Rezension zu Intersexualität kontrovers
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Rezension von Anja Gregor
Katinka Schweizer, Hertha Richter-Appelt (Hg.): Intersexualität
kontrovers
Vorbemerkung zum Verständnis der Rezension
Für die Lektüre der Rezension mögen folgende Hinweise für die
Leser_innen hilfreich sein:
• Ich habe mich für die Verwendung des gender gap, also des
Unterstriches zu Vergeschlechtlichung der Sprache entschieden. Das
gender gap schafft einen Raum zwischen den gültigen (grammatischen)
Geschlechtern und macht so auch jene Geschlechter sichtbar, die
jenseits oder zwischen den gesellschaftlich anerkannten
männlich-weiblich stehen.
• In dieser Rezension spreche ich von Intergeschlechtlichkeit und
grenze diese, verstanden als soziales Phänomen, das es
gesellschaftlich als solches anzuerkennen gilt, damit begrifflich
von der medizinisch bis 2006 gebräuchlichen Diagnose
›Intersexualität‹ ab.
Thema
Katinka Schweizer und Hertha Richter-Appelt legen mit
»Intersexualität kontrovers« einen Sammelband vor, der einen
Beitrag zur mittlerweile auch in der Öffentlichkeit wahrnehmbaren
Debatte um Operationen im Genitalbereich bei intergeschlechtlichen
Personen leisten möchte. Die Auseinandersetzung mit jenen (oft
frühkindlich erfolgten, damit uneingewilligten und irreversiblen)
medizinischen Eingriffen und deren (Un-)Zulässigkeit ist Dreh- und
Angelpunkt der Beiträge des Bandes und wird als solcher gleich in
den ersten Absätzen der Einführung durch die Herausgeber_innen
expliziert. Mit der Veröffentlichung verfolgen sie das Ziel,
»Fragen aufzuwerfen, neu zu stellen und damit zu einer
weiterführenden Diskussion anzuregen« (S. 15).
Der Sammelband ist abzüglich des Vorwortes und der Einleitung 26
Beiträge stark und umfasst 500 Seiten. Um einen einigermaßen
umfassenden Überblick über den Band zu geben, fällt diese Rezension
recht lang aus, bemüht sich aber im Fazit um eine knappe
Zusammenfassung der Qualität und des Nutzens dieser
Veröffentlichung.
Herausgeber_innen und Autor_innen
Schweizer und Richter-Appelt arbeiten im Rahmen der
Forschungsgruppe Sexualität und Geschlecht, zuvor in der
Forschungsgruppe Intersexualität (beide assoziiert mit dem Institut
für Sexualforschung des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf).
Appelt leitet(e) die Projekte, Schweizer war und ist
wissenschaftliche Mitarbeiterin.
Neben den Herausgeber_innen sind die Autor_innen des Bandes
Mitarbeiter_innen in und an den Projekten, im weiteren Sinne
fachlich mit den Herausgeber_innen arbeitende oder vernetzte
Personen (zu entnehmen ist beides den im Kollektiv veröffentlichten
Artikeln und den Vitae am Ende des Bandes) und zum Thema arbeitende
Jurist_innen, Soziolog_innen, Medizinethiker_innen und
Philosoph_innen. Es finden sich neben diesen überwiegend (rein)
wissenschaftlichen Expertisen lediglich drei Beiträge von
Betroffenen oder Angehörigen: ein Beitrag von Eveline Kraus-Kinsky,
selbst Ärztin, bei der eine Form von ›Intersexualität‹
diagnostiziert wurde, und zwei Beiträge von Müttern
intergeschlechtlicher Kinder (der eine anonym verfasst, der andere
von J.M. Pulvermüller). Diesen Umstand entschuldigen die
Herausgeber_innen in der Einleitung, ohne ihn jedoch zu begründen
(vgl. S. 16).
