Rezension zu Der grausame Gott und seine Dienerin
Wege zum Menschen, 65. Jg., 85–90, ISSN 0043-2040 © 2013 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
Rezension von Thomas Auchter
Tilman Moser u. Hannah H.: Der grausame Gott und seine Dienerin
Tilman Moser: Gott auf der Couch (Gütersloher Verlagshaus
2011)
Tilmann Moser u. Hartmut P.: Vater, Mutter, Gott und Krieg
Neues von Gott? Das Thema der Religion und das Problem des ›nicht
lieben Gottes‹ lässt Tilman Moser, den Verfasser der
Gottesvergiftung (1976) – deren Lektüre auch die beiden
dargestellten Patienten in seine Praxis geführt hat – ebenso wenig
los, wie lebenslang Sigmund Freud. Mosers Ausführungen in den
autobiographischen Bekenntnissen einer halb geheilte Seele (2004,
10, 67) machen die Plombenfunktion des Religiösen über seinen
psychosozialen Kratern und abgründen verständlicher (vgl. 2010,
636; 2012, 92). Bei Hannah H., Hartmut P. und bei Moser selber
lässt sich die »Gottesgeschichte« als »Überbau über eine
kindliche Depression« (2010, 149, 248, 427) begreifen.
In jüngster Zeit sind gleich drei Publikationen (Moser 2010, 2011,
2012) von ihm aus dem Themenbereich »Religion« erschienen. Was alle
drei Bücher mit einander verbindet, ist die Suche nach einem nicht
oder weniger destruktiven (»grausamen«) Gottesbild, einem
»erträglichen Gott« (z.B. 2010, 127, 595, 631), eine
›Gottesentgiftung‹, die eine Befreiung aus der »Gotteskrankheit«
ermöglicht. Sie sind ein bewegender Schrei nach Leben.
In Der grausame Gott und seine Dienerin (2010) zeichnet Moser
zusammen mit seiner Patientin Hannah H. den vor nicht allzu langer
Zeit beendeten vierjährigen Prozess einer niederfrequenten
psychoanalytischen Körpertherapie mit einer schwer religiös
traumatisierten Pfarrerstochter nach. Den unmittelbaren Einblick in
die Behandlung erlauben die von der Patientin selber
transkribierten und fast komplett auf Band aufgenommenen
Stundenprotokolle. Für die Publikation und bessere Lesbarkeit
wurden sie um etwa ein Viertel gekürzt. Trotzdem umfassen sie weit
über 600 Seiten. Neben den Worten der Patientin und des
Therapeuten beeindrucken die in kursiv abgesetzten (immer wieder
auch durchaus selbstkritisch betrachteten)
Gegenübertragungsbewegungen und Kommentierungen Mosers und
teilweise von Hannah H.. Sie erlauben so tiefe Einsicht in die
intimen und subtilen Verstrickungen und Entwicklungen der
therapeutischen Dyade und den komplizierten Abnabelungsprozess, die
»Verselbständigungskämpfe« am Ende. Die Offenheit durch die
wörtliche Wiedergabe erlaubt dem Leser, sich ein eigenes Bild
über den häufig mühsamen, beide manchmal fast überfordernden
Therapieprozess und ein Urteil über die Interventionen des
Therapeuten bilden zu können. Da die Leibfeindlichkeit zu den
zentralen Aspekten der ekklesiogenen Neurose zählt, scheint die
analytische Körpertherapie die Behandlungsmethode der Wahl.
Nichtsdestotrotz erschließen sich mir als eher ›klassischem‹
Analytiker die Notwendigkeit und die Formen der
körpertherapeutischen Interventionen oft nicht. Wobei mir das
›Kämpfen‹ (um Wut auszudrücken) häufig überzeugender erscheint
als das ›Berühren‹ und ›Halten‹. aber: ich bin kein
Körpertherapeut! Mein Instrumentarium bei der Behandlung auch
schwerer gestörter oder religiös traumatisierter Patienten ist
die durch Sprechen vermittelte therapeutische Beziehung. Nicht nur
an der Stelle, an der Moser selbst kommentiert: »Ich scheine wie
fixiert auf eine Berührung« (114), kommt es mir vor, als wenn das
Streben nach Körperkontakt zumeist eher vom Therapeuten als von
der Patientin ausgeht (z. B. 285, 299, 556, 582, 585)? eine
mögliche Erklärung dafür könnte in der hohen Identifikation
Mosers mit dem Leiden von Hannah (115, 464, 560, 580) an ihrer
Lebensgeschichte und der grausamen, angsterregenden
Gottesvorstellung liegen. und in der Identifizierung mit der
Verlorenheit und Verzweiflung des Kindes (115, 173, 307, 323, 330,
394, 547, 561, 592), das niemand erreichen kann, wie es Moser auch
in seinen »Bekenntnissen« von sich selbst beschreibt. Dies führt
bisweilen zu einem, m.e. zu frühzeitigen (164), »überbehütenden«
(66) oder »bedrängenden« (204, 206, 351, 495, 512, 533, 578)
therapeutischen eingreifen. Das vermerkt Moser auch offen
selbstkritisch.
