Rezension zu Psychodynamische Beratung in pädagogischen Handlungsfeldern (PDF-E-Book)

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Rezension von Prof. Dr. Manfred Gerspach

Heike Schnoor: Psychodynamische Beratung in pädagogischen Handlungsfeldern

Thema
Beratung ist eine Dienstleistung, die auch in pädagogischen Handlungsfeldern – so in der Erziehungsberatung, der Kita-Fachberatung, kollegialen Fallberatungen und Weiterbildungsangeboten – an praktischer Relevanz gewinnt. Nicht zuletzt durch den gesellschaftlichen Wandel bedingt, der krisenhafte Veränderungen in der psychosozialen Verfasstheit der Subjekte bewirkt hat, erhöht sich das persönliche Risiko, in eine prekäre Lebenslage abzurutschen. Als Reaktion auf diese oftmals dramatisch anmutende Entwicklung hat sich die Beratungsprofession zunehmend profiliert. Neben Bilden und Organisieren kommt ihr inzwischen eine herausragende Aufgabe zu. Hier nun wird eine dezidiert psychodynamisch ausgerichtete Perspektive vorgestellt, die mit ihrer erweiterten Problemwahrnehmung auch unbewusst wirkender Einflussfaktoren dem Mangel einer zu kurz greifenden funktionalistischen Herangehensweise abhilft.

Aufbau und Inhalt
Im ersten Abschnitt werden allgemeine Aspekte beleuchtet, was in eine Darlegung und Diskussion der Unterschiede von Psychotherapie und Beratung einmündet. Selbstredend ist durch den Bezug auf die Psychoanalyse die Nähe zu psychotherapeutischen Interventionsangeboten stets präsent. Allerdings wird sehr pointiert und überzeugend das Vorurteil von Beratung als einer »kleinen« Psychotherapie entkräftet. So verstandene Beratung steht für eine Hilfeform mit einem eigenständigen Profil, zudem eher sozialwissenschaftlich und interdisziplinär als klinisch ausgerichtet. Im Schnittfeld zwischen einem psychoanalytischen Heilungsanspruch und einem pädagogischen Bildungs- bzw. sozialwissenschaftlichen Hilfediskurs wird das sozialkritische und aufklärerische Potential der Psychoanalyse genutzt, welches in der im Gesundheitswesen verorteten klinischen Psychotherapie weitgehend suspendiert worden ist. Neben der Erörterung der tiefenpsychologischen Identität von Beratung im Beitrag von Volger werden bei Finger-Trescher die Wirkfaktoren der psychosozialen Beratung sichtbar gemacht, gefolgt von der Indikationsstellung für Beratung (Grimmer), der Bedeutung der intuitiven Wahrnehmung des Beraters (Schmerfeld) und jener des szenischen Verstehens für den Beratungsprozess (Schnoor).

In einem sich anschließenden zweiten Abschnitt geht es um die Beratung in unmittelbar pädagogischen Handlungsfeldern. Lehner beschreibt das Konzept der mobilen Fachberatung für Kindertagesstätten, Wolff die Erfahrungen mit dem Präventionsprojekt Starthilfe, Datler und Fürstaller sowie Datler, Funder und Hover-Reisner ein spezifisches Weiterbildungskonzept zur professionellen Gestaltung der Eingewöhnung von Kleinkindern in eine Kinderkrippe, einschließlich der dabei auftretenden inneren Widerstände, institutionellen Abwehraktivitäten und deren Bearbeitung. Der nachfolgende Test von Steinhardt und Sengschmied zeigt auf, wie das Erlebbarmachen der damit verbundenen Gefühle das Verstehen von und den Umgang mit diesen Widerständen ermöglicht.

Im dritten Abschnitt stehen Felder der Kinder- und Jugendhilfe im Mittelpunkt der Betrachtungen. Krebs beginnt mit einer Erörterung von Scham- und Schuldkonflikten in der Erziehungsberatung. Merbach folgt mit einer Auseinandersetzung über Beratung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Danach gewähren uns Förster-Chanda und Kolleg/innen einen differenzierten Einblick in die psychosoziale Beratung von Schulmüden im Rahmen einer Berufsbildungsmaßnahme. Schließlich wird uns von West-Leuer und Kolleg/innen ein psychodynamisches Coaching langzeitarbeitsloser Jugendlicher im Kontext eines Theaterprojekts vorgestellt.

Den Abschluss bildet das Handlungsfeld Schule. Weber präsentiert uns ein auf insbesondere Lacan basierendes Konzept der Lehrerausbildung in Luxemburg, in welchem über die Betonung reflexiver Kompetenzen die angehenden Lehrer/innen unterstützt werden. Graf-Deserno schließt mit einer Thematisierung von kollegialer Fallberatung in Schulen zur Stärkung der Mentalisierungsfähigkeit der Pädagog/innen.

Diskussion
Pädagogisches Handeln unterliegt nach Datler einem komplexen Zusammenspiel von sensorischen Wahrnehmungen, Affekten und kognitiven Prozessen, die uns bewusst und unbewusst permanent veranlassen, Entscheidungen zu treffen. Zur Unterstützung der jeweils angemessenen Entscheidungen, so könnte man jetzt fortfahren, bedarf es der Beratung. Allgemein lässt sich daher sagen, dass Beratungsangebote ein Setting schaffen, um einer spezifischen Klientel im Umgang mit ihren je eigenen Problemlagen eine effektive Hilfe zukommen zu lassen. Darüber hinaus aber werden uns diese Angebote hier nahe gebracht als ein ständiger Wechsel der Aufmerksamkeit zwischen Selbstwahrnehmung, Fremdwahrnehmung und Denken. Die Klienten verwickeln ihre Berater in typische Szenen, die vom Wiederholungszwang geprägt sind und auf Momente unbewältigter, aber in ihrer Dynamik unbewusst bleibender Lebensgeschichte verweisen. Wird dieser Hintergrund verstanden, bietet sich dem Berater die Möglichkeit, diese Szenen selbst zum Gegenstand des Beratungsprozesses zu machen.

