Rezension zu 100 Jahre Totem und Tabu / Totem und Tabu
psychosozial 36. Jg. (2013) Heft I (Nr. 131)
Rezension von Matthias Oppermann
Eberhard Th. Haas (Hg.) (2012): 100 Jahre Totem und Tabu. Freud und
die Fundamente der Kultur
Eberhard Th. Haas hat in diesem Buch in der Suche nach einer
»Theoriesynthese« Aufsätze versammelt, die sich dem Text von Freud
aus verschiedenen Blickwinkeln nähern. So finden sich in dem Band
aktuelle und historische Beiträge aus Kultur- und
Literaturwissenschaft, Anthropologie, Soziologie, Ethnologie,
Theologie und Psychoanalyse.
Während Freud seine Arbeit Totem und Tabu (1913) für sein
»Größtes, Bestes, vielleicht letztes Gutes« (S. 273) hielt, stellt
René Girard (S. 78) fest, dass es »eine allgemeine Verschwörung«
gäbe »Totem und Tabu der Lächerlichkeit preiszugeben und in
Gleichgültigkeit und Vergessenheit versinken zu lassen«. Nachdem
er die provokative Frage gestellt hat, ob Freud beim Verfassen der
Abhandlung »tatsächlich den Kopf verloren« (S. 79) habe,
verteidigt er den Text gegen Freuds eigene psychoanalytische Zunft.
Auch Haas stellt im Blick auf die Rezeptionsgeschichte von Totem
und Tabu fest, dass Freuds Text in der psychoanalytischen Community
auf weit stärkere Ablehnung gestoßen sei als in anderen
wissenschaftlichen Disziplinen. Für die Ablehnung aus
anthropologischer Sicht steht Alfred L. Kroeber, der 1920 eine
vernichtende Kritik geschrieben hatte, sich Freud in dem
abgedruckten Text von 1939 aber wieder annähert. Die
Psychoanalytikerin und Anthropologin Elizabeth Bott Spillius fragt,
warum das Werk aus dem psychoanalytischen Kanon nahezu verschwunden
sei. Sie sieht als Ursache das Herausbilden von Denkrichtungen,
»die allen Rekonstruktionen, einschließlich der Rekonstruktion
individueller Lebensgeschichten, skeptischer gegenüberstehen als
Freud und seine Kollegen; in solchen Denkschulen wird die
»Geschichte« eines Patienten eher als Projektion seiner
gegenwärtigen inneren Welt in die Vergangenheit betrachtet« (S.
73).
Man kann in dem Buch drei Gruppen von Beiträgen erkennen:
a) Einige Aufsätze fügen dem Werk Freuds bestimmte Aspekte hinzu
oder vergleichen es mit anderen Konzeptionen.
b) Ausgehend von René Girards Ergänzungen zu Freuds Text wird
eine Verbindung des Konzepts der Gründungsgewalt zu neueren
psychoanalytischen Theorien diskutiert. Die Verbindung von Gewalt,
Schuldgefühl und kultureller Entwicklung gerät in den Fokus.
c) Schließlich rücken einige Artikel Freuds »blinde Flecken« beim
Verfassen des Buches in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung.
a) Der Soziologe Cyrill Levitt stellt Freuds Buch der Schrift Die
elementaren Formen des religiösen Lebens von Durkheim bezüglich
ihrer Aussagen über die Theorie des Tabus, die Rolle des Magischen
und der »Wahrheit der Religion« (S. 268) gegenüber. Die Ethnologin
Margaret Mead beschäftigt sich mit dem in Freuds Werk
beschriebenen Ambivalenzkonflikt gegenüber den Toten. Sie zeigt am
Volk der Bagabo, wie dieser Konflikt eine kulturelle Lösung
gefunden habe, sodass das Individuum selbst keine Verdrängung
leisten müsse. Ihr Beitrag erweitert den Blick und weist darauf
hin, dass es kulturell ganz unterschiedliche Verarbeitungen und
Einbindungen der von Freud beschriebenen Konflikte gibt. Die
Kinderanalytikerin Paula Elkisch stellt anhand eines Fallbeispiels
Überlegungen dazu an, dass das »Totemtier« ihres Patienten nicht
im patriarchalen System fuße, sondern entwicklungspsychologisch
weiter in die präphallische Phase zurückweise und ein
mütterliches Totemtier sei. Hier greift sie auf Textstellen
zurück, in denen Freud das Matriarchat zwar als älter beschreibt,
dies aber konzeptuell nicht berücksichtig. Der Literatur- und
Kulturwissenschaftler Uwe Steiner erweitert Freuds Ansatz
»dingtheoretisch«. Er führt aus, dass Freud, indem er das
Seelische als Medium der Kultur statuiert, übersehe, dass Dinge zu
Mediatoren für kulturelle Prozesse werden können. So seien auch
Erinnerungen nicht einfach nur in einem selbst vorhanden, sondern
sie materialisierten sich an Gegenständen.