Die Schweizer Menschenrechtsorganisation zwischengeschlecht.org
hingegen hält deren Bedauern über die nicht gelungene »stärkere
Beteiligung von Experten in eigener Sache« (ebd.) für wenig
glaubhaft, da »weder bei Selbsthilfegruppen oder sonstigen
Interessevertretungen der Betroffenen noch über entsprechende
Mailinglisten je irgendwelche Anfragen zur Mitarbeit« getätigt
worden seien (http://blog.zwischengeschlecht.info/ [20. 02.13]).
Bereits an diesem Beispiel zeigt sich die Streitbarkeit des
Themas.
Zunächst erscheint es sinnvoll, eine detaillierte Darstellung des
Entstehungszusammenhanges dieses Bandes zu formulieren, um die seit
wenigen Jahren und aktuell stattfindenden raschen Entwicklungen auf
diesem Gebiet, denen auch dieser Sammelband zuzurechnen ist,
sichtbar zu machen:
Entstehungshintergrund
Aufgrund eines Parallelberichts der Gruppe Intersexuelle Menschen
e.V. stellte der UN-Ausschuss zur Überwachung des internationalen
Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der
Frau (Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination
against Women – CEDAW) 2009 an die deutsche Bundesregierung die
Forderung, in den Dialog mit intergeschlechtlichen Menschen zu
treten. Ziel des Dialogs müsse es sein, ein besseres Verständnis
für deren Lage und Anliegen zu bekommen. Der Deutsche Ethikrat
erhielt daraufhin den Auftrag, eine Stellungnahme zum Thema zu
verfassen.
Nach einer Online-Befragung von Betroffenen und dem Einholen von
Meinungen wissenschaftlicher Expert_innen (Mai und Juni 2011),
einer öffentlichen Anhörung (Juni 2011) und einer Online-Diskussion
(Juni bis August 2011) (http://diskurs.ethikrat.org/archiv/
[18.02.13]) wurde die Stellungnahme im Februar 2012 veröffentlicht
(www.ethikrat.org/dateien [18.02.13]). Ausgehend von dieser
Stellungnahme wurde am 31. Januar 2013 das Personenstandsgesetz
(PStG) der Bundesrepublik geändert: Es ist nun möglich, bei der
Geburt eines Kindes, dessen Geschlecht nicht eindeutig dem
männlichen oder weiblichen zuzuordnen ist, den Eintrag des
Geschlechts auszulassen. (Belegt werden kann dies bisher nur mit
Bundestagsreden Abgeordneter; das PStG ist bisher online nur in der
alten Form zugänglich. [25.02.13])
Neben neueren Artikeln beinhaltet der Sammelband auch Beträge, die
im Zuge zweier Hamburger Symposien zum Thema Intersexualität in den
Jahren 2006 und 2008 entstanden sind (vgl. S. 15f.). Aus diesem
Grund verweisen einige Beiträge noch auf die Entstehung der
Stellungnahme, während andere sie bereits mit einbeziehen.
Insgesamt ist der Band als ein umfangreicher Beitrag zur Diskussion
um den medizinischen, juristischen und gesellschaftlichen Umgang
mit Intergeschlechtlichkeit zu betrachten, die letztlich auf die
Initiative von intergeschlechtlichen Menschen seit den 1990er
Jahren zurückgeht und die seit dem Erscheinen des
CEDAW-Parallelberichts 2009 politisch erstmals andauernd auf
Bundesebene geführt wird.
Aufbau
Der Sammelband ist nach einem Vorwort von Volkmar Sigusch und der
Einführung der Herausgeber_innen sowie einem Abschnitt zu Sprache
und Begrifflichkeiten unterteilt in vier Bereiche:
1. Grundlagen und Entwicklungslinien
2. Individuelle und kollektive Erfahrungen
3. Perspektiven und Positionen
4. Dialog und Kontroversen
Im Anhang findet sich neben der Informationen zu den Autor_innen
eine Liste mit weiterführender Literatur, Filmen und Adressen.
Schweizer und Richter-Appelt folgen mit dieser Einteilung dem
»Prinzip der Vielfalt« (S. 15), indem in den verschiedenen
Abschnitten kontrastierende Positionen und Blickwinkel durch
»Beiträge[n] verschiedener Diskurse und Disziplinen« (ebd.) einen
möglichst kontrastreichen Überblick bieten sollen.
