Rezension zu »Er war halt genialer als die anderen«
Luzifer-Amor. Zeitschrift zur Geschichte der Psychoanalyse. 26. Jahrgang, Heft 51/2013
Rezension von Gerhard Benetka
Peter Dudek: »Er war halt genialer als die anderen«. Biografische
Annäherungen an Siegfried Bernfeld. Gießen (Psychosozial) 2012, 646
Seiten. 59,90 Euro.
Siegfried Bernfelds Affinität zum Wort »Grenze« ist auffallend. Er
verwendet es oft und in verschiedenen Zusammenhängen. Sein
bekanntestes Buch, der Sisyphos, handelt von Grenzen, vor allem von
den durch die gesellschaftlichen Bedingungen begrenzten
Möglichkeiten der Erziehung. In diesem Sinn impliziert die Grenze
eine absolute Trennung: Dahinter gibt es nichts, ist nichts
möglich. Anders verhält es sich, wenn Bernfeld das Wort auf die
Psychoanalyse bezieht. Hier kann er schreiben (1930, S. 109): »Der
Verfasser des ›Sisyphos‹, der ›Psychologie des Säuglings‹, der
›Heutigen Psychologie der Pubertät‹ bekennt gerne, dass er versucht
hat, die Grenzen der Psychoanalyse durch Sprünge über jene
Schranken zu ermitteln, die ihr die Tradition setzt. Sei es, dass
seine Sprungkraft zu klein ist, sei es, dass die Grenzen zu fern
sind, er fühlte sich nirgends auf fremdem Gebiet.«
Sein Lebenslauf liest sich entsprechend: Der am 7. Mai 1892 in
Lemberg geborene Siegfried Bernfeld, der nach Abschluss seiner
Gymnasialstudien in Wien an den Universitäten Wien und Freiburg
Pädagogik und Zoologie studiert hatte, wird zeit seines Lebens ein
Suchender bleiben, gleichermaßen getrieben von Wissbegier wie – in
den Jahren vor seiner Emigration – von Empörung gegen die
Ungerechtigkeit der herrschenden Klassengesellschaft. Vom führenden
Aktivisten der Jugendkulturbewegung zum kämpferischen Zionisten,
vom Leiter des nachmals legendären Erziehungsexperiments
»Kinderheim Baumgarten« zum Sekretär Martin Bubers, aus
bürgerlichem Elternhaus, aber stets in prekären Lebensverhältnissen
– Bernfeld hat sich in vielem schon versucht und dabei vieles
erfahren, als er sich, noch keine 30 Jahre alt, als Nichtarzt in
freier Praxis als Psychoanalytiker niederlässt, wobei er von Freud
nicht nur ermutigt, sondern ganz praktisch unterstützt wurde (siehe
Freud 2012).
Trotz lebenslanger Skepsis gegenüber der Verschulung der Ausbildung
engagiert sich Bernfeld in den Einrichtungen der psychoanalytischen
Bewegung in Wien und dann ab 1925 in Berlin gerade auch in der
Lehre, vor allem in Kursen zur außertherapeutischen
psychoanalytischen Fortbildung von Lehrern. Als seine zweite Ehe
mit der Schauspielerin Elisabeth Neumann scheitert, kehrt er nach
Wien zurück. Im September 1934 geht er – Österreich ist damals
schon längst kein demokratisches Land mehr – nach Menton in
Südfrankreich. Nachdem seine Aufenthaltsgenehmigung abgelaufen war,
emigriert Bernfeld schließlich über London 1937 in die USA, wo er
bis zu seinem Tod im Jahr 1953 in San Francisco leben wird.
Gleich in mehrerer Hinsicht hat Bernfeld mit seinen
wissenschaftlichen Arbeiten über knapp 40 Jahre hinweg die Grenzen
der Psychoanalyse zu erweitern versucht: Er schreibt unzählige
Arbeiten zur Psychologie des Kindes- und Jugendalters, gilt den
Zeitgenossen als ein Pionier der psychoanalytischen Pädagogik und
Theoretiker der sozialistischen Erziehung, er verfasst einen
Drehbuchentwurf zur Verfilmung der Psychoanalyse, sucht in Berlin
und Wien die Auseinandersetzung mit akademischen Psychologen, wird
Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Psychologie und – eine
seltene Ausnahme unter den Psychoanalytikern – publiziert Arbeiten
in Fachzeitschriften und Schriftenreihen der universitären
Psychologie. Mit seinem Begriff des »sozialen Orts« versucht der
unorthodoxe Marxist die Psychoanalyse in Richtung Soziologie zu
öffnen, während er zur selben Zeit sein Projekt der Libidometrie
als Beitrag zu einer streng naturwissenschaftlichen Psychologie in
den Kontext der »Einheitswissenschaft« im Sinne der Logischen
Positivisten stellt. Noch gegen Ende seines Lebens versucht
Bernfeld Neues: Der europäischen Wurzeln seines Denkens versichert
er sich, indem er – gemeinsam mit seiner dritten Ehefrau, Suzanne
Cassirer-Paret – biografische Forschungen über Kindheit, Jugend und
die wissenschaftlichen Anfänge Sigmund Freuds aufnimmt.
