Rezension zu Die Krise der Männlichkeit in der unerwachsenen Gesellschaft

Radio Darmstadt

Auf der Frankfurter Buchmesse ist mir im Oktober ein zu derartigen Gedanken geradezu einladendes Buch in die Hände gefallen. Der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter schrieb über »Die Krise der Männlichkeit in der unerwachsenen Gesellschaft«, und sein Buch hat mir einige Inspirationen für meine heutige Sendung mit auf den Weg gegeben.
Wenn Weihnachten eigentlich eine gute Gelegenheit wäre, zur Besinnung zu kommen, dann eignet sich ein gutes Buch vielleicht mehr als zur Besinnung anregende Lektüre als die mit Werbespots versehenen Rührstücke im deutschen Fernsehen. Ein solches Buch hat Horst-Eberhard Richter geschrieben, es heißt »Die Krise der Männlichkeit in der unerwachsenen Gesellschaft« und es ist im Psychosozial-Verlag erschienen.

Es ist nun sicherlich kein Zufall, daß mir schon auf der ersten Seite der Einleitung ein Gedanke begegnet ist, bei dem ich sofort an jemanden aus meinem Bekanntenkreis denken mußte, der ganz offensichtlich ein Problem mit sich herumträgt. Es gibt nämlich, so scheint es, immer noch Männer, die ein Problem mit Frauen haben, die sich nicht so durch die Welt bewegen, wie sie (die Männer) es gerne hätten. Die Männer von heute, so schreibt Richter,
sind hinter den verselbständigten Frauen zurück und in der Illusion stecken geblieben, mit ihren wissenschaftlich-technischen Eroberungen ihre heimlichen Entmännlichungsängste beschwichtigen zu können. Was immer ihr Bemächtigungswille ihnen durch neue Erfindungen an phallisch narzisstischen Triumphen einbrachte, ihre Verunsicherung durch das Aufstreben der Frauen konnte es nicht wettmachen. Immer noch verwechseln sie ihre technischen Prothesen, mit denen sie sich aufrüsten, mit eigener Stärke und vertrauen auf das Anwachsen der künstlichen Intelligenz, ohne in der Verantwortungsreife für deren Gebrauch entsprechend mitzuwachsen. [9-10]
Und weiter:
Wer an eine Freiheit zur Willkür glaubt, beliebig aus dem Netzwerk der wechselseitigen Abhängigkeit ausscheren zu können, läuft in die Irre. Die Obsession unerwachsener Männlichkeit lautet: Man muss permanent siegen, um Leiden zu vermeiden, weil einzig Übermacht vor Ohnmacht schützt. [11]
Horst-Eberhard Richter zeigt in seinem Streifzug durch die abendländische Geschichte der letzten zwei Jahrtausende anhand ausgewählter Beispiele, wie sich dieser Männlichkeitswahn ausdrückt und auslebt. Mittels der industriellen Revolution und der damit verbundenen unermeßlichen Machtmittel haben es Männer nunmehr in der Hand, Sein oder Nichtsein der gesamten Menschheit in ihrem technokratischen Unverstand zu exekutieren.

Ich finde die Lektüre eines derartigen Buchs schon deswegen anregend, weil wir hierbei immer wieder mit unseren alltäglichen wie auch mit globalen Problemen konfrontiert werden. Auch wenn Richter aufgrund seines politischen Wirkens in der Friedensbewegung mehr an die ultimative Atomkriegsgefahr denkt, so sind seine Ausführungen genauso gut auf der Ebene unseres Mikrokosmos, unserer kleinen Welt der gegenseitigen Zerstörung zu verwenden. Darin liegt eine Stärke seines Buchs, auch wenn er selbst diesen Aspekt eher beiläufig behandelt.
Unser Mikrokosmos zu Beginn des 21. Jahrhunderts kennt natürlich die moderne Fassung der Hexenjagd, die vor einigen Jahrhunderten gleich Hunderttausende von Frauen auf den Scheiterhaufen gebracht hat. Mit dem Beginn der kapitalistischen Moderne im 15. und 16. Jahrhundert geht nicht nur das Gottvertrauen verloren, sondern auch die Eroberung ganzer Kontinente und der weiblichen Sexualität einher.