Systematisierung des Inhalts
Im Folgenden hingegen werde ich, nicht zuletzt motiviert durch die
nötige Eingrenzung des Darzustellenden, eine andere Ordnung
vornehmen: Ich möchte in zugespitzter Weise den von Kathrin Zehnder
und Jürg Streuli im Band diskutierten »Kampf der Diskurse«
skizzieren: Die Autor_innen plädieren für eine interdisziplinäre
Verständigung, die eine gemeinsame Sprache und Begriffe benötigt
und analysieren die Entstehung verschiedener Konflikte. Sie
identifizieren dabei
1. eine Kluft zwischen medizinischem und
feministischem/geschlechtertheoretischem Diskurs in der Art des
Zugangs zum Thema,
2. den Streit zwischen intergeschlechtlichen Menschen und Medizin
um das Expert_innentum (Expert_innentum in eigener Sache vs.
Pathologisierung/Normalisierung),
3. den Streit um die Vertretungshoheit der Interessen (Konflikte
und Unklarheiten innerhalb des vielgestaltigen Feldes des
»Intersex-Aktivismus« (S. 401) ebenso wie im Streit um die
Vertretung/Entscheidung über minderjährige/r Betroffene/r);
4. Unverständnis bei der Zielsetzung (Autonomie und Copingfähigkeit
der Betroffenen vs. Handeln der Eltern und Medizin unter Berufung
auf die Interessen der Betroffenen) und
5. das Unverständnis bei Begrifflichkeiten (Selbstbezeichnung
intergeschlechtlicher Menschen vs. medizinische/pathologisierende
Begriffe).
Es werden hier deshalb, ausgehend von dieser Analyse, die Beiträge
der Jurist_innen (Konstanze Plett, Oliver Tolmein und Angela Kolbe)
kurz dargestellt und zusammengefasst und der Beitrag von Ilka
Quindeau vorgestellt. Anschließend findet eine Zusammenschau jener
drei oben benannten Beiträge statt, die sich nur bedingt und stark
vereinfacht unter ›Beiträge von Betroffenen und ihren Angehörigen‹
zusammenfassen lassen. Den Abschluss der inhaltlichen Darstellung
bildet der Aufsatz des Philosophen Michael Groneberg, der
»Empfehlungen zum Umgang mit Zwischengeschlechtlichkeit«
formuliert. Damit verfolgt diese Rezension die sicher kontrovers zu
betrachtende Absicht, insbesondere jene Beiträge zu Wort kommen zu
lassen, die sich kritisch zur hegemonialen Deutungsmacht und Praxis
der Medizin über Intergeschlechtlichkeit äußern. In der
anschließenden Diskussion werden die Perspektive der medizinischen
Beiträge systematisiert analysiert und jene unter Mitarbeit der
Herausgeber_innen entstandenen empirisch-psychologischen Beiträge
kurz evaluiert.
Die Beiträge von Konstanze Plett und Angela Kolbe haben eine
ähnliche Stoßrichtung: Beide setzen sich kritisch mit der
Zweigeschlechtlichkeit des deutschen Rechtssystems auseinander.
