Rezension zu Adolf Hitler, die deutsche Mutter und ihr erstes Kind
Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation 3/2006
Rezension von Katharina Schäfer
Was haben junge Frauen mit Hitler zu tun?
Als ich meinem Sohn (10) erstmals von den
NS-Verbrechen erzählte, fragte er: »Hatte Hitler keine Mutter?« Er
meinte: Eine, die ihn erzog. Die Frage irritierte mich. Bislang
hatte ich den Nationalsozialismus als politisches Thema betrachtet
und weniger unter psychologischem Blickwinkel gesehen.
Und dann fielen mir gleich zwei Bücher in die Hand. Sigrid
Chamberlains 2003 neu aufgelegte Abhandlung über »Adolf Hitler, die
deutsche Mutter und ihr erstes Kind« und Christa Mulacks 2005
erschienener Essay »Klara Hitler – Muttersein im Patriarchat«.
Beide Bücher funktionieren wie Brillen, von denen eines die Blicke
verschleiert, das andere sie schärft.
Vom neuesten Stand der Entwicklungspsychologie wirft Sigrid
Chamberlain einen erhellenden Blick in das Dunkel, das in
NS-Kinderzimmern herrschte, zwischen Mutter und Kind. Was sie
zutage fördert, räumt auf mit der Legende, es habe in Deutschland
ein familiäres Abseits von Auschwitz gegeben. »Wahrscheinlicher und
mittlerweile durch zahlreiche Berichte belegt ist, dass, wer einer
brutalen und grausamen Weltanschauung anhing, sich im Berufsleben
brutal und grausam verhielt, das gleiche auch zu Hause im Umgang
mit den eigenen Kindern tat.« Die »Verletzung der politischen
Fürsorgepflicht«. die Ralf Giordano als kennzeichnend für das
Fehlverhalten der Elterngeneration nach 1945 beschrieb. findet in
Sigrid Chamberlains Studie ihren psychologischen Unterboden. Die
emotionale Grundlage, um einer wie auch immer gearteten
Fürsorgepflicht nachkommen zu können, ist Bindungsfähigkeit. Die
aber, so Chamberlains These, wurde von den Nationalsozialisten
systematisch zerstört. In einem groß angelegten Angriff auf die
Intimität zwischen Müttern und Kindern zollten Ärzte und Ärztinnen
einer Propaganda Tribut, die Ergebnisse der Säuglingsforschung aus
der Weimarer Republik zielsicher missbrauchte.
Kenntnisreich und genau analysiert Chamberlain in ihrem Ratgeber
»Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind« die siebenfachen Mutter
Johanna Haarer. die in Hitler-Deutschland eine millionenfache
Auflage erzielten – und übrigens bis in die 80er Jahre neu
aufgelegt wurden. Ihre zentrale These ist, dass die NS-Pädagogik es
darauf anlegte. menschliche Beziehungsfähigkeit von Geburt an zu
zerstören, und es sich dabei um keine Spielart autoritärer
Erziehung, sondern um einen Kulturbruch handelt. Mütter sollten
sich ihre Babies möglichst »vom Leib halten«, um ihnen Nähe und
Geborgenheit zu verwehren und vom ersten Lebenstag an für die
nötige psychische Disposition zu sorgen, die willfährige
Hitlerjungen und BDM-Mädels auszeichnete. Deren ungestillten
symbiotischen Sehnsüchte sollte kein anderer als ihr »Führer« je
stillen. Ziel der NS-Pädagogik war nicht, folgsame Untertanen zu
erziehen, sondern lauter »kleine Adolf Hitlers«. Dessen Traumata
wurden zum Programm der gesamten Gesellschaft. Sein
tiefliegendstes: fehlende Mutterbindung.
In einem großartigen Schlusskapitel arbeitet Sigrid Chamberlain
überzeugend heraus, wie Hitlers innere Leere im frustrierenden
Kontakt mit einer schwer traumatisierten Mutter entstand, die vor
seiner Geburt bereits drei Kinder verloren hatte. In der
nationalsozialistischen Gesellschaft potenzierte sich seine
perverse Beziehungsstörung explosionsartig. Wer ihm folgte, musste
zutiefst bindungsunfähig sein. Jeder psychisch gesunde Mensch, so
die provozierende These von Sigrid Chamberlain, konnte sich
allenfalls kurzfristig für die Nationalsozialisten interessieren.
Die Kinder nationalsozialistischer Eltern litten infolge
emotionaler Vernachlässigung an familiärem Hospitalismus«
(132).
