Rezension zu Brennende Zeiten
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Rezension von Axel Bernd Kunze
Thomas Auchter: Brennende Zeiten. Zur Psychoanalyse sozialer und
politischer Konflikte
Thema
Die Psychologie hat sich in jüngerer Zeit grundlegend gewandelt.
Wer heute dieses Fach studiert, arbeitet nahezu ausschließlich
empirisch. Dass es auch eine andere Tradition des Faches gibt,
zeigt ein Band in der Reihe »Psyche und Gesellschaft«, der
interdisziplinär breit angelegt ist. Kontroverse Debatten aus
Pädagogik, Soziologie, Politik und Kultur werden aus
psychoanalytischer Perspektive aufgearbeitet. Auf diese Weise
stellt der Band so etwas wie ein kulturethisches Gedächtnis einer
Psychologie dar, die sich nicht auf eine vermeintlich analytische
Neutralität zurückzieht, sondern den gesellschaftlichen Konflikt
nicht scheut.
Autor
Der Verfasser, Thomas Auchter, ist Diplompsychologe. Er studierte
von 1967 bis 1972 in Freiburg im Breisgau. Heute ist er als
Psychologischer Psychotherapeut, Gruppenanalytiker und Supervisor
in freier Praxis in Aachen tätig. Daneben hält er einen Lehrauftrag
als Dozent und Lehrtherapeut am Institut der Psychoanalytischen
Arbeitsgemeinschaft Köln-Düsseldorf. Von 1975 bis 1980 war er
Lehrbeauftragter für Grenzgebiete zwischen Psychotherapie und
Seelsorge an der Freiburger theologischen Fakultät.
Entstehungshintergrund
Thomas Auchter beschäftigt sich seit mehr als fünfunddreißig Jahren
mit Fragen der politischen Psychologie. In der Einführung des
Bandes schildert der 1948 Geborene seine biographisch prägenden
Erlebnisse aus der Zeit des Kalten Krieges und der
Studentenbewegung sowie seine katholische Sozialisation innerhalb
des Bundes Neudeutschland und der Taizébewegung. Diese Erlebnisse
spiegeln sich im vorliegenden Band wider, der Beiträge des Autors
zum Zusammenhang von Psychologie und Gesellschaft aus den
vergangenen vier Jahrzehnten versammelt.
Aufbau
Der Band gliedert sich in eine ausführliche Einführung (= 1) und
sieben Blöcke (= 2 – 8). Mit seiner Einführung ordnet der Verfasser
das vorliegende Buchprojekt in seine biographische Entwicklung ein
und begründet die Absicht, die er damit verfolgt. Die einzelnen
Beiträge sind dann nicht chronologisch, sondern thematisch
geordnet; in den Überschriften wird jeweils das Erscheinungsjahr
genannt. Folgende Themenbereiche werden vom vorliegenden Band
abgeschritten:
1. Der – nach der Einführung – zweite Block versammelt grundlegende
Beiträge zum politischen Charakter der Psychoanalyse.
2. Der dritte Block widmet sich der Erinnerungskultur in
Deutschland und dem Umgang mit der eigenen nationalsozialistischen
Vergangenheit hierzulande.
3. Block 4 dreht sich um Fragen der Erziehung und den
erzieherischen Umgang mit Gewalt, ausgehend von der Kritik an der
antiautoritären Erziehung der Siebzigerjahre.
4. Im fünften Block werden Phänomene des politischen
Fundamentalismus und Extremismus untersucht, beispielsweise im
Umfeld der sogenannten K-Gruppen der Siebzigerjahre oder des
aktuellen Terrorismus.
5. Block 6 thematisiert politische Strategien der
Vorurteilsbildung, des Rassismus und Antisemitismus.
6. Block 7 schließlich widmet sich dem Themenfeld von Krieg und
Frieden.
7. Der abschließende achte Block, der nur einen Beitrag umfasst,
bindet den Band zusammen, indem er nach den Chancen und Grenzen
eines psychoanalytischen Umgangs mit politischen Konflikten
fragt.
Am Ende des Bandes stehen ein Literatur- und Quellenverzeichnis
sowie ein Sachregister.
Inhalt
Im Folgenden soll angesichts der Fülle des Bandes aus jedem Block
ein bemerkenswerter Beitrag hervorgehoben werden.
Immer wieder wogt der Streit darüber, welche Bezugsdisziplin zur
Erklärung menschlichen Verhaltens die wichtigere ist: Psychologie
oder Soziologie? Mal neigt die Waage stärker in Richtung Anlage,
mal in Richtung Umwelt. Auchter geht davon aus, dass beides eine
Rolle spielt. Und er wehrt sich gleich zu Beginn des zweiten Blocks
dagegen, die freudsche Psychoanalyse unpolitisch zu deuten. Er
verweist darauf, dass Freud von einem »Einigungsprozess zwischen
biologischer und sozialer Natur« (S. 25) ausging – und zwar auch im
Sinne einer gesellschaftlich hergestellten Form von Unbewusstheit.
Der Verfasser arbeitet – vermutlich nicht ganz zufällig im
Epochenjahr 1989 – heraus, welche Schlüsse Freud in den politischen
Kämpfen seiner Zeit daraus geschlossen hat. Ein Beispiel, das
untersucht wird, ist Freuds Engagement gegen einen weiteren
Weltkrieg, vor dem er bereits Anfang der Dreißigerjahre des
zwanzigsten Jahrhunderts warnte, u. a. durch seine Beteiligung am
Aufruf zum Genfer Antikriegskongress 1932.
»Wer sich nicht erinnert, ist nicht wirklich und ganz lebendig.«
(S. 103) – so mahnt Auchter angesichts der besonderen historischen
Verpflichtung Deutschlands im ersten Aufsatz des dritten Blocks.
Erinnern ist für ihn notwendig, bedarf aber letztlich auch der
Freiwilligkeit. Daher komme es darauf an, »Erinnerungsräume« offen
zu halten – als Möglichkeitsräume für Erinnerungsarbeit. Einfach
ist Erinnerung keineswegs, wie Auchter erinnert: Es gibt
schwerwiegende Traumata, da muss Erinnerung der Scham, die unseren
innersten Individualitätskern schützt, regelrecht abgerungen
werden.
In der politisch aufgeheizten Stimmung zu Beginn der Siebzigerjahre
des zwanzigsten Jahrhunderts formulierte Auchter eine Kritik an der
antiautoritären Erziehung, die sich dem pädagogisch schwierigen
Problem der Autorität widmet, wiedergegeben als Auftakt des vierten
Blocks. Die Frage nach dem, was angemessene Autorität ausmacht und
wie diese pädagogisch eingesetzt werden kann, hat nichts an
Aktualität eingebüßt. Aus psychologischer Sicht deutet der
Verfasser »Autorität« als ein Beziehungsgeschehen – und als ein
notwendiges: Denn Erziehung kann weder durch Paternalismus noch
bloßes Gewährenlassen gelingen. Kann »autoritäre« Erziehung in die
Selbstentfremdung der Außenleitung, kann das genaue Gegenteil in
die Selbstentfremdung der Triebhaftigkeit führen. Der Mensch
bedürfe vielmehr – so Auchters Fazit – einer »Erziehung zur
Identität« (S. 156).
Der fünfte Block führt in die Welt der K-Gruppen, die zwar als
solche politisch nicht erfolgreich waren, deren Protagonisten aber
bis heute in den parteipolitischen Führungsetagen zu finden sind.
Auchter beleuchtet das Faszinosum dieser Gruppen: »Es