Während Plett einen historischen und geschlechtertheoretischen
Blick auf die Geschlechtlichkeit des Rechts wirft, expliziert Kolbe
Möglichkeiten und Grenzen von Politik und Gesetz(gebung), die
Lebenssituation von intergeschlechtlichen Menschen in Deutschland
zu verbessern. Konstanze Plett stellt heraus, dass die Möglichkeit
der Infragestellung der kulturellen Zweigeschlechtlichkeit
»weiterhin fast nur in den Gender Studies problematisiert [wird]«
(S. 135), das Recht hingegen unter Bezugnahme auf das
Personenstandsgesetz weiterhin von zwei – und nur zwei –
Geschlechtern ausgeht, ohne diesen Umstand rechtlich untermauern zu
können. Sie erörtert letztlich mit dem Beitrag die juristische
Möglichkeit, von einer rechtlichen Festschreibung der
Zweigeschlechtlichkeit abzukommen. Die ersten Schritte in diese
Richtung, die mit der Änderung des PStG (s.o.) gemacht wurden,
dürften damit in ihrem Sinne sein. Angela Kolbe befasst sich in
ihrem Beitrag mit der gegenwärtigen Rechtslage für
intergeschlechtliche Menschen in Deutschland: Sie widerspricht
einer rechtlichen Legitimation der Operationen im Genitalbereich
bei Kindern, stellt diese als »schwerwiegende Eingriffe in die
körperliche Unversehrtheit der Kinder« (S. 420) heraus und
hinterfragt die Rechtsnormen des PStG. Kolbe lieferte damit eine
(in ihrer Dissertation von 2010 erstmals formulierte) detaillierte
Begründung für die aktuelle Änderung. Oliver Tolmein gewährt in
seinem Beitrag einen Blick in die anwaltliche Praxis mit
intergeschlechtlichen Personen. Er stellt in der Konklusion heraus,
das viele juristische Auseinandersetzungen für intergeschlechtliche
Personen »nachteilig geprägt« (S. 183) seien, weil es keine
rechtliche Kategorie für sie gibt. Alle Beiträge kritisieren das
mittlerweile zumindest ›in Bewegung geratene‹ PStG – ihre
Forderungen gehen jedoch über die geschaffene Möglichkeit der
Auslassung des Geschlechtseintrages bei der Geburt hinaus. Eine
Streichung von Geschlecht aus dem Recht hätte, so zeigt
insbesondere Plett, weitreichende Folgen für das deutsche
Rechtssystem.
Ilka Quindeau liefert mit ihrem Beitrag eine konstruktive Kritik
der »inzwischen seit mehr als 40 Jahren im Mainstream der
Psychoanalyse verankerte[n] Theorie von Robert Stoller« (S. 121) –
auf die übrigens auch Schweizer und Richer-Appelt wiederholt Bezug
nehmen. Sie stellt eine Entwicklung der (von Stoller
herangezogenen) konstitutionellen Bisexualität Sigmund Freuds vor,
die den »Raum für eine Vielfalt der Geschlechter öffnet« (ebd.),
indem sie Geschlecht als strukturelle Kategorie analysiert
(beispielhaft an der Aussage »Es ist ein Mädchen/Junge« und deren
Folgen und Herausforderungen für das Neugeborene). Sie plädiert für
eine psychoanalytische Perspektive, die das Geschlecht eines
Menschen im Sinne Freuds wieder als »Mischungsverhältnis« (S. 129)
sieht und betont, dass die Zuweisung eines Geschlechts
schwerwiegendere Folgen für intergeschlechtliche Kinder hat, als
keine Geschlechtszuweisung vorzunehmen. Quindeau legt damit eine
kritische Auseinandersetzung mit Stollers Theorem auf
Intergeschlechtlichkeit vor, um anschließend eine alternative
Lesart Freuds zu skizzieren. Quindeau rehabilitiert insbesondere
Freuds Blick auf das ›Andere‹ als Ausdruck der Vielfalt und setzt
so den durch Stollers Theorie beeinflussten pathologisierenden
medizinischen Blick einen theoretischen Konzeptentwurf entgegen,
auf dessen Ausformulierung (und eine starke Rezeption in der
Medizin) zu hoffen bleibt.
