Rezension zu Das Bild in mir (PDF-E-Book)
ZFG. Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. 61. Jahrgang, Heft 2/2013
Rezension von Katharina Lange
HELGA GOTSCHLICH: Das Bild in mir. Ein Kriegskind folgt den Spuren
seines Vaters. Psychosozial-Verlag, Gießen 2012,439 S.
Die Historikerin Helga Gotschlich legt mit ihrem Buch »Das Bild in
mir« ein alltagsgeschichtliches Zeitzeugnis der
»Kriegskindergeneration« (Geburtsjahrgänge 1930 bis 1945) vor, der
sie selbst angehört. Auf mehr als 400 Seiten, unterteilt in 26
Kapitel, die der persönlichen Geschichte pointiert folgen, erbringt
sie einen Beitrag zur Auseinandersetzung mit dem Thema, der weit
über die Erzählung des eigenen Schicksals hinausgeht. Die Autorin
reflektiert selbst erfahrene Alltagsgeschichte in Kriegs- und
Nachkriegszeiten vor dem Hintergrund einer fundierten
archivarischen Quellenkenntnis und stützt sich darüber hinaus auf
eine Vielzahl tontechnisch aufgezeichneter Gesprächsprotokolle mit
Zeitzeugen. Dabei werden Erinnerungen abgerufen, die bislang im
»Reich des Vergessens« verdrängt waren. Vergangenheit wird in
mikroskopischer Weise plastisch, Geschichtsprozesse und Abläufe
werden mit Fleisch, Blut und Seele erfüllt. Es entstehen Bilder,
die vormalige Kriegskinder in sich tragen, die – so Gotschlich –
nicht wie jene »Feuersbrunst nach dem Dresdner Inferno (Februar
1945) gelöscht wurden«, sondern vielfach im Unterbewusstsein der
damals heranwachsenden Mädchen und Jungen überdauern und »bleiben«
(S. 102).
Durchweg empfindet man beim Lesen des Buches die persönliche
Betroffenheit der Autorin. Die im Stil einer mitreißenden Erzählung
mit zahlreichen Details wiedergegebenen Ereignisse wirken sehr
authentisch. Man riecht förmlich den Angstschweiß der in Panik
geratenen »Kellernotgemeinschaft« wenn plötzlich in jener
Februarnacht 1945 über dem Dresdner Haus die »Geschwaderblöcke mit
ab- und anschwellendem Getöse kreisen" (S. 84). Aus dem Gestammel
des sich sonst wichtig in Szene setzenden Luftschutzwartes spürt
der Leser mit dem damals siebenjährigen Mädchen eine
»angstverzerrte Hoffnung« (S. 85), dass die Gefahr vorübergehen
möge. Im gespenstischen Licht hastet man mit den schattenhaft
wirkenden Gestalten am Elbstrand vorwärts und fühlt mit dem in
höchster Gefahr auf sich selbst zurückgeworfenen Kind. Gerade
angesichts der heute im Barockstil wiedererstrahlenden Prachtbauten
Dresdens, die Geschehenes vergessen lassen könnten, fragt die
Autorin nach dem kleinen Zopfmädchen, der engsten Freundin, die in
dieser Nacht ums Leben kam: „Wer weint denn schon um Annedora?« (S.
93). Nach Gotschlich starben schätzungsweise 70 000 bis 80 000
Kinder während der Luftangriffe auf deutsche Städte. Viele andere
erinnerte Bilder und Szenen sprechen für sich – Ereignisse, die im
täglichen Umfeld der Kriegskinder passierten und sie buchstäblich
überrollten.
Erfahren im Umgang mit Zeitzeugen und mit dem Wissen, dass
Erinnerungen sich in späteren Interpretationen, Meinungen,
Assoziationen und Haltungen ablagern, reflektiert die Autorin immer
wieder auch die eigene Rückblende. Sie ist sich bewusst, dass ihr
Leben durch diese Kindheitserinnerungen geprägt wurde. Mit
intellektueller Distanz ordnet sie diese in den historischen
Kontext ein. Die im Anhang publizierten »Historiographischen
Anmerkungen« präzisieren und erweitern die Aussagen mit Daten und
Fakten. Zitiert werden statistische Erhebungen, nach denen jedes
4./5. deutsche Kind infolge der Kriegsgeschehen ohne Vater blieb.
Die Autorin reflektiert aber ein weitaus umfassenderes und
differenzierteres Bild der Kinder, die in Kriegs- und
Nachkriegszeiten vaterlos aufwuchsen. Dazu rechnet sie
beispielsweise auch Mädchen und Jungen, deren Väter als
Kriegsversehrte nach Hause kamen, die dann aber oft infolge der
physischen und psychischen Verletzungen früh verstorben sind, oder
die Nachkommen der Spätheimkehrer, die zunächst lange Jahre allein
in der mütterlichen Obhut geblieben oder vielfach auch auf sich
selbst gestellt waren; in ihren Familien blieben beim Eintreffen
der Väter Entfremdungsprozesse unüberbrückbar.
Anteil nehmend am dramatischen Verlauf der exemplarischen
Kindheitsgeschichte der Autorin will der Leser dann auch wissen, wo
der im Krieg verschollene Vater geblieben ist. Mit der Tochter
fragt er nach der Persönlichkeit dieses – »Papa Paul« genannten –
Mannes, erfasst die damit angesprochene und vielfältig zu
begreifende Identitätsproblematik vaterloser »Kriegskinder« Das
Resultat der Spurensuche unterstreicht noch einmal die Prägung
durch den Krieg. Die »Desintegration des privaten Zusammenhalts der
Familien« im ersten Nachkriegsjahrzehnt gerät hier in den
besonderen Fokus der Betrachtung. Die Entscheidungssituationen des
»Papa Paul« erscheinen angesichts abrupter Wendungen und Brüche auf
seinem Weg widersprüchlich wie das Leben selbst und führen zu
psychohistorischen Betrachtungen. Sie lassen auf Mechanismen
menschlicher Verhaltensweisen schließen, die nicht zeitgebunden
sind.
Gotschlichs Buch dürfte nicht nur von Historikern mit fachlichem
Gewinn wahrgenommen werden. Die sachbezogene und zugleich
anrührende Geschichtsdarstellung ist einem breiten Leserkreis zu
empfehlen.
Katharina Lange