Rezension zu Geschwisterdynamik (PDF-E-Book)
Psychologische Medizin, 23. Jahrgang 2012, Nummer 4
Rezension von Maria Ulbrich
Hans Sohni, Geschwisterdynamik
Zu Thema und Autor
Geschwisterbeziehungen und deren Bedeutung für die psychosoziale
Entwicklung fanden auf dem Gebiet der Psychoanalyse und
Psychotherapie lange Zeit wenig Beachtung. Das zentrale Interesse
galt der vertikalen Beziehungsebene zwischen erwachsenen
Bezugspersonen und dem Kind. Berichte, die die Bedeutung der
Geschwisterbeziehungen hervorheben, wurden häufig wenig beachtet.
So erwähnt der Autor, dass auch namhafte Forscher wie John Bowlby
in der Deprivationsforschung die zentrale Bedeutung der Mütter
betonte, jedoch Befunde wegließ, die darauf hinwiesen, dass Kinder,
die von ihren Geschwistern getrennt wurden, vor allem diese
Geschwister vermissten.
Der Autor Hans Sohni, hat langjährige Erfahrungen als Facharzt für
psychotherapeutische Medizin, Kinder- und Jugendpsychiatrie,
Psychoanalyse und Psychotherapie im klinischen Bereich und in
eigener Praxis und ist Gründer eines Ausbildungsinstitutes für
Familientherapie. Er veröffentlicht seit Mitte der 90er Jahre
Publikationen zu den Themen »Geschwisterdynamik« und »Bedeutung von
horizontalen Beziehungen«.
Zum Inhalt
Im vorliegenden Band befasst er sich zunächst mit der frühen
Psychoanalyse und entwickelt Hypothesen, weshalb die
Geschwisterbeziehungen in Freuds Theorie wenig Beachtung fanden. Zu
berücksichtigen ist hier der Kontext des patriarchalischen und
hierarchischen Weltbildes der Gesellschaft im 19./20. Jahrhundert,
welcher kaum eine horizontale Betrachtungsweise zuließ. Im weiteren
Verlauf erörtert der Autor die Bedeutung von Geschwisterbeziehungen
für die Persönlichkeitsentwicklung. Anhand von
Forschungsergebnissen legt er dar, welches Entwicklungspotential
durch gemeinsames Lernen in einem eigenständigen Erfahrungsraum für
Geschwister vorhanden ist. Dieser Blickwinkel betont, dass
kindliches Agieren und Handeln einem eigenen innewohnenden Muster
folgt und nicht ausschließlich abhängig ist von den Interaktionen
und Interventionen der erwachsenen Bezugspersonen. Die affektive
Entwicklung wird durch die Beziehungserfahrung mit Geschwistern
oder Gleichaltrigen nachhaltig beeinflusst. Unterschiedliche
Geschwistererfahrungen, wie durch die Geschwisterkonstellation,
erst- und nachgeborene Geschwister, Geschwister in Patchwork- und
Fortsetzungsfamilien als auch die Erfahrung als Einzelkind werden
in ihrer Unterschiedlichkeit und Gemeinsamkeit betrachtet. Auf der
horizontalen Erfahrungsebene lernen Kinder die Regelung von
Konflikten, die Regulierung von Emotionen und Problemlöseverhalten.
Wenn erwachsene Menschen eine Störung entwickeln und Hilfe durch
eine Psychotherapie suchen, erweist sich der Fokus auf
Geschwisterbeziehungen und -erfahrungen als hilfreich. Diese können
Wegbereiter bei der Orientierung auf Ressourcen sein, selbst wenn
schwierige und belastende Geschwistererfahrungen vorliegen. Hans
Sohni betont in diesem Zusammenhang die »unbewusste
Geschwisterdynamik«, die im psychotherapeutischen Prozess nutzbar
gemacht werden sollte, um Störungen bearbeiten zu können.
Vorraussetzung hierfür ist, dass die Geschwisterdynamik überhaupt
in den Fokus der Betrachtung rückt und präsent werden kann.
Sohni tritt für die Horizontalisierung des therapeutischen
Prozesses ein, er betont die therapeutische Grundhaltung der
Gleichwertigkeit zwischen Therapeut und Patientensystem, wie sie
für die Familientherapie charakteristisch ist. Außerdem entspricht
diese der Veränderung des gesellschaftlichen Wandels von einem
hierarchischen hin zu einem partnerschaftlichen Verständnis. Die
Beachtung der horizontalen Ebene eröffnet neue Blickwinkel und
ermöglicht die Einbeziehung von eigenen Geschwistererfahrungen in
der Übertragungsbeziehung. Im therapeutischen Kontext hilft diese
Sichtweise, den Individuationsprozess und die Übernahme von
Verantwortung zu fordern, während die vertikale Beziehungsebene
dazu verführt, Verantwortung an andere zu übertragen. Sohni geht im
vorliegenden Band auf vielfältige Themen der Geschwisterdynamik
ein, wie Geschwisterverlust, Gewalt und sexueller Missbrauch und
allgemein die Ungleichheit der Geschwister vor den Eltern. Hierbei
zeigt er auf, welche Rolle diese Dynamiken bei schweren
Identitätsproblemen und ausgeprägten negativen Selbstkonzepten
spielen können.
In der Gruppentherapie können Geschwistererfahrungen und
-übertragungen ebenso als wertvolles Entwicklungspotential genutzt
werden. Für die psychotherapeutische Ausbildung fordert Hans Sohni,
die Familien- und Geschwisterselbsterfahrung als obligatorischen
Bestandteil einzuführen, um so den eigenen Blickwinkel zu erweitern
und Blockaden durch eigene blinde Flecke zu reduzieren.
Fazit
Ein sehr interessantes und wichtiges Buch, in verständlicher
Sprache, welches den Fokus auf ein bislang vernachlässigtes Thema
in der Psychotherapie wirft. Die horizontale Beziehungsebene, wie
sie zwischen Geschwistern, Gleichaltrigen und Paaren besteht, wird
in ihrer Bedeutung und ihrem Entwicklungspotential erläutert und
als notwendige Erweiterung der Betrachtungsweise in der
Psychotherapie gefordert. Anhand von Forschungsergebnissen erklärt
Hans Sohni die Auswirkung von Geschwisterbeziehungen und bereichert
durch Fallbeispiele und einen umfangreichen Erfahrungsschatz.
Einzig der Aufbau der Kapitel erscheint etwas unschlüssig und
durcheinander. Bei manchen Fallbeispielen wäre eine ausführlichere
Darstellung des Perspektivenwechsels von der vertikalen auf die
horizontale Ebene wünschenswert gewesen, um den Prozess
nachvollziehen zu können. Eine ausführliche Literaturliste verweist
auf weitere Publikationen zum Thema. Das Fachbuch wendet sich an
Psychotherapeuten aller Ausrichtungen und ist für die Ausbildung
ebenfalls sehr gut geeignet.
Maria Ulbrich
Systemische Familientherapeutin, Dipl. Sozialpädagogin (FH), Klinik
für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Klinikum
Nürnberg