b) Die Behauptung Freuds, dass der Vatermord eine historische
Tatsache und nicht eine Fantasie sei, beschäftigt die Autoren des
Buches auf verschiedene Weise. Nach Robin Fox ist Freud mit der
Ȇbertragung von Motiven von Generation zu Generation
[beschäftigt]. Diese Motive wurden auf einer bestimmten Stufe der
menschlichen Evolution ein für alle Male gelernt [...] sie werden
in dem Urereignis erzeugt« (S. 41) und somit auf traumatische Weise
erworben. Herbert Will versteht den von Freud auch im Mann Moses
beschriebenen Vatermord als idealtypisches Modell nach Max Weber.
Dabei sei es nicht wichtig, dass es immer so geschehen sei, mal
weniger, mal mehr, sondern dass es sich zu einem einheitlichen
Gedankenbild zusammensetze. Das Entscheidende ist dabei für Will,
dass es sich nicht um Gewaltfantasien, sondern um Gewalttaten
handle, die eine überwältigende Situation im Sinne von
Traumatisierung herstellen. Mit René Girards Text nimmt das Buch
»Geschwindigkeit« auf. Er stimmt Freud zu, dass es um ein
Verbrechen gehe, das einmal begangen worden sei, beschreibt aber
einen anderen Mechanismus als Fundament jeder kulturellen Ordnung.
So stehe am Anfang nicht der Mord, sondern eine Krise, die den Mord
notwenig mache. Nicht die Schuldgefühle einten die Brüderschar,
sondern der Wunsch nach Schuldentlastung. Dem Opfer, dem Getöteten
wird die ganze Schuld zugeschrieben. Dadurch komme es wieder zu
einer Versöhnung. In diesem Mechanismus des versöhnenden Opfers
sieht Girard den Ursprung jeder Form des Religiösen und aller
Inzestverbote. Nach diesem Mord, so Girard, werden die Gegner alles
unternehmen, um nicht wieder in die Gewalt zurückzufallen. Die
Projektion der Schuld auf das Opfer, nach außen, und die Verbote im
Inneren sollen die Gemeinschaft vor der gewalttätigen mimesis
schützen. Girard betont: »Es gibt nur ein Problem: die Gewalt, und
es gibt nur eine Art, es zu lösen: die Verlagerung nach außen« (S.
96). Die Verbote von Gewalt und Inzest im Innern hielten
schließlich eine Zone frei, in der das Überleben der Kinder und
ihre kulturelle Entwicklung gesichert werden könne. Hier öffnet
sich das Buch für die Frage der Gewalt und Traumatisierung und
für ihre Bedeutung für kulturelle Entwicklung, die sowohl von
Freud als auch von Girard für notwendig gehalten werden. Einen
Höhepunkt des Buches ist Eberhard Th. Haas Ansatz, Freuds Buch im
Licht neuerer Entwicklungen in der Psychoanalyse zu betrachten.