Der Einsatz des Humors als Therapeutikum gegen den ›grausamen
Gott‹, bzw. das grausame Über-Ich (31, 315) ist mir aus der eigenen
Behandlungspraxis wohl vertraut. Mosers Therapiebericht macht aber
auch deutlich, wie schmal oft der Grat zwischen Lachen und
auslachen oder Lächerlichmachen ist (321, 376, 385).
In Vater, Mutter, Gott und Krieg (2012) verfolgt Moser an seinem
Patienten Hartmut P. eine dramatische Passage seines
Therapieprozesses, den er mit ihm vor etwa 30 Jahren durchgemacht
hat. In Hartmut P. begegnet Moser auf eine berührende Weise seinem
gottesvergifteten alter Ego (8, 119), sodass es zeitweilig zu einer
»Bruder- oder gar Zwillingsübertragung oder -gegenübertragung«
gekommen ist (119). In der literarischen Form von zwei Briefen an
seinen Vater und seine Mutter wird vom Patienten eine relativ kurze
Phase seiner jahrelangen Analyse dargestellt. Sein seinerzeitiges
Wüten gegen die Eltern und ihre Religiosität glich der
»Entsorgung einer seelischen Giftmülldeponie« (10, 105). Durch den
unumgänglichen Hass hindurch, ähnlich wie Hannah H., findet
Hartmut P. im Therapieverlauf schließlich ein »freundlicheres Bild
von Gott«, das ihn zu einem »freieren Leben« ermutigt (11).
Beide Veröffentlichungen der intimen Patiententexte begründet
Moser damit, dass sie von »exemplarischer Bedeutung« (2012, 9) sein
könnten und ihr »exemplarisches Erleben« (2010, 6) für andere
»Kirchengeschädigte« eine Hilfe darstellen könnte.
Auch sein drittes hier besprochenes Buch Gott auf der Couch gilt
den Menschen, die sich »nach älteren Maßstäben als schwere
Sünder sehen, sich noch immer mit dem Konzept der ›Verworfenheit‹
quälen« (2011, 13). »Therapeutisch ist es wichtig, verunsicherte
Gläubige ihren eigenen Weg finden zu lassen. Höchstens gilt es,
ihr Gottesbild zu ›entneurotisieren‹, das heißt, sie von
überflüssiger, lähmender Angst zu befreien, sodass sie sich trauen
mit ihm [Gott] neu zu verhandeln, mehr von Angesicht zu Angesicht
als aus der Position furchtsamer Unterwerfung“ (16). Moser (45)
formuliert sein Anliegen folgendermaßen: Ich habe versucht, »einen
Zugang zu einem menschlichen Grundgefühl zu finden, das ein
wichtiges, vielleicht das wichtigste Fundament von Religion bildet.
Ich nenne es Fähigkeit zur Andacht« (vgl. 2010, 634ff).
Interessanterweise taucht der Begriff der »Andacht« auch schon in
Mosers autobiographischen Aufzeichnungen mehrfach auf (2004, 74,
98, 261, 286, 309). ›Andacht‹ ist für Moser ein psychosomatischer
Affektzustand, den er vor und jenseits des Realitätsprinzips
ansiedelt und den der Psychoanalytiker Winnicott wohl in den
»Übergangsraum« verlegen würde. Die »Urperson für die Entstehung
der Andacht [...] die Mutter [...] bildet eine Matrix für alle
späteren Transzendierungen« (2011, 56).
Und Moser (2011, 222) resümiert seine eigene Entwicklung seit der
»Gottesvergiftung«: »Ich bin mit meinen Patienten zwar ein
Gottesdetektiv geworden, aber kein Glaubender, nicht einmal mehr
ein Suchender. Der Abschied war langwierig, aber scheint
endgültig«. Oder, wie er es in einem Interview im Mai 2012 knapp
formuliert: »Gott lässt mich in Ruhe. und ich ihn« (Aachener
Nachrichten 23.5.2012, 3). Bezüglich der Therapie von Patienten
und Patientinnen mit religiösen Problemen formuliert Moser: »Mir
fehlt inzwischen jegliche ›Tendenz‹ bei dieser Arbeit, außer der,
seelisches Leiden zu mindern. Dies kann in der Befreiung von einem
drückenden Gottesbild geschehen oder im Wiederfinden eines
verschütteten Fundaments von Vertrauen« (2011, 91), eben
›Andacht‹.
Mosers Bücher richten sich sicher zuvörderst an von destruktiven
religiösen Erfahrungen Betroffene und ihre Umgebung, sie sind aber
ebenso hilfreich für alle, die professionell solchen Menschen
begegnen und versuchen, ihnen auf die eine oder andere Weise
Linderungen zu verschaffen.
Literatur: Tilman Moser (1976), Gottesvergiftung, Frankfurt a. M.
(Suhrkamp). Tilman Moser (2004), Bekenntnisse einer halb geheilten
Seele. Psychotherapeutische
Erinnerungen, Frankfurt a. M. (Suhrkamp).
Dipl. Psych. Thomas Auchter, Aachen