Rezension zu Brennende Zeiten (PDF-E-Book)
Dr. med. Mabuse Nr. 202 März/April 2013
Rezension von Gerhard Bliersbach
Dr. med. Mabuse Nr. 2O2 März/April 2013
Thomas Auchter, Brennende Zeiten
»Die Stimme des Intellekts ist leise, aber sie ruht nicht, bis sie
sich Gehör verschafft hat« schrieb 1927 zuversichtlich Sigmund
Freud in seiner Arbeit »Die Zukunft einer Illusion«. Es ist die
Frage, ob Freuds Optimismus heute noch eine realistische
Einschätzung darstellt. Thomas Auchter, der in eigener Praxis
niedergelassene Psychoanalytiker, hat mit seiner Publikation
zumindest seine Besorgnis vorgebracht. So lautet der Subtext seiner
Aufsätze-Sammlung: Ist das selbstreflexive psychoanalytische
Verfahren mit seiner Zeitlupenartigen Nachdenklichkeit und seiner
Rekonstruktionsversuche von Entwicklungsprozessen für unsere
drängenden, brennenden gesellschaftlichen Konfliktlagen noch
angemessen? Thomas Auchter, der sein 40-jähriges Berufsleben
bilanziert, bejaht diese Frage. Für ihn ist die Psychoanalyse
sowohl ein wirksames psychotherapeutisches Verfahren für die
Klärung gravierender individueller Lebensschwierigkeiten als auch
ein einflussreiches kulturkritisches Verfahren zur Aufklärung über
die psychosozialen Lebensbedingungen.
Thomas Auchter erläutert den Erkenntnisgewinn des
psychoanalytischen Verfahrens anhand einer Reihe von Konfliktlagen:
Er kritisiert etwa die in unserem Gesundheitssystem herrschende
Ideologie von Beschleunigung und Verdichtung der
Behandlungsprozesse zugunsten rascher Veränderungen, deren
Nachhaltigkeit sehr fraglich ist. In dem Kapitel »Denk ich an
Deutschland« beschreibt er die transgenerationale Weitergabe der
Beschädigungen deutscher Großeltern an ihre Enkel. Den destruktiven
Folgen dysfunktionaler Sozialisationsbedingungen – wozu die
Prozesse der tiefen Beschämung durch Armut gehören – geht er in den
Kapiteln »Kindheit, Jugend, Gesellschaft und Gewalt« und »Vom
Narzissmus zum Fundamentalismus« im Hinblick auf die Entstehung von
Hass und Gewalt nach. »Wenn meine Hypothese zutreffend ist«, führt
der Autor aus, »dass die terroristische Gewalt vor allem ein
unbewusster Versuch ist, eine individuelle und/oder kollektive
narzisstische Persönlichkeitsproblematik zu lösen, also in einer
Form des ›pathologischen Narzissmus‹ wurzelt, dann müssen alle
Ansätze zu einer Überwindung im Zusammenhang mit der Entwicklung
und Förderung eines ›gesunden Narzissmus‹ gesehen werden«.
»Vorurteil, Rassismus und Antisemitismus« versteht er als kollektiv
geteilte, selbst-regulative psychische Formationen, in die das
»fremde eigene Böse«, wie er schreibt, deponiert wird, um es dann
zu bekämpfen und zu vernichten. Insgesamt geht es Thomas Auchter
immer wieder um den Nachweis des Grundgedankens, dass individuelle
und kollektive Strukturen sich in einem gesellschaftlichen Prozess
dialektisch verschränken und in einer spezifischen Konstellation
kumulieren.
Im vorletzten Kapitel erprobt der Autor diesen Gedanken an dem
ehemaligen US-amerikanischen Präsidenten George W. Bush, dessen
eigene Angst eine Politik begünstigte, die Angst zu erzeugen
versuchte. Wie im Fall von Bush die private Bühne zu einer
öffentliche Bühne werden konnte, ist ein enorm komplexer,
unübersichtlicher Prozess. Darüber ist sich der Autor im Klaren.
Aber man kann die Bedingungen der Sozialisation im Fokus behalten,
um die daraus resultierende Not zu erkennen, für die Donald Woods
Winnicott, der englische Pädiater und Psychoanalytiker sowie
Vorbild von Auchter, einen scharfen Blick hatte. »Die antisoziale
Tendenz«, zitiert er Winnicott, der damit das jugendliche Stehlen,
Zerstören oder Betrügen meinte, »ist gewissermaßen der letzte
unbewusste Versuch, eine Beziehung herzustellen, wenn zuvor der
soziale Dialog entgleist ist«. Winnicott war der Autor paradoxer,
kluger Einsichten. »Unreife«, schrieb er, »ist ein wesentliches
Kennzeichen von Gesundheit im Jugendalter«.
So ist Thomas Auchters Buch ein Plädoyer für den Reichtum des
psychoanalytischen Verfahrens, für dessen Lebendigkeit und
Notwendigkeit in unserer turbulenten Welt.
Gerhard Bliersbach, Psychotherapeut und Autor