Bezugnehmend auf Girard, der den historischen Mord als notwendige
Gründungsgewalt beschreibt, diskutiert er zunächst die
Behälterfunktion des Rituals. Während Verbote eine Krise zu
verhindern suchen, spielten Rituale die Krise durch, um danach zu
einer neuen Ordnung zu finden. Haas verbindet das Ritual
begrifflich mit Regression, mit Übertragungsneurose und dem
»analytischen Behälter«. Entwicklung und seelisches Wachstum seien
ohne katastrophische Fluktuationen zwischen paranoid-schizoider und
depressiver Position nicht denkbar. Allen Riten sei das Prinzip von
»Übertretung und Heil« (S. 110) gemeinsam. So wie die
Übertragungsneurose eine artifizielle Krankheit sei, werde in
Ritualen, das Chaos oder das Sterben gespielt, um dann geheilt zu
werden oder eine Veränderung zu bewirken. Nach Girard führe
Entwicklung periodisch zu Krisen, die die Gründungsgewalt
herausfordern. Hier schlägt Haas eine Verbindung zu Winnicotts
»Konzeption des Objektgebrauchs« und Hanns Loewalds
»emanzipatorischem Elternmord«. Das Gemeinsame dabei sei, dass
Zerstörung erst eine Differenzierung zwischen Innen und Außen
ermögliche. »Es gilt die Paradoxie, dass das Objekt erst durch die
Destruktivität allmählich außerhalb und eigenständig
wahrgenommen werden kann« (S. 121). Erst dann könne der Säugling
an einer Brust saugen, die außerhalb von ihm und nicht er selbst
sei. Haas beschreibt, dass dieses Konzept von Winnicott die
Grundtendenz der Schöpfungsmythen beinhalte: Sich zu bekämpfen,
um sich zu unterscheiden. Loewald hat dieses Prinzip als
Bewältigung des Ödipuskomplexes auf einer späteren
psychogenetischen Entwicklungsstufe beschrieben, wenn er schreibt:
»[K]ann ich ohne Übertreibung sagen, dass die Übernahme der
Verantwortung für die eigene Lebensführung in der psychischen
Realität dem Elternmord, dem Verbrechen des Parrizids, gleichkommt
und die Auseinandersetzung mit den dadurch entstehenden
Schuldgefühlen nach sich zieht« (S. 125). Immer wieder stoße der
Vergleich zwischen Ritual und Psychoanalyse nach Haas auf die
gleiche Dramaturgie: »emanzipatorischer Elternmord, postmortaler
Gehorsam, Bereicherung des symbolischen Denkens und seelische
Strukturbildung« (S. 126). Damit aus Aggression jedoch etwas Neues
entstehen kann, bedürfe es des Schuldgefühls, das Freud in seinem
Text als grundlegend für die Entwicklung von Kultur ansah. Der
Psychoanalytiker Herbert Will breitet in einem spannend zu lesendem
Diskurs Gedanken zu Gewalt mit und ohne Schuldgefühl aus. Für
Freud seien Reue und Schuldgefühl zentrale psychische und
gesellschaftliche Gestaltungskräfte, die zur Strukturbildung
führen. Es seien die zärtlichen Regungen, die hinter dem
Schuldgefühl stehen und die nötig sind, »um zur Kultur zu kommen«
(S. 156). Hier weißt er auf einen bedeutsamen Aspekt hin, der bei
Girards Sündenbockhypothese fehlt. Will zeigt an Beispielen, wie
die Illusion von Allmacht, der Wunsch, Herr über Leben und Tod zu
sein, und die Gewaltlust eine Gewalt ohne Schuldgefühl produziert,
die »vermutlich keinerlei kulturbildende Kraft im Freudschen Sinne«
(S. 160) hat. Will geht davon aus, dass in den Selbstzustand von
Gewalt, die sich selbst genügt und die kein Schuldgefühl und
Mitgefühl für die Opfer kennt, »fast jeder von uns geraten kann«
(S. 162). Dies gelte auch für »gesunde« Personen. »Die Lust an der
Bemächtigung tritt an die Stelle von Bezogenheit und Empathie«
(ebd.). In einem Fallbeispiel diskutiert der Autor sehr
differenziert eine Sequenz aus der Beendigungsphase einer Analyse.
Er unterscheidet dabei zwischen einem Täterschuldgefühl, das aus
der Gewalttätigkeit des Patienten, und einem
Trennungsschuldgefühl, das aus dem Loslösungsimpuls herrührt.
»Die Deutung der Trennungsschuld ermöglichte es, die
Loslösungsbewegung in ihrer Gewaltsamkeit zu erlauben« (S.
171).
c) Der Theologe Wolfgang Palaver versucht nachzuweisen, dass Freud
im mythischen Denken verhaftet bleibt und ihm »die systematische
Einsicht in den Unterschied zwischen Mythos und Bibel und damit
auch in die eigentliche Quelle seiner eigenen Theorie verstellt«
(S. 137) sei. Denn erst im biblischen Denken fänden sich, so
Palaver, »jene Gedanken der Schuld, der ein Aufdecken des
Sündenbockmechanismus möglich gemacht hat« (S. 138). Diese
Gedanken scheinen aber an Freud vorbeizugehen. Die Argumentation
wirkt ein wenig so, als ob Freud unrecht habe, weil er nicht
richtig an Gott glaube und die Bedeutung der Gnade nicht kenne.