Eveline Kraus-Kinsky sowie J.M. Pulvermüller und eine weitere
Mutter stellen die Positionen jener Personen dar, um die sich die
Auseinandersetzungen der Expertisen drehen: Die Perspektive
intergeschlechtlicher Personen einerseits, und die Perspektive von
Eltern intergeschlechtlicher Kinder andererseits. Alle Beiträge
plädieren für eine stärkere Orientierung an der Perspektive der
betroffenen Personen und machen intergeschlechtliche Personen so zu
Expert_innen in eigener Sache. Kraus-Kinsky schildert
Behandlungserfahrungen und Erfahrungen mit der Debatte um
Intergeschlechtlichkeit, um abschließend ihre Schlussfolgerungen
vorzustellen, die insbesondere eines verdeutlichen: »ein
hundertprozentiges Richtig oder Falsch wird es beim Thema
Intersexualität nie geben« (S. 173). Kraus-Kinsky setzt sich
insbesondere für eine umfassende wie sensible Aufklärung von Eltern
wie Betroffenen ein. Die Berichte der beiden zu Wort kommenden
Mütter dokumentieren die Wege zweier hochreflektierter und auf die
Perspektive ihres Kindes bedachter Elternteile und verdeutlichen,
welch intensive Auseinandersetzung mit der Geburt eines
intergeschlechtlichen Kindes einsetzt – es sei jedoch angemerkt,
dass hier zwei Mütter zu Wort kommen, die sich gegen die Operation
ihrer Kinder entschieden haben. Erhellend wären zudem Sichtweisen
von Vätern ebenso wie die von Eltern gewesen, die sich für eine
Operation ihres Kindes entschieden haben.
So bedauerlich die dürftige und damit unterkomplexe Repräsentation
der Betroffenen ist, so deutlich stellt Michael Groneberg im
letzten Beitrag mit seinen »Empfehlungen zum Umgang mit
Zwischengeschlechtlichkeit« (S. 485ff.) die Notwendigkeit der
Fokussierung auf die Bedürfnisse und Wünsche intergeschlechtlicher
Menschen (und nicht die der Eltern, Mediziner_innen oder des
sozialen Umfelds) heraus. Ende des Bandes steht damit eine
Position, die sich kompromisslos für die Einhaltung des
Menschenrechts auf körperliche Unversehrtheit einsetzt und sich
entschieden gegen die Stoßrichtung diverser Beiträge im Band
wendet: »Zu fragen, welche spezifischen Eingriffe zur
Geschlechtsanpassung zu vermeiden sind, folgt der falschen Logik.
Vielmehr gilt: Kein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit
eines Kindes zum Zweck der Geschlechtsanpassung oder -zuweisung ist
erlaubt. Ausnahmen wie die Abwendung von Gefahr für Leib und Leben
sind klar zu regeln und zum Teil bereits geregelt. Maßnahmen, die
die Veränderung des anatomischen Geschlechts bezwecken, gehören
nicht dazu.« (S. 498)
Ergänzende Diskussion
Michel Foucault stellt in seiner Untersuchung »Die Geburt der
Klinik« (1988) heraus, dass sich speziell der (schul-)medizinische
Diskurs als nahezu in sich geschlossener, sich selbst regulierender
und erhaltender hervortut: Die Grenzen des Diskurses werden intern
streng kontrolliert und nach außen über verschiedene Mechanismen
abgeschirmt. So gelten beispielsweise strenge Regeln zur Initiation
des Nachwuchses, es wird eine schwer zugängliche Fachsprache
verwendet (s. exemplarisch: Holterhus sowie Prange-Kiel/Rune im
Band) oder durch das Postulat der ausschließlichen Kompetenz werden
Expertisen in eigener Sache aberkannt (s. exemplarisch Martin
Westenfelder im Online-Diskurs: http://diskurs.ethikrat.org). Alle
im Band beitragenden Mediziner_innen (ob aus Europa oder
Australien) stellen die Operationen an intergeschlechtlichen
Personen trotz entsprechender öffentlicher Kritik der Betroffenen
nicht grundlegend in Frage, sondern zielen auf die Verbesserung der
Patient_innenberatung und der bisherigen Techniken für
Genitaloperationen ab. Die Fokussierung auf den Körper als
Konstituens von Geschlecht und die Annahme von Gesundheit bei einer
ausschließlich entweder männlichen oder weiblichen geschlechtlichen
Ausprägung, auf die ein heterosexuelles Begehren mit entsprechenden
Sexualpraktiken zu erfolgen hat (vgl. etwa Warne im Band, S.297),
ermöglicht die Pathologisierung aller Erscheinungen jenseits dieser
heteronormativen Logik (so auch von Kathrin Zehnder in ihrer
Dissertation »Zwitter beim Namen nennen« (2010) diskursanalytisch
nachgezeichnet).