Aus diesen Bestrebungen lässt sich ahnen, was mit der Theorie des »Gotteskomplexes« angesprochen ist: Die schwindende Gottesgewissheit schlägt in den Anspruch um, den verlorenen Halt durch Eroberung eben der Macht zu ersetzen, in deren Schutz man sich bisher geborgen glaubte: Flucht aus der Ohnmacht gleich in die Allmacht. Und das sollte straflos möglich sein? Eben nicht. Vielmehr liegt es nahe, in der gleichzeitig ausbrechenden Angst vor Hexen- und Satanszauber der Kehrseite des eigenen magischen Machtwillens zu begegnen. In den Hexen verfolgt der männliche Jäger also eigentlich sich selbst, die eigenen Triebe, die eigene Zügellosigkeit. [168]
Damals wie heute ist die Welt unheimlich geworden. Von fundamentalen Ängsten angetrieben, sieht man überall Gespenster. Die Hexen bilden den internationalen Terrorismus vom 15. bis zum 18. Jahrhundert. Sie verüben hinterrücks die grausamsten Anschläge und halten die »Sicherheitsdienste« jener Zeit in Atem. Die Folterungen zur Geständnis-Erpressung sind die gleichen wie heute. Wer die Hexerei leugnet und »Hexen« in Schutz nimmt, macht sich genauso als »Sicherheitsrisiko« verdächtig, wie es unlängst denjenigen widerfuhr, die im Irak an dessen versteckten Massenvernichtungswaffen zweifelten. Wie heutzutage überall Video-Überwachung, Telefon-Kontrollen und Geheimdienst-Observationen die Bürger begleiten, so waren es damals grenzenlose Denunziationssysteme. [169]
Die heilige Inquisition von damals findet sich jedoch auch heute wieder. Wehe der Frau, die für die gequälten männlichen Seelen den Sündenbock spielen muß!
Wenn Horst-Eberhard Richter in seinem Buch Die Krise der Männlichkeit eine Geschichte großer Männer schreibt, dann nicht als Heldenepos, nicht einmal um zu behaupten, die Geschichte werde von Männern und nicht von gesellschaftlichen Kräften gestaltet, sondern er schreibt diese Geschichte deshalb so, weil sich anhand sich groß wähnender Männer gezeigt werden kann, wie sich der Männlichkeitswahn überall wiederfinden läßt. Die Egozentrik des Mannes läßt sich demnach in seinen Worten so beschreiben:
Der Mensch gehört nicht länger zur Natur, sondern diese gehört ihm, so wähnt er.
Ich nenne das Egomanie oder – noch deutlicher – einen »Gotteskomplex«, weil in diesem Begriff nicht nur die Grandiosität, sondern vor allem der Allmachtswahn erfasst ist – als Kompensation einer dahinter versteckten Ohnmachtsangst. Diese Ohnmachtsangst nämlich ist die heimliche Kehrseite der Omnipotenzphantasie. Wer alles sein will und nicht erträgt, nur ein sterbliches Etwas zu sein, wandelt am Abgrund des Nichts, der Leere, der Verlorenheit – als Strafe für sein Taumeln in die Haltlosigkeit. [...]
Es ist ein Wahnsinn, aber in ihm steckt Methode. [...]
Der Weg in die Freiheit, die eine unbegrenzte Machtwillkür verheißt, scheint offen zu stehen.
Aber im Rücken dieser phantasierten Allmacht lauert die verdrängte Ohnmacht und Hilflosigkeit. Keine andere Stütze ist mehr da als die eigenen Macht- und Zerstörungsmittel. Aber diese sind mit dem Menschen nicht verwachsen. Und so ist die beschworene herrliche Freiheit nur eine scheinbare. Denn echte Freiheit wächst aus Offenheit, nicht aus Argwohn. [21-22]
Allerdings scheint mir dies eine Erkenntnis zu sein, welche den Kids der Ära Kohl und Schröder nicht beigebracht worden ist. Und wie die Großen tummeln sich dann auch die Kleinen in ihrer beschaulichen Welt so, als gebe es keine Grenzen der Vernunft und der Macht.
Vielleicht ist es der Neoliberalismus, der nicht nur alle gesellschaftlichen und sozialen Verhältnisse in eine Ware verwandelt, sondern auch die Menschen nur noch in ähnlich kurzen Zeitzyklen denken läßt wie es der kurzfristige Profit einer Aktientransaktion verheißt. Wenn es stimmt, daß weitgehend das Sein das Bewußtsein bestimmt, dann kann das auch gar nicht anders sein. Warum auch an die Zukunft denken, wenn schon die Gegenwart undurchschaubar ist? Und so nehmen wir jeden kurzfristigen Gewinn mit und hoffen, damit durchzukommen. Noch einmal Horst-Eberhard Richter:
Wir alle nehmen inzwischen an einer großen geistigen Korruption insofern teil, als wir uns selbst und erst recht unsere Nachkommen durch unsere Ausrichtung auf momentane Vorteile und Befriedigung betrügen. Das Muster ist das gleiche wie beim Rauchen. Der zeitliche Abstand zur Schadenswirkung erlaubt nicht, aber ermöglicht, sich und die anderen über die unheilvollen Folgen der Unverantwortlichkeit hinwegzulügen. [...]
Die Konstanz von Beziehungen geht verloren. Am besten passt in die Zeit, wer nirgends mehr fest haftet – an Beziehungen zu Menschen, Tätigkeiten und Orten. Das wird als Freiheit gepriesen, bedeutet aber auch Einsamkeit, Verlust an »Wir«, an Verlässlichkeit in einer unverlässlichen Welt. [...]
Da will man nicht an Beziehungen kleben, sich etwa mit den Pflichten für Kinder beschweren. Man möchte jeden Tag des Lebens umkrempeln können. Indessen verrät sich in dieser Vision von »Durch die Welt Tanzen« auch deutlich die Angst, erwachsen zu werden und sich Verantwortung aufzuladen. [82-83]
Wobei, so möchte ich hinzufügen, diese Verantwortung meist fremdbestimmt ist und es daher auch gute Gründe gibt, sich ihr entziehen zu wollen. Aber diese Kultur der Verantwortungslosigkeit ist nicht nur zum globalen Geschäftsprinzip geworden, sondern findet sich ebenso auch dort in unseren intimsten Zusammenhängen wieder, wo Verantwortung, Selbstbestimmung und der Wunsch nach freien, emanzipierten Beziehungen zu leben wäre. So bleibt dann nicht viel, außer vielleicht zu tanzen oder den Glücksfall eines unverhofften Sommermärchens mitzunehmen.

