Rezension zu Das Geheimnis unserer Großmütter

ZFG. Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. 61. Jahrgang, Heft 2/2013

Rezension von Kai Sammet

Svenja Eichhorn/Philipp Kuwert: Das Geheimnis unserer Großmütter. Eine empirische Studie über sexualisierte Kriegsgewalt um 1945. Psychosozial-Verlag, Gießen 2011, 112 S.

In den letzten Jahren ist ein lange vernachlässigtes (oft: tabuisiertes) Kapitel der Kriegsgewalt, zugleich eines der bedrückendsten, Gegenstand einer Reihe von Untersuchungen geworden. Nicht zuletzt die verstörenden Taten beim Zerfall Jugoslawiens haben gezeigt, was Männer Frauen antun. Massenvergewaltigungen und deren Folgen sind noch zu wenig untersucht. Dieses Buch, ursprünglich eine psychologische Diplomarbeit, behandelt die bis heute wenig aufgearbeitete (Leidens-)Geschichte von Frauen um 1945. Es will zeigen »wie wichtig das Thema für viele Frauen und deren Familien heute noch ist« (S. 13), und reiht sich in Überlegungen ein, dass Gewalt nicht endet, wenn nicht mehr geschlagen wird. Besonderheiten für deutsche Frauen bestanden darin, dass das Kriegsende ihnen »Funktionieren« abverlangte und ihr Leiden tabuisiert wurde, da Deutsche nicht Opfer sein konnten.

Zuerst werden theoretische Grundlagen skizziert: Begriffsklärungen und Erklärungsansätze: Sexualisierte Gewalt ist eine »Form von Gewalt, die sich sexueller Mittel bedient« (S. 17), es geht um Macht, Aggression, nicht Sexualität. Vergewaltigungen in Kriegen sind eine perfide, aber »effektive« Waffe zur Unterdrückung, zur (seelischen) Destruktion der feindlichen Partei. So leiblich diese Form der Gewalt ist, so ist sie auch symbolisch aufgeladen. Sie signalisiert absolute Ohnmacht, wenn es Soldaten gelingt, buchstäblich »ins Mutterland einzudringen«: so weit und so nah, dass kein (weiblicher) Körper geschützt ist.

Sexualisierte Gewalt gab es, seit Kriege geführt werden. Im 20. Jahrhundert spielten (Massen-)Vergewaltigungen u. a. in Belgien durch Deutsche im Ersten Weltkrieg, beim japanischen Angriff auf Nanking 1937, in Italien 1943 durch alliierte Soldaten eine Rolle. Während des Russlandfeldzugs wurden Militärbordelle eingerichtet, SS und Wehrmacht vergewaltigten aber auch »wild«. 1971 wurden ca. 200 000 Frauen durch die pakistanische Armee bei der Abspaltung Bangladeschs vergewaltigt.