Der ideologisch verordnete Liebesentzug gipfelte zwar nur in
Einzelfällen wie bei der Familie Goebbels in direktem Mord an den
eigenen Kindern. Für die seelischen Qualen zu sensibilisieren, die
ihre Vernachlässigung in Überlebenden Kindern bis heute bewirkt,
ist das Verdienst von Sigrid Chamberlains Studie. Ihre eigene
Motivation speist sich aus erklärter »Parteilichkeit für
diejenigen. die damals«. d.h. zwischen 1933 und 1945 »Kinder
waren«. Ganz anders Christa Mulack. Sie ergreift nicht für Kinder,
sondern für Mütter Partei. Mütter sind für sie gleichsam himmlische
Wesen, immer gut, meistens verkannt. Weil sie das so sieht, muss
sie auch Klara Hitler als liebevolle, zugewandte Mutter
beschreiben. Dass diese ihren Sohn finanziell unterstützte und auch
gesehen worden sein soll, wie sie ihm, wenn er zur Schule ging,
einen Abschiedskuss gab, ist allerdings kaum ein Beleg für eine
geglückte Mutter-Kind-Beziehung. Auch die »tiefe Liebe« Hitlers zu
seiner Mutter bleibt Spekulation. Es stellt sich die Frage: »Wie
konnte es bei einer so umfassenden liebevollen Pflege zur
Entstehung eines solch kaltherzigen ›Ungeheuers‹ kommen?« (74)
Die Antwort liegt – bei einer Matriarchatsforscherin wie Christa
Mulack – auf der Hand. Schuld ist die väterliche Gewalt. Am
stärksten ist das Buch überall dort, wo es die Gewalt des Alois
Hitler und ihre Tabuisierung in vielen Biografien beschreibt. Dass
dieser sowohl gegen seinen Sohn als auch gegen seine Frau, die
gleichzeitig seine Nichte war, mörderische Gewalt ausgeübt haben
muss, ist ein interessanter und wichtiger Aspekt, der Sigrid
Chamberlains Analyse ergänzt. Dennoch macht die Gewalt ihres Mannes
aus Klara Hitler keinen Engel. Wer ihre Biografie erwartet, wird
enttäuscht. Stattdessen wird die Legende eines Mutterseins erzählt,
das wie eine Insel im Sumpf des Patriarchat schaukelt. Klara Hitler
wird zur »Repräsentantin der patriarchalen Mutter« (90) stilisiert,
deren Probleme »bis heute aktuell« (116) sind und moderne
Leserinnen zur unhistorischen Identifizierung gedrängt. Ohne
Rücksicht auf rechtliche und ökonomische Veränderungen wird die
andauernde »Verdrängung der Mütter« (147) aus der Gesellschaft und
etwa dem Rentensystem beklagt, und auch wenn da manch Wahres daran
ist, macht das die Legendenbildung nicht wett.
Gut gelungen ist die Interpretation der Metaphorik, mit der Hitler
die »Masse« des deutschen Volkes als im Kern weiblich (wie seine
Mutter) beschreibt, die es vom Joch des (für jüdisch gehaltenen)
stärkeren Vaters zu befreien gelte. Diese Interpretation öffnet
eine Luke zum Verständnis, warum gerade auch Frauen in sexuelle
Ekstase bei Hitler verfielen. In seiner Sprache spiegelt sich eine
Gewalt, in der sich viele Frauen unbewusst wiedererkannt und von
der sie sich Erlösung erhofft haben mögen, ohne ihrer eigenen
weiblichen Kraft zu vertrauen. Sie waren psychisch gebrochen – wie
Klara Hitler. Während Christa Mulack diese aus dem Scherben ihrer
Biografie zu »retten« versucht, auf Kosten einer psychologisch
überzeugenden Argumentation, geht Sigrid Chamberlain von in der
NS-Zeit zersplitterten Lebensläufen aus. Sie gibt ihren Leserinnen
und Lesern einen Kornpass in die Hand, um sowohl sich selbst als
auch Beziehungsstörungen älterer Generationen besser zu verstehen.
Auch lassen sich mit ihrer Hilfe moderne Erziehungsratschläge auf
ihren ideologischen Gehalt überprüfen. Für Eltern, aber auch Söhne
und Töchter mit Geschichtsbewusstsein ist die Arbeit von Sigrid
Chamberlain ein unverzichtbarer Gewinn. Sie lernen sich und ihre
Herkunft besser verstehen und werden ermutigt, sich ihren eigenen
Kindern gegenüber deutlich von dem psychischen Erbe des
Nationalsozialismus zu distanzieren. Man wünscht ihre Studie allen,
die mit Kindern und Jugendlichen leben oder arbeiten, in die
Hand.