Rezension zu Ekel als Folge traumatischer Erfahrungen
Curare. Zeitschrift für Medizinethnologie 4/2012
Rezension von Markus Wiencke
Das von RALF VOGT herausgegebene Buch »Ekel als Folge traumatischer
Erfahrungen« geht auf ein Symposium zum Thema Ekel in der
Psychotherapie zurück. Der Herausgeber leitet zusammen mit seiner
Frau Irina Vogt das Trauma-Institut-Leipzig an der Akademie für
Ganzheitliche Psychotherapie. Vor dem Hintergrund von Vogts
langjähriger klinischer Arbeit als Psychoanalytiker,
Psychotraumatologe und Körperpsychotherapeut sind die Artikel des
Buches zusammengestellt. Denn wie der Untertitel ,»Psychodynamische
Grundlagen und Studien, psychotherapeutische Settings,
Fallbeispiele« ankündigt, geht es um Problemfelder aus der
therapeutischen Praxis, die hier anhand von Fallstudien erläutert
und durch Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung analysiert
werden. In der analytisch-körperorientierten Arbeit mit
komplextraumatisierten/dissoziativen Patienten/innen würden häufig
individuell bedeutsame Ekelgefühle auftauchen.
Der Sammelband ist in fünf Teile gegliedert. Das erste Kapitel
beschreibt mit fünf Artikeln die Grundlagen und Übersichten zur
Bedeutung des Ekelgefühls in den verschiedenen Feldern von
Psychotherapie und Gesellschaft. RAINER KRAUSE gelingt es mit den
angeführten experimentellen Studien zu zeigen, wie Ekelreaktionen
auf einer vor-bewussten Ebene ablaufen und insbesondere an den
Geschmacks- und Geruchssinn gebunden sind. Diese Überlegungen
bieten eine geeignete Rahmung für die anschließende
psychoanalytische Fallvignette zu Ekel und Perversion. Der Artikel
von GIELER, GROLLE, SCHUT und KUPFER erweitert die Überlegungen zu
Ekel und Psychotherapie um die Psychosomatische Medizin, u.a. beim
Auftreten und Bewältigen von Hautkrankheiten. Bemerkenswert finde
ich in dem Beitrag von JORASCHKY & CROY die angesprochene
moralische Dimension des Ekels sowie die Überlegungen zu den
Beziehungen zwischen Ekel und Scham. MANFRED THIELEN arbeitet in
seinem Beitrag anschaulich heraus, wie sich anhand von Ekel
einerseits »Gefühle verkörpern« und anderseits »Körperreaktionen
somatische Marker von Gefühlen sind« (S. 68). Entsprechend
beschreibt Thielen den psychotherapeutischen Prozess als
dialektischen Wechsel von Körper- und Beziehungsarbeit. Überzeugend
erscheint H. WIRTHS These, dass »die Verhaltenskontrolle über Ekel
und Scham nicht mehr so sehr im öffentlichen Raum praktiziert wird,
sondern im Binnenraum der Bezugsgruppen, der Kulturen und
Subkulturen«. An dieser Stelle wird deutlich, wie der Sammelband
auch Bezüge zu gesellschaftlichen Prozessen herstellt und insofern
auch für soziologische Fragestellungen Anregungen liefern kann.
Der zweite Teil bezieht sich mit sechs Beiträgen auf
Therapiekonzepte, Behandlungsmethoden und Fallbeispiele zum
professionellen Umgang mit Ekelgefühlen.
RALF & IRINA VOGT stellen ihr Behandlungskonzept für
komplex-traumatisierte, dissoziative Störungen vor und machen
deutlich, welche Relevanz hierbei der Bewältigung von Ekelgefühlen
zukommt. Das von ihnen entwickelte körperorientierte Setting
ermöglicht über symbolisierende Objekte, den mit Traumata
verbundenen Ekel als dynamischen Prozess wahrzunehmen, mit dem man
sich konstruktiv auseinandersetzen kann. Mit dem Beitrag von
Marianne Eberhard-Kaechele wird über die Erläuterungen zum
›Containerschema‹ der performative Charakter von Grenzen deutlich:
Sie erzeugen etwas und entsprechend kann mit ihnen in der Therapie
experimentiert werden.
Im dritten Kapitel werden anhand von zwei Artikeln Ausgewählte
Problemfälle der Behandlung von Ekelgefühlen in der
psychotraumatisch-analytischen Praxis präsentiert.
Die beiden Beiträge von IRINA VOGT und THOMAS REINERT präzisieren
die Bedeutung der therapeutischen Beziehung, die beim Auftreten von
Ekel und hiermit zusammenhängenden Gegenübertragungsphänomen
besonders sensibilisiert sein kann.
Der vierte Teil stellt eine Pilotstudie zum Erleben von Ekel bei
komplextraumatisierten/dissoziativen Patienten in der ambulanten
Praxis vor. Das fünfte Kapitel enthält drei Beiträge zu
Spezielle[n] Vorgehensweisen zur Prävention
körperpsychotherapeutischen Annäherung und stufenweisen
Kompensation von Ekelgefühlen. Der sechste Teil schließt den
Sammelband über den Perspektivenwechsel mit zwei Selbstberichten
von Klienten auf illustrierende Weise ab.
Die Autoren stellen von einem psychoanalytischen
Therapieverständnis ausgehend überzeugend die Bedeutung von Ekel
für die Psychotherapie in seinen unterschiedlichen Facetten dar.
Dabei spielt der (sinnliche) Körper als Speicher traumatischer
Erfahrungen eine wesentliche Rolle; ein Ansatz, der m. E. noch viel
Potential für die weitere theoretische Reflexion und die
Verbesserung der therapeutischen Praxis bietet.
In den Artikeln werden die theoretischen Erläuterungen zum Begriff
des Ekels anhand von konkreten Beispielen der Leserin und dem Leser
plastisch vor Augen geführt. Dabei bauen die Beiträge aufeinander
auf, ergänzen sich und werden so der Komplexität des Themas
gerecht. Auf 320 Seiten bietet der Sammelband wichtige Anstöße für
den Praktiker und eine klare Struktur, um Erfahrungen aus dem
klinischen Alltag besser einordnen und reflektieren zu können.
Daneben sind, gerade weil von der therapeutischen Praxis
ausgegangen wird, weiterführende Impulse für die theoretische
Klärung der Beziehungen zwischen den Affekten enthalten.
Als interessante und lohnenswerte Erweiterung des Themenfeldes
stelle ich mir eine Untersuchung zu kulturellen Differenzen bei der
Wahrnehmung von Ekel sowie eine Herausarbeitung der kulturellen
Spezifik unseres Umgangs mit Ekel vor. In diesem Zusammenhang wären
m. E. qualitative bzw. ethnographische Untersuchungen
weiterführend, um die hier vorgestellten quantitativen Studien und
die Fallvignetten um soziale und kulturelle Bedeutungsdimensionen
zu ergänzen.
MARKUS WIENCKE, Berlin