Horst-Eberhard Richter hat mit seinem Buch über Die Krise der Männlichkeit kein analytisches Sachbuch geschrieben. Es ist vielmehr eine kursorische Lektüre, die uns erwartet, die Zusammenhänge herstellt, ohne uns mit unverständlicher Wissenschaftlichkeit zu erschlagen. Also gut lesbar und vielleicht soweit aufrüttelnd, daß bei aller kritischen Darstellung das Gefühl nicht verloren geht, es könne noch etwas Besseres als diese Welt geben. Und dies ist auch das Anliegen des Autors, nämlich die Hoffnung nicht aufzugeben und, sofern möglich, sie auch mit zu gestalten. Er regt die Vermutung an, eine Vermutung, die ich nur begrenzt teile, es gebe trotz allem einen Trend hin von der Ich- zur Wir-Gesellschaft. Der damit verbundene Wunsch nach Nähe ist sicherlich real, nur wirkt er sich leider ganz anders aus, als erhofft. Doch erst einmal lasse ich Horst-Eberhard Richter zu Wort kommen:
Es sind nur Hinweise. Aber sie liegen einwandfrei in der Richtung wachsender Neigung, Bindung untereinander wichtiger zu nehmen. Auch im Großen melden sich vermehrt Zusammengehörigkeitsgefühle, sichtbar geworden z.B. im Rahmen der Fußball WM, als das Zusammenströmen von Millionen aus den verschiedenen Ethnien, Rassen und Religionen Angst vor Ausbruch von Hass und Gewalt geweckt hatte. Stattdessen wurde es ein Fest der Freude und Verbundenheit, was wiederum die Kluft zwischen der Sehnsucht der Menschen nach friedlicher Eintracht in Kontrast zu den Mächten offenbarte, die uns seit Jahren durch den Austausch von kriegerischer und terroristischer Gewalt in Atem halten. [86]