Die Beiträge mit und/oder von den Herausgeber_innen fokussieren
zwar sozialpsychologische Aspekte, neigen aber zu einer von Zehnder
und Streuli als unzureichende Repräsentation intergeschlechtlicher
Positionen kritisierten Quantifizierung. Problematisch wie
charakteristisch ist meines Erachtens in einem Bericht die
Formulierung, intergeschlechtliche Erwachsene ›nähmen Stellung‹
(vgl. Handford et al. im Band), ohne dass eine betreffende Person
selbst zu Wort kommt. Dennoch stellen sie Ergebnisse vor, die die
medizinische Herangehensweise in ihrer bisherigen Form in Zweifel
zu ziehen geneigt ist.
Fazit
Alles in allem kann dieser umfangreiche Sammelband meistenteils als
Einstiegs-Lektüre in das komplexe Thema Intergeschlechtlichkeit
dienen. Einer umfassend geführten kontroversen Debatte mangelt er
jedoch schon aufgrund der Auswahl der Autor_innen: An 9 von 26
Beiträgen sind die Herausgeber_innen (allein, zu zweit oder im
Autor_innenkollektiv) selbst beteiligt, zwei weitere sind von
Personen aus ihrem unmittelbaren wissenschaftlichen Umfeld verfasst
(dem Hamburger Klinikum oder gedankten Unterstützer_innen ihrer
Projekte; vgl. S. 202). So entstand beim Sichten des
Inhaltsverzeichnisses, des Personenregisters und der oben belegten
Danksagung der Herausgeber_innen der erste Eindruck, es handele
sich in weiten Teilen um als Sammelband getarnte Sammlung von
Berichten aus den Forschungsprojekten der Herausgeber_innen. Zwar
stellen die Beiträge der Jurist_innen und Psychoanalytiker_innen
eine Kontroverse bereit und zerstreuen so diesen anfänglichen
Verdacht. Zudem wird mit den eher soziologisch orientierten
Beiträgen von Streuli und Zehnder die eigentliche Komplexität und
Vielfalt in der Debatte auf metatheoretischer Ebene durchaus
deutlich. Die Auswahl der Beiträge aus Sicht von Betroffenen und
Angehörigen fällt jedoch recht einseitig aus (s.o.). Eine
tatsächliche Kontroverse hätten die Herausgeber_innen sicherlich
bereitgestellt, wäre etwa die zu Beginn genannte Initiative
zwischengeschlecht.org zu Wort gekommen. Stimmt deren Aussage, es
habe keine expliziten Anfragen an Initiativen intergeschlechtlicher
Menschen gegeben, ist dieses Vorgehen mit Blick auf das geäußerte
Bedauern scharf zu kritisieren.
Die/der weiterführend interessierte Leser_in sollte für einen
differenzierten Überblick über das Thema und dessen Diskussion die
Lektüre erstens um weitere, durchaus auch untereinander kontroverse
Betroffenenperspektiven und zweitens um kritische medizinische wie
biologische Betrachtungen zur Entstehung von Geschlecht, wie
beispielsweise in jüngster Zeit Heinz-Jürgen Voß sie mehrfach
publiziert hat (2010 und 2012; zu finden unter
www.heinzjuergenvoss.de [19.02.13]), ergänzen. Das Fehlen letzterer
ist mit dem Postulat der kontroversen und vielfältigen
Auseinandersetzung mit dem Thema nur schwer zu vereinbaren, stellen
solche Überlegungen doch die Prämisse einer biologisch begründbaren
Zweigeschlechtlichkeit, welche die Grundlage aller im Band
vertretenen medizinischen Expertisen ist, in Frage. Auch weitere
geistes- und sozialwissenschaftlich ausgerichtete
Auseinandersetzungen (bspw. der Soziologie, Pädagogik oder
Philosophie) bieten differenzierende Perspektiven an.
Rezensentin
Anja Gregor
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