Der Erziehungswissenschaftler und durch zahlreiche Publikationen
zur Wissenschaftsgeschichte der Pädagogik bzw. zur Sozialgeschichte
von Bildung und Erziehung ausgewiesene Experte Peter Dudek hat
Leben und Werk Siegfried Bernfelds in seiner umfangreichen
Biografie dokumentiert. Wer in Zukunft über Bernfeld forschen und
schreiben will, wird von dem hier zusammengetragenen Material
ausgehen müssen. Allzu viel Neues wird sich nicht mehr finden
lassen – so gründlich ist Dudek den Spuren, die Bernfeld in
Archiven, Büchern und Zeitschriften hinterlassen hat, nachgegangen.
Dem Willen zur Vollständigkeit fällt allerdings die Geschlossenheit
der Darstellung zum Opfer. Letztlich gelingt es dem Autor nicht,
die Fülle seines Stoffes literarisch zu bewältigen. »Es sind
Mosaiksteine oder wenn man will, Teile eines unvollendeten Puzzles«
schreibt Dudek (S. 108) zur Einleitung eines Kapitels, in dem er in
Zitaten Erinnerungen von Zeitgenossen aneinanderreiht. Der Satz
charakterisiert sein ganzes Buch. Was Dudek fehlt, ist der Mut zur
knappen Zusammenfassung, die Kühnheit, die Biografie in einem Bogen
durchzuzeichnen. So droht die Lektüre mühselig, ja langweilig zu
werden, obwohl das, wovon im Text erzählt wird, alles andere als
langweilig ist.
Störend ist der kleinliche Ton, der sich gelegentlich einschleicht,
vor allem dann, wenn Dudek sich von Vorläufer-Projekten abgrenzen
will (z.B. S. 24, 424). Wer nicht müde wird, auf die Fehler anderer
hinzuweisen, darf sich nicht verwundern, wenn ihm die eigenen
vorgehalten werden. Und deren gibt es einige: Der für die
Geschichte der Psychologie so bedeutsame Ebbinghaus heißt nicht
Hans, sondern Hermann (S. 72); das Geburtsjahr von Charlotte Bühler
ist 1893, nicht 1883 (S. 98); der Geschäftsführende Präsident des
Stadtschulrats für Wien vermag vieles zu bewirken, aber sicher
keine ordentlichen Universitätsprofessoren zu ernennen (S. 131);
etc. Schwerer als solche Details wiegt, dass Dudek nicht immer das
Ausmaß seiner Verpflichtung gegenüber der früheren Literatur
kenntlich macht; man merkt das naturgemäß am meisten, wenn man
selbst der Betroffene ist (vgl. etwa S. 505–510 mit Benetka
1992).
Diese Art von Ungenauigkeit ist deshalb schade, weil Dudek sie
eigentlich nicht notwendig hat. Sein Buch birgt viel Neues und
bisher Unbekanntes. Und sicher hat er darin recht, dass man
Bernfeld mit großem Gewinn auch anders als »aus dem Blickwinkel des
psychoanalytischen Kreises um Freud« (S. 27) betrachten kann – z.
B., wie Dudek selbst es tut, mehr aus der Perspektive der
Geschichte der Pädagogik.
Gerhard Benetka (Wien)
Literatur:
Benetka, G. (1992): Psychoanalyse und akademische Psychologie. In:
Fallend, K. u. Reichmayr, J. (Hg.): Siegfried Bernfeld oder Die
Grenzen der Psychoanalyse. Materialien zu Leben und Werk. Frankfurt
a. M. (Stroemfeld/Nexus): 222–263.
Bernfeld, S. (1930): »Neuer Geist« contra »Nihilismus«. Die
Psychologie und ihr Publikum. Psychoanal. Bewegung, 2:105–122.
Freud, S. (2012): Briefe an Siegfried Bernfeld (1921–1936), hg. von
A. Peglau und M. Schröter. Luzifer-Amor, 25 (50): 112–121.