Rezension zu Der »Märchenprinz«
Main Post (Franken)
Rezension von Roland Flade
Dankesworte für Auschwitz-Arzt
Ulrich Völkleins kontroverses Buch über den SS-Mann Eduard
Wirths
WÜRZBURG Kann ein SS-Mann, der nachweislich im Vernichtungslager
Auschwitz unzählige Menschen in die Gaskammern geschickt hat,
Gegenstand einer sympathisierenden Untersuchung sein? Der Autor
Ulrich Völklein sagt ja; er hat jetzt ein solches Buch über Eduard
Wirths, den Standortarzt von Auschwitz, geschrieben.
Das Werk »Der ›Märchenprinz‹« des 1949 geborenen Ex-,»Stern»- und
»Zeit«-Redakteurs ist in doppelter Hinsicht erstaunlich. Eduard
Wirths, der ebenso wie Völklein in dem Dorf Geroldhausen im
Landkreis Würzburg aufwuchs, tauchte schon 2001 in Völkleins Buch
»Der Judenacker« auf, damals allerdings noch als Täter, der »in
Auschwitz keinen Widerstand« leistete und »vollständig in der
Vernichtungslogik des Systems« eingebunden blieb.
Der Untertitel von Völkleins neuem Buch lautet dagegen »Vom
Mitläufer zum Widerstand«, was die ursprüngliche Einschätzung
doppelt verneint, denn als Mitläufer galten nach dem Ende des
Dritten Reiches Menschen, die keine wirkliche Schuld auf sich
geladen hatten, und als Widerständler solche, die sich dem
NS-Regime mutig verweigerten.
Dass beides für Wirths nicht uneingeschränkt zutrifft, ist auch in
der medizinhistorischen Doktorarbeit von Konrad Beischl über den
Arzt und SS-Mann nachzulesen, die 2005 bei Königshausen & Neumann
erschienen ist.
Wie er zu seiner spektakulären Neueinschätzung von Wirths kam, der
1945 im Alter von 36 Jahren Selbstmord beging, erläuterte Ulrich
Völklein bei einer Veranstaltung in Geroldshausen. Nach der
Veröffentlichung des »Judenackers« traten mehrere Mitglieder der
Familie Wirths – dessen Bruder, seine Witwe und der Sohn – an den
Autor heran und übergaben ihm umfangreiches Dokumentenmaterial über
Wirths – darunter zahlreiche Briefe, die Auschwitz-Überlebende der
Familie nach 1945 geschrieben hatten.
Aus diesen Briefen und Aussagen von ehemaligen KZ-Häftlingen ergab
sich für Völklein ein differenziertes Bild jenes Mannes, den er
eben noch hart kritisiert hatte. So fand er etwa ein Dankschreiben,
das Auschwitz-Häftlinge Wirths im Dezember 1943 überreichten: »Sie
haben hier im vergangenen Jahr 93 000 Menschen das Leben bewahrt«,
stand darin. Und weiter: »So wünschen wir uns, dass sie im
kommenden Jahr hier bleiben.«
Tatsächlich nahm Wirths zwar unter heftigen Gewissensqualen an den
»Selektionen« teil und führte auch umstrittene medizinische
Versuche durch, doch gelang es ihm, die Zahl jener Häftlinge, die
als Arbeitssklaven (zunächst) am Leben bleiben dürften, deutlich zu
erhöhen. Daraus und aus der von Wirths eingeleiteten
Seuchenbekämpfung unter den Häftlingen errechneten diese die in dem
Schreiben von 1943 genannte Zahl der von Wirths vor der Gaskammer
Geretteten.
Unzweifelhaft ist auch, dass Wirths Eingreifen dazu führte, dass
weniger Menschen durch willkürliche Erschießungsaktionen und
Giftspritzen ermordet wurden und dass er enge Kontakte zur
Widerstandsbewegung im Lager pflegte, der unter anderem der spätere
polnische Ministerpräsident Jozef Cyrankiewicz angehörte.
Schließlich sorgte er dafür, dass bei der Evakuierung des Lagers
die zurückbleibenden Kranken von den Deutschen nicht erschossen
wurden.
»Beispiellos« nannte Völklein vor etwa 60 Zuhörern in Geroldshausen
die Pro-Wirths-Zeugnisse. So etwas gebe es über keinen anderen
Menschen, der in einem KZ eine Führungsposition hatte. Zum Schluss
brachten diese Aussagen Völklein dazu, dem Auschwitz-Überlebenden
und Wirths-Vertrauten Karl Lill zuzustimmen, der 1970 über den
Standortarzt schrieb: »Er erlitt das Verbrechen, stemmte sich mit
Riesenkraft dagegen. Ausweg, glaube ich, sah er keinen. Da war wohl
nicht mehr drin, als er tat.«
Die Zuhörer im Geroldshäuser Gasthaus »Zur Eisenbahn« waren in zwei
Lager gespalten. Eine Minderheit wunderte sich über Völkleins
mildere Sicht der Dinge, während die meisten sich über die
Ausgewogenheit bei der Beurteilung eines Menschen freuten, der »in
die Hölle von Auschwitz ohne eigenes Zutun geworfen wurde«
(Völklein).