Wobei ich anmerken möchte, daß hier zwei Faktoren prägend waren: das (unerwartet) gute Wetter im Juni und das überraschend erfolgreiche Auftreten der deutschen Nationalkicker. Nicht auszudenken, es hätte geregnet und nach dem Polen-Spiel wäre Schluß gewesen. Wie hätte sich dann Depression und Enttäuschung ausgelebt? Ich denke, der Grat zwischen Spaß und Haß ist schmal, sehr schmal. Und so fragt auch Horst-Eberhard Richter weiter:
Aber was bewirkt dieser Kontrast? Wer sich nicht einmischt, mag privat noch so viel Nähe, Freundlichkeit und Sanftheit praktizieren, er muss sich irgendwann schämen, wenn er laufend auf dem Bildschirm Flüchtlingsmassen, zivile Bombenopfer, brennende Dörfer und Stadtteile tatenlos auf sich wirken lässt. Aus der Scham wird Wut, dann heimlicher Selbsthass, schließlich gepanzerte Gleichgültigkeit. Lebendig kann man nur bleiben, wenn man sich einmischt und daran glaubt, dass doch einmal ein unwiderstehlicher Heilungswille in einer großen Welle zu einem globalen Aufstand für die Menschlichkeit führen kann. [86]
Und so handelt das letzte Kapitel seines Buches folgerichtig von der Welt der Sozialforen und einer globalisierungskritischen Bewegung, die nicht den Standort verteidigt, sondern zusammen arbeitet. Eine andere Welt ist möglich; aber möglich wird sie nur dadurch, daß man und frau sie auch erkämpft und nicht herbeisehnt. Von alleine kommt sie nicht.
Und was die freundlichen und sanften Menschen angeht. Hinter der Maske des Biedermannes steckt nicht allzu selten der Spießer, und sei es der Spießer des Werbegags, der sein gutes Gewissen dazu benutzt, anderen Menschen mit unbeirrbarer Selbstgerechtigkeit das Leben zur Hölle zu machen. Ich liebe diese Sorte Gutmenschen überhaupt nicht. Leider begegnen sie mir häufiger als mir lieb ist. Nun wird Horst-Eberhard Richter sicher nicht sehr erfreut sein, wenn ich dieses Gutmenschentum geißele. Aber ich mache mir da keine Illusionen.
Überhaupt ist das vielleicht der einzige Schwachpunkt seines Buches: die unkritische Herangehensweise an die Idole der Friedensbewegung. Mahatma Gandhi beispielsweise wird von Richter so beschrieben:
Also nicht nur um physische Gewaltlosigkeit ging es ihm, sondern gleichzeitig um Achtung des Anderen, um nicht durch irgendeine Gewalt Gegengewalt hervorzurufen. Wegen zivilen Ungehorsams im Unabhängigkeitskampf steckte man ihn immer wieder ins Gefängnis für Überschreitung ungerechter Gesetze. Aber am Ende gelang ihm das unmöglich Scheinende. [54]
Das ist der Mahatma Gandhi der Idylle. In Wirklichkeit war er ein durchaus machtorientierter Politiker, dem während seines jahrzehntelangen Aufenthalts in Südafrika die Probleme der schwarzen Bevölkerung vollkommen egal waren. Zurück in Indien war er nicht aufgrund seiner Appelle für Gewaltlosigkeit erfolgreich, sondern deshalb, weil die Inderinnen und Inder trotz seiner Beschwichtigungspolitik für ihre Freiheit streikten und kämpften und damit den Briten das Leben zur Hölle machten. Und abschließend sei bemerkt, daß Mahatma ohne den aufopferungsvollen Support seiner Frau Kasturbai nicht die Zeit gefunden hätte, sich als Retter Indiens aufzuspielen.

Ähnliches ließe sich zu Richters Bewunderung für den chinesischen Philosophen Konfuzius sagen. Denn abgesehen davon, daß uns authentische Zeugnisse über sein Leben und Wirken fehlen, handelt es sich bei der Historiographie um eine spätere Idealisierung eines Politikers, dem zur Herrschaftssicherung der chinesischen Fürsten und Könige einige obrigkeitshörige Weisheiten untergeschoben wurden.
Auch die Begeisterung für Willy Brandt und Michail Gorbatschow kann ich nicht teilen, denen ihr sehr wohl machtpolitisch kalkuliertes Auftreten ihnen den Nimbus der Guten eingebracht hat. Gorbatschow war ein Kind der Verhältnisse des langsam implodierenden Sowjetimperiums. Immerhin war er langjähriges Politbüromitglied und also solches mitverantwortlich für die letzten Jahre der (repressiven) Breschnew-Ära. Brandt war in den 60er Jahren noch Kalter Krieger. Sein Kniefall in Warschau war sicherlich ehrlich gemeint, aber durchaus kompatibel mit Berufsverboten und der inneren Aufrüstung der 70er Jahre, für die er auch verantwortlich war. Ich bin nicht bereit, den idealisierten Held vom Machtpolitiker zu trennen.
Doch bei aller Kritik am mitunter unkritischen Herangehen an die Gutmenschen von Damals und Heute möchte ich dieses Buch dennoch all denen ans Herz legen, die sich Gedanken machen über die Krise der Männlichkeit in einer Welt, in der Verantwortungslosigkeit und Egoismus zu den positiven innovativen Werten zählen.

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