Etwas ärgerlich ist der Versuch von Palaver, Freuds Narzissmus und
Allmachtsfantasien zu deuten, um ihn damit als unfähig zu
entlarven, die Sache mit der Gewalt wirklich durchschauen zu
können; er kommt zu dem Schluss: »Bleibt der wahre Gott unerkannt,
droht jene apokalyptische Katastrophe, vor der Freud und Girard mit
berechtigtem Nachdruck gewarnt haben« (S. 148). Mit Herbert Will
könnte man ihm antworten, dass gerade Religion sich dazu eignet,
Gewalt zu begründen und zu rechtfertigen. So sei die
Religionsgeschichte voll von religiös legitimierter Gewalt, die im
Gegensatz zu der These stehe, dass Religion Gewalt binden und in
kulturelle Formen transformieren könne. Einen anderen spannend zu
lesenden Zugang zu Totem und Tabu eröffnet die Kultur-, Religions-
und Literaturwissenschaftlerin Ulrike Brunotte. Sie untersucht das
Konzept der Urhorde und des Brüderclans darauf hin, inwieweit er
die Entstehung der Männerbünde Anfang des 20. Jahrhunderts
widerspiegelt und inwieweit Reaktionen auf Homoerotik, Männerbund,
Kolonialismus und Antisemitismus in Freuds Theorie über die
Anfänge der Kultur bewusst und unbewusst eingegangen sind. Sie
diskutiert den Text als »Reaktionsbildung auf die angespannte Lage
eines jüdischen Wissenschaftlers [...] der in der Metropole Wien
auf eine diskursive Figur – nämlich den Männerbund – zugreift,
die im Zentrum damaliger Männerphantasien stand« (S. 224). Sie
untersucht die Rolle homoerotischer Bindungen in Freuds
Kulturtheorie, betont wiederholte das Fehlen der Frauen in Freuds
Drama und formuliert mit Sander Gilman (1993), dass in Freuds
Theorie »nun nicht mehr der jüdische Mann, sondern die Frauen,
[die] mit dem Stigma der Kastration belegt wurden« (S. 216).
Haas ist es mit diesem Buch gelungen, die Auseinandersetzung mit
dem umstrittenen Werk Freuds neu zu beleben. Die theoretische
Verbindung zu Girard, die klinische Verbindung zu Winnicott und
Loewald sowie die Frage von Gewalt und Schuldgefühl, wie sie in
dem Artikel von Herbert Will diskutiert wird, machen das Buch nicht
nur lesenswert, sondern auch politisch aktuell. Wenn in klinischen
Sackgassen die Destruktivität des Patienten gut analysiert
dasteht, in der Übertragungsneurose als unüberwindbarer
Widerstand spürbar wird und sich Gedanken an den Todestrieb
nähern, kann das Konzept der Gründungsgewalt neue Wege zum Denken
eröffnen.
Allerdings ist anzumerken: Es ist kein Buch, das sich schnell
liest. Bei einigen Artikeln ist es ein wenig mühsam, sich in die
bisweilen fremde wissenschaftliche Sprachen einzuarbeiten und die
Gedankenwege nachzuvollziehen. Dem Leser dieses lohnenden Buches
würde ich folgenden Einstieg empfehlen: Zunächst führt Elizabeth
Bott Spillius in die Rezeptionsgeschichte ein und bietet eine gute
Zusammenfassung von Freuds Text. Margret Meads »Fußnote einer
Ethnologin« ergänzt Freuds Gedanken auf interessante Weise. Der
Artikel von Alfred L. Kroeber gibt einen Eindruck von der
Heftigkeit der wissenschaftliche Kontroverse, die das Buch
ausgelöst hat. (Hier hätte ich allerdings lieber die Kritik von
1920 als die Wiederannäherung an Freud gelesen.) Der Text von
René Girard, auf den sich viele Autoren berufen, ist nicht nur
lebendig geschrieben, sondern ergänzt Freuds Buch in wichtigen
Punkten. Die Artikel von Eberhard Th. Haas und Herbert Will waren
für mich die Herzstücke des Bandes. Bemerkenswert ist schließlich
noch der Blick von Ulrike Brunotte auf den Einfluss von
Zeitströmungen, wie dem »rechtspopulistischen Kampfbegriff des
Männerbundes« (S. 213), auf Freuds Buch.