Rezension zu Freud lesen

Luzifer-Amor. Zeitschrift zur Geschichte der Psychoanalyse. 26. Jahrgang, Heft 51/2013

Rezension von Karla Lessmann

Jean-Michel Quinodoz: Freud lesen. Eine chronologische Entdeckungsreise durch sein Werk. Aus dem Französischen von Petra Willim. Gießen (Psychosozial) 2011, 477 Seiten. 39,90 Euro.

Als ich Jean-Michel Quinodoz 2006 auf einer Meet-the-author-Veranstaltung in Athen traf, erläuterte er die Motive, die ihn bewogen hatten, Lire Freud zu schreiben: Er malte einen großen liegenden Baum auf ein Flipchart. Der Stamm, so erläuterte er, stelle Freuds Werk dar, die von ihm entwickelte Wissenschaft vom Unbewussten, die Psychoanalyse. Die kräftigen und kleineren Äste des Baumes entsprächen den jeweiligen Weiterentwicklungen. Wenn die Psychoanalyse den substanziellen Kontakt zu ihrem Stamm, ja ihren Wurzeln verliere, sei sie von der Gefahr der Zersplitterung bedroht, formulierte er eine Befürchtung, die viele von uns teilten. – Nun, fünf Jahre später, liegt die vorzüglich übersetzte deutsche Fassung des Buches vor.

Zum Auftakt sagt Quinodoz: »Es gibt verschiedene Möglichkeiten, Freud zu lesen; jede hat ihre Vor- und Nachteile, doch sie ergänzen sich. Man kann für seine Freud-Lektüre einzelne Schwerpunkte setzen, indem man sozusagen ›à la carte‹ einen Aufsatz oder ein Buch auswählt oder sich ein Thema und die dafür relevanten Werke herausgreift.« Er lässt anklingen, dass sich Freuds Schriften durchaus für eine »talmudische« Lektüre eignen – um dann jedoch für eine chronologische Lektüre der Hauptwerke einzutreten. Um es gleich vorneweg zu sagen: In meinen Augen ist es ihm gut gelungen, dem heute eher üblichen »à la carte«-Lesen seine Alternative entgegenzustellen, indem er Freuds Werk sozusagen von A bis Z und ergänzend die Entwicklungen und Weiterentwicklungen der Hypothesen verständlich aufbereitet. Das Ergebnis liest sich erstaunlich leicht, oft spannend.

Zunächst erzählt der Autor, dass das Buch aus einer langjährigen Zusammenarbeit in Seminaren mit AusbildungskandidatInnen des Centre de psychanalyse Raymond de Saussure in Genf hervorgegangen ist. Die Seminarstruktur war jeweils verbindlich auf 3 Jahre angelegt und dementsprechend Freuds Werk in drei große Abschnitte aufgeteilt: I. Die Entdeckung der Psychoanalyse (1895–1910), II. Die Jahre der Reife (1911–1920), III. Neue Perspektiven (1920–1939). Ergänzend zu den Arbeiten Freuds hat Quinodoz zudem Rubriken eingefügt, die er zur besseren Orientierung je nach Inhalt farbig bzw. in der deutschen Ausgabe in verschiedenen Grauabstufungen unterlegte. Die Rubrik »Biographie und Geschichte« bettet das jeweilige Werk in Freuds Lebensgeschichte ein. Unter »Postfreudianer« wird die Weiterentwicklung der Erkenntnisse gleich den Ästen und Zweigen in der heutigen Psychoanalyse verfolgt. Um die Fülle der Ideen- und Erkenntnisentwicklung dynamisch greifbar und in ihrer Entwicklung nachvollziehbar zu machen, wird jedes Kapitel durch eine »Chronologie der Freud’schen Begriffe« ergänzt, d.h. durch eine Liste der im jeweiligen Werk zentralen Begriffe, und in einigen Abschnitten wird unter der Überschrift »Diachrone Entwicklung der Freud’schen Begriffe« deren Weiterentwicklung bei Freud über seine gesamte Schaffenszeit verfolgt, z.B. die des Begriffs »Ödipuskomplex«. Quinodoz will also Freuds Werk sowohl inhaltlich als auch strukturell beschreiben: ein ehrgeiziges Projekt.

