Rezension zu Scham
Neues Deutschland, Beilage zur Leipziger Buchmesse, 14. bis 17. März 2013
Rezension von Houssam Hamade
Ohne die Anderen kein Selbst
Psychologie und Sozialisierung
Man könnte die Psychologie als Feind linker und sozialistischer
Erklärungen ansehen. Psychologische Ansätze neigen zur
Subjektzentriertheit. Das heißt, dass auch die Probleme des
Einzelnen vom Einzelnen gelöst werden sollen, während die linke
Perspektive meint, man müsse gemeinsam lösen, was gemeinsam
verursacht wurde. Dass Psychologie aber nicht unbedingt so
einseitig sein muss, zeigt ein Buch über »Die Bedeutung der Scham«
in der Psychologie, von Jens L. Tiedemann: Insgesamt sei die Scham
bisher von der psychologischen Forschung vernachlässigt worden, was
sich aber in den letzten Jahren änderte.
Tiedemann weist nach, dass Scham bei einer ganzen Reihe von
Krankheitsbildern eine entscheidende Rolle spielt. Subjektiv fühle
sich Scham an wie ein Bloßstellen, das uns defizitär und
minderwertig erscheinen lässt. Um sich als minderwertig bewertet zu
fühlen, braucht es aber ein wirkliches oder verinnerlichtes
Gegenüber. Das ungeheuer starke Gefühl der Abwertung kann zu
heftigen Selbstzweifeln, dem Wunsch nach Unsichtbarkeit und sogar
zum Wunsch der »Zerstörung aller anderen« führen. Scham sei auch
ein »Damm gegen das instinkthafte Leben«. Der Kampf des Über-Ich
gegen das Es. Und da Scham »ansteckend« sei, müssten sich auch
Psychotherapeuten klar machen, wie wesentlich der Alltag der
Therapie beeinflusst ist durch Scham und Fremdscham.
Was sich dabei herausschält ist eine Änderung der Perspektive:
Kein, Gefühl sei dem Selbst und dem eigenen Ich so nahe wie die
Scham. Und da die Scham nicht im Individuum entsteht, sondern im
sozialen Kontext, heißt das, dass sich das Selbst ohne den Anderen
nicht adäquat verstehen lässt. Der »Schlüssel-Affekt« der Scham
basiert auf Bewertungen durch andere. Wenn man das weiterdenkt,
muss man feststellen, dass gesellschaftliche Strukturen und
Umstände eine entscheidende Rolle für das Selbst spielen.
Gleichzeitig zeigt das Beispiel der Scham auch, dass sich das
Verhalten des Individuums nicht ausschließlich über die soziale
Struktur erklären lässt, denn wofür der eine sich schämt, das lässt
den anderen zuweilen kalt.
Houssam Hamade
Jens L. Tiedemann: Scham. Psychosozial-Verlag. 144 S. br.,
16,90€.