Rezension zu Psychose
Sozialpsychiatrische Informationen 2/2013
Rezension von Renate Schernus
Der Verfasser des Buches mit dem minimalistischen Titel »Psychose«,
Prof. Dr. med. Joachim Küchenhoff, ist Professor an der Universität
Basel und arbeitet seit 2007 als Chefarzt der Klinik für
Psychiatrie und Psychotherapie Basel-Land. Die Gestaltung der
Titelseite des Buches macht durch kreuz und quer gedruckte
psychoanalytische Vokabeln sofort deutlich welcher
psychotherapeutischen Richtung sich Joachim Küchenhoff verbunden
fühlt. Er ist Mitglied der schweizerischen Gesellschaft für
Psychoanalyse und der International Psychoanalytical
Assoziation.
»Eine Sozialpsychiatrie ohne ein psychodynamisches Verstehen bleibt
einseitig und droht zum Sozialmanagement zu werden.« – So einer der
letzten Sätze des Schlusskapitels. Zurecht hätte der Titel des
Buches auch »Kommunikative Psychopathologie« lauten können, denn um
eine solche geht es dem Verfasser. Das Buch ist in vier Kapitel und
eine kurze Schlussbemerkung gegliedert.
Im ersten Kapitel wird in differenzierter Weise das Verhältnis von
verstehender Psychopathologie und psychiatrischer Klassifikation
bestimmt. Hier bezieht sich der Autor zwar insbesondere auf die
Person des psychotisch erkrankten Menschen, seine Ausführungen
dürften jedoch in allen grundsätzlichen Überlegungen für die
gesamte psychiatrische Praxis hilfreich sein. Deutlich werden die
Grenzen einer ausschließlich beschreibenden Psychopathologie
aufgezeigt. Eine Grundhaltung wird beschrieben, die den Einzelnen
nicht als bloße »Konkretion einer allgemeinen Regel« begreift,
sondern sich – offen für Überraschungen – auf jedes
unverwechselbare Individuum in seiner Fremdheit und Andersheit
einlässt. Im zweiten Kapitel erfolgt die Darstellung von und die
Auseinandersetzung mit verschiedenen psychoanalytischen
Psychosetheorien mit und nach Freud. Konzepte von Lacan, Bion,
Rosenfeld, Winnicot u .a. bis hin zu Benedetti werden beleuchtet.
In der Rezeption Benedettis wird das Grundanliegen des Autors
besonders deutlich, nämlich Pathologie nicht als »Anzeichen einer
zerstörten Innenwelt« zu begreifen, sondern als Mittel der
Kommunikation, als Mitteilung. Psychosetherapie wird verstanden als
der Versuch, diese Mitteilungen zu entschlüsseln. Studierende, die
sich einen kurzen, aber dennoch fundierten Überblick über die
wesentlichsten Etappen psychoanalytischer Theorien zur Entstehung
von Psychosen und ihrer Behandlung verschaffen wollen, werden von
diesem Kapitel besonders profitieren. Im dritten Kapitel wird ein
psychodynamisches Faktorenmodell vorgestellt. Hier geht es dem
Autor darum, aufbauend auf früheren psychoanalytischen Theorien
und diese weiterführend, der Komplexität psychotischer Störungen
durch ein multidimensionales Verständnis gerecht zu werden. Im
Rahmen dieses Modells sind gleichwohl psychotische Störungen
vorrangig als Beziehungsstörungen aufzufassen und Symptome
daraufhin zu befragen, inwiefern sie als Restitutionsleistungen zu
verstehen sind. Dieser Ansatz scheint sehr gut kompatibel mit
grundlegenden sozialpsychiatrischen Anliegen und auch mit
Konzepten, die derzeit unter Stichworten wie Recovery und
Empowerment gehandelt werden. Das letzte Kapitel widmet sich
konkret der psychoanalytischen Arbeit mit psychotischen Patienten
unter Einbeziehung des psychodynamischen Faktorenmodells. Besonders
empfehlenswert für klinische, auch nicht analytisch geschulte
Praktiker ist der Abschnitt über Beziehungsdynamik und
Psychopharmakologie. Ein Medikament wird nie nur geschluckt,
sondern der Stellwert für das Selbstverständnis des Patienten
sowie die Rolle die es im Rahmen der Beziehung zum Therapeuten
spielt, ist sorgfältig zu beachten. Auf die entsprechende Dynamik
gibt der Autor differenzierte Hinweise.
Küchenhoff arbeitet durchgehend mit Fallgeschichten, in denen der
theoretische Ansatz verdeutlicht wird. Das erleichtert das Lesen.
Allerdings scheint eine gewisse Spannung, ja eigentlich
Unverträglichkeit zu bestehen zwischen der psychoanalytischen,
immer noch oft verdinglichenden und alltagsfernen Sprache
(libidinöse Besetzung des Objekts, Repräsentanz,
Sekundärprozess, Triangulierung, etc.) und der Bereitschaft des
Autors, dem Patienten in seiner Welt und seiner Sprache authentisch
zu begegnen, eine Bereitschaft, die dem Buch durchgehend
abzuspüren ist. Aber die wahrgenommene Spannung offenbart
natürlich auch, dass die Rezensentin in der psychoanalytischen
Sprache nicht zu Hause ist.
Renate Schernus