Hier ein sehr gekürztes Beispiel, um die Systematik des Buchs vor Augen zu führen: Den dritten Abschnitt über »Neue Perspektiven« eröffnet der Autor mit Jenseits des Lustprinzips von 1920. Er titelt: »Die Wende der 20er Jahre im Denken Freuds«. Bis dahin hatte Freud sich am Modell des Lust-Unlust-Prinzips orientiert, wie er es bei den Neurosen beobachten konnte. Nun fragt er immer differenzierter nach den Hintergründen spezieller Widerstände, gar des Scheiterns mancher seiner Analysen. Er findet die Antwort im Wiederholungszwang, dessen verschiedene Formen er ausarbeitet. Das bringt ihn zur Aufstellung eines »Todes-« oder »Destruktionstriebs« als Gegenspieler des Lebenstriebs, des Eros. Quinodoz wirft dann einen Blick über die Wende von 1920 hinaus auf die zweite Topik von Ich, Es und Über-Ich, die sich 1923 mit der neuen Triebtheorie verbinden wird. Anschließend an diese abrissartige Darstellung der Kerngedanken des Jenseits fügt er unter der Rubrik »Biographie und Geschichte« Gedanken zum »Schatten des Todes über Freud« und zur »zweiten Triebtheorie« an. Dann geht es, wie in jedem Kapitel, zur »Erkundung des Werkes«, wobei Freuds Kapiteleinteilung übernommen wird: »Das Lustprinzip und seine Grenzen«; »Traumatische Neurose und Kinderspiel: Zwei Quellen der Wiederholung«; »Wiederholungszwang und Übertragung«; »Die Rolle des Reizschutzes: den traumatischen Durchbruch bewältigen«; »Das Ziel alles Lebens ist der Tod«; »Hat der Dualismus zwischen Lebens- und Todestrieb Entsprechungen?«; »Ein Paradox: Das Lustprinzip im Dienste des Todestriebes«. Es folgen die Abschnitte »Diachrone Entwicklung der Freud’schen Begriffe« mit dem Untertitel »Ergänzungen Freuds nach 1920 zum Konflikt zwischen Lebens- und Todestrieb« und »Postfreudianer«, in dem es um Fragestellungen geht, die ebenfalls in den Titeln der Unterkapitel formuliert werden: »Warum sträuben sich die Psychoanalytiker so sehr gegen die Annahme des Todestriebs?«; »Der Triebdualismus in der kleinianischen Technik und Der Todestrieb heute: Eine Vielzahl unterschiedlicher Standpunkte« und »Die Apoptose: Ein biologisches Regulationsmodell«. Beendet wird das Kapitel wie alle anderen mit dem Abschnitt »Chronologie der Freud’schen Begriffe«.
Zum Ausklang seines Buchs fragt Quinodoz: »Freud lesen – heute?« und lässt Freud antworten: »Man versteht die Psychoanalyse immer noch am besten, wenn man ihre Entstehung und ihre Entwicklung verfolgt.« Er fragt dann weiter: »Ist Freud heute noch aktuell? Haben seine Gedanken ihren allgemeinen Wert bewahrt? Und die therapeutische Methode, die aus ihm folgt, die psychoanalytische Behandlung – welchen Platz hat sie in unserer Zeit?« Seine Antwort in diesem Buch zeigt, wie kraftvoll und lebendig Freuds Gedanken heute noch sind und welches schier unerschöpfliche Potenzial zur Weiterentwicklung sie bieten.
Am Ende sei eine Kritik gestattet: Die sehr systematische Darstellung ist ein Verdienst des Buches, aber auch seine Schwäche. Das Ringen, das in Freuds Schriften so spürbar ist, kommt so, wohl unvermeidlich, geglättet daher. Aber das wiederum führt glücklicherweise dazu, dass sich, um im Duktus zu bleiben, immer mehr Appetit auf Freud im Original entwickelt.

Karla Lessmann (Frankfurt a. M.)

(Wer sich noch mehr in Freuds Werke vertiefen möchte, speziell unter dem Aspekt der Weiterentwicklung seiner Gedanken in der zeitgenössischen britischen und französischen Literatur, der sei auf ein bislang nur auf Englisch erschienenes Buch von Rosine J. Perelberg: Freud – a Modern Reader (2005) hingewiesen. Dieses Buch trägt sowohl dem Wunsch nach Chronologie als auch der Möglichkeit des »talmudischen« Studiums Rechnung.)

zurück zum Titel