Hilfreich ist, dass auch die institutionellen Rahmenbedingungen der pädagogischen Praxis in den Fokus geraten. So muss die Frage beantwortet werden, wie die professionell Tätigen in den Institutionen z.B. kindliche Vernachlässigungen auffangen können, anstatt sie zu wiederholen. Schwierige Kinder sind ja meist schwer auszuhaltende Kinder, und es bedarf genügender Unterstützung, um nicht aus dem Gefühl von Ohnmacht und Überforderung zu einer weiteren Traumatisierung beizutragen. Wobei vielleicht einzuwenden wäre, dass an einigen Stellen die institutionellen Voraussetzungen für die Ausgestaltung einer förderlichen Praxis eher schwach zu erkennen sind. Die Diskussion über die institutionelle Optimalenstrukturierung könnte noch schärfer konturiert geführt werden, um dezidiert die Grenzen des pädagogisch Machbaren unter unzureichenden äußeren Arbeitsbedingungen zu markieren. Beratung kann mitunter Miseren nur aufzeigen, sie aber nicht lösen. So gibt es klar erkennbare Grenzen in der Arbeit mit Klienten mit schweren ich-strukturellen Defiziten. Zwar lässt sich die Verzahnung von Psychodynamik und Soziodynamik aufdecken, damit aber ist keinesfalls gesichert, dass sich Lösungen persönlicher Dilemmata finden lassen. Am Beispiel des Übergangs lern- und leistungsschwacher Schüler in den Beruf wird offenbar, dass drei Viertel der Schüler ohne und die Hälfte der Schüler mit Hauptschulabschluss keinen regulären Ausbildungsplatz finden und dass nur etwa einem Drittel der Förderschüler nach Verlassen der Schule der Weg in die Ausbildung gelingt, bei einem Viertel die Chancen als unsicher und bei zwei Fünfteln als gescheitert betrachtet werden müssen. Gleichzeitig besteht ein enger Zusammenhang von sozialer Randständigkeit und dem Auftreten von psychischen und Verhaltensauffälligkeiten. Beratung kann hier nur bedingt das weitere soziale Abgleiten vermeiden helfen.

Erfreulich ist indessen die Offenheit im Umgang mit den erörterten Themen. So wird bei der Eingewöhnung von Kleinkindern in die Krippe dieser Begriff gegenüber dem faktischen Problem, allmorgendlich eine schmerzliche Trennung zu verarbeiten, als nachgeordnet deutlich gemacht. An anderer Stelle wird der prinzipielle Unterschied von Vertrag und Arbeits- bzw. Beratungsbündnis herausgestellt. Explizite Vereinbarungen über Ziele und Inhalte sind zwar unverzichtbar. Aber erst die Befassung mit jenen auftauchenden Affekten, die zu bewussten, vor allem aber unbewussten Aktivitäten führen, welche den getroffenen Abreden entgegenstehen, lässt den Beratungsprozess glücken. Der Band befasst sich sehr eingehend mit der Konfrontation mit solchen Affekten wie Schmerz, Kummer, Angst oder Wut und zeigt beredt und an Hand zahlreicher praktischer Beispiele auf, wie die Arbeit an der Abwehr und den unbewussten Widerständen nicht nur notwendig, sondern auch gewinnbringend im Sinne der Erkenntnisbereicherung und Verbesserung der professionellen Identität ist. Durch die Bereitstellung eines psychischen und sozialen Raums im Beratungssetting wird dieser Zugewinn ermöglicht. So wird der unsäglichen und weit verbreiteten Attitüde, sich einer bis zur Unberührtheit kontrollierten bzw. distanzierten Haltung zu bedienen, ein anderes Selbstverständnis entgegengesetzt, das frei ist von der Befürchtung vor Beschämung und Bloßstellung.

Fazit
Der Band gewährt einen sehr praxisnahen und sorgfältig aufbereiteten Einblick in pädagogische Beratungssituationen und stellt über die Hinzuziehung der psychodynamischen Tiefendimension eine wesentliche Bereicherung der gängigen Angebote sicher. Mit ihrer Unterstützung kann sich eine Fähigkeit entfalten, den Spannungen im Praxisfeld besser standzuhalten, Situationen auf sich wirken zu lassen, ohne sich vorschnell einem manischen Handlungsdruck auszuliefern und also mit dem Unfassbaren, dem Nicht-Wissen, gekonnt umzugehen. Sinnverstehen wird auf diesem Wege zur pädagogischen Basiskompetenz. Indem Konflikte im Praxisfeld einerseits, bei den Klienten und am Ende bei sich selbst nicht mehr unbegriffen bleiben und also ein hohes Erregungsniveau mit Ärgerlichkeit, Angst und inadäquaten Deutungen der erfahrenen Situationen erzeugen, entsteht eine grundständige Qualifikation zur Symbolisierung und Mentalisierung, darin eingeschlossen das Vermögen, jetzt tragfähige pädagogische Kompromisse zu finden. Beratung wird dergestalt sichtbar als die Klammer zwischen erlebter und gelebter Praxis und wissenschaftlich orientierter Theoriebildung.

Rezensent
Prof. Dr. Manfred Gerspach
Hochschule Darmstadt, FB Gesellschaftswissenschaften und Soziale Arbeit
Schwerpunkte: Behinderten- und Heilpädagogik, Psychoanalytische Pädagogik, integrative Pädagogik, Elementarpädagogik sowie die Arbeit mit so genannten verhaltensauffälligen Kindern.

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