Im kollektiven Gedächtnis an- wie abwesend sind Vergewaltigungen deutscher Frauen durch sowjetische Soldaten um 1945. Es gab geschätzt zwei Millionen Opfer, von denen sich etwa 200 000 selbst töteten, 300 000 Kinder wurden gezeugt, die Zahl der Abtreibungen ist unbekannt. Das Thema blieb im privaten Bereich tabuisiert, was mit Scham und Schuldgefühlen der Frauen zu tun hat. Ihre Zugehörigkeit zum »Tätervolk« verhinderte die Anerkennung als Opfer. Dass aber der Raum zum Sprechen fehlte, führte, so die Studie, zur Fixierung des Traumas. Was ist ein (Psycho-)Trauma und was sind Traumafolgestörungen? Am geläufigsten ist die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Gemäß der ICD-10 (dem von der WHO ausgearbeiteten Diagnosenmanual) ist ein Trauma ein Ereignis »von außergewöhnlicher Bedrohung mit katastrophalem Ausmaß, das nahezu bei jedem tief greifende Verzweiflung auslosen würde« (S. 33). Man unterscheidet einfaches und komplexes Trauma, menschlich oder zufällig (z. B. durch Naturkatastrophen) verursachte Traumata, die kurz (Typ I) oder lang (Typ II) dauern können. Auffällig ist, dass Symptome im Alter oft zunehmen, was zur Retraumatisierung führen kann. Eine PTBS wird diagnostiziert, wenn (1) ein Trauma stattfand, (2) das Ereignis immer wieder erlebt wird (flash backs), (3) Vermeidungsverhalten entsteht (Erinnerungen oder Situationen, die an das Ereignis gemahnen, werden vermieden), (4) körperliche Störungen wie »hyperarosual« (erhöhtes Erregungsniveau) auftreten. Männer erleben häufiger Traumata, Frauen bilden häufiger eine Belastungsstörung aus. Als Langzeitfolgen einer PTBS werden beschrieben: gestörte Beziehungsfähigkeit, Reviktimisierung (einst Traumatisierte werden häufiger Opfer häuslicher Gewalt), Somatisierung, verstärkte Angsttendenz, feindselige Haltung, Unfähigkeit zum »Lesen« eigener Gefühle, Selbstverletzungen. Als protektive Faktoren gegen Chronifizierung werden u. a. die allgemeine Sicht auf das Leben, »Verstehbarkeit« und »Handhabbarkeit«, also: die Sinnhaftigkeit des Erlebnisses (S. 51) angeführt.

Was Frauen 1945 zustieß, wie sie damit zurande kamen, und »wie viel« jener Traumatisierungen bis heute »weiterwirkt« (S. 54), wird qualitativ mittels eines narrativen Leitfadeninterviews und quantitativ mittels einer modifizierten PTBS-Diagnoseskala (mPDS), dem Peritrauma-Belastungsbogen (PDI) und der Sense of Coherence Scale (SOC–29) untersucht. Die Studie begann im Oktober 2008, 300 Personen meldeten sich auf eine Presseanzeige, 27 Frauen konnten rekrutiert werden, von denen 17 verwitwet, eine geschieden, vier unverheiratet und fünf verheiratet waren. Zur Zeit des Traumas waren die Frauen im Alter zwischen 12 und 26 Jahren. Neben der Traumatisierung durch Vergewaltigung berichteten sie über weitere Traumata: Hunger, Sehen und Erleben von Gewalt gegen andere (Verstümmelungen, Anblick von Leichen), Gefangenschaft, teils Folterungen, bei Flucht und Vertreibung erlebten sie Tod oder Krankheit ihnen Nahestehender. Viele Frauen wurden mehrfach vergewaltigt.

Die Studie zeigt, dass im späteren Leben bei 81% der Frauen der Bereich »Erotik und Sexualität« sowie allgemein Beziehungen zu anderen beeinträchtigt waren. Als Bewältigungsstrategien wurden Verdrängung, über das Erlebte sprechen, Arbeit und Hobbies angeführt. Im Vergleich zu gleichaltrigen nicht traumatisierten Frauen wiesen die Studienteilnehmerinnen eine erhöhte PTBS-Rate auf. Lassen sich diese Ergebnisse verallgemeinern? Die Autoren diskutieren die Grenzen ihrer Studie: Die Stichprobe ist zu gering und ihre Repräsentativität unklar. Sicher melden sich nur bestimmte Frauen auf eine diesbezügliche Presseanzeige, vielleicht vorwiegend solche, »die eher eine schwache bis mittelstarke« (Post-)Traumatisierung erlitten und folglich »eine Konfrontation mit dem Trauma nicht scheuen« (S. 84). Schließlich wird in dieser kleinen, aber verdienstvollen Studie notiert, dass weitere Forschung nötig ist, um u. a. transgenerationelle Effekte von Traumata genauer fassen zu können.

Kai Sammet

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