Recent Studies. May 2000
• OECD (2013): Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte.
Deutschland. Paris/ Berlin
•Ostrom (1999): Die Verfassung der Almende. Die Einheit der
Gesellschaftswissenschaften, 104. Tübingen
• Ostwald/ Ehrhard/ Bruntsch/ Schmidt/ Friedl 2010:
Fachkräftemangel. Stationärer und ambulanter Bereich bis zum Jahr
2030. PriceWaterhouseCoopers (Hg.), Frankfurt
• Shamir 2012: The legal culture and migration: structure,
antecedents and consequences; Dissertation submitted to the school
of law of Stanford University
• Siegert (2008): Motive hochqualifizierter russischer
Transmigranten, nach Deutschland zu emigrieren. Eine empirische
Untersuchung unter russischen Akademikern. Aachen
• Sievers/ Griese/ Schulte (2010): Bildungserfolgreiche
Transmigranten. Eine Studie über deutsch-türkische
Migrationsbiographien. Frankfurt am Main
• Stichweh (2007): Globalisierung von Wirtschaft und Wissenschaft,
Produktion und Transfer wissenschaftlichen Wissens in zwei
Funktionssystemen der modernen Gesellschaft. Zugriff: 15.04.2013,
(http://www.uni-bielefeld.de/(de)/soz/iw/projekte/projekteabgeschlossen.htmlhttp://www.uni-bielefeld.de/(de)/soz/iw/projekte/projekteabgeschlossen.html).
• Thaler/ Sunstein (2008): Nudge. Improving Decisions About Health,
Wealth, and Happiness. New Haven & London
• Wilkinson/ Pickett (2009): The Spirit Level. Why More Equal
Societies Almost Always Do Better, London
Rezensent
Dr. Andreas Siegert
Universität Potsdam, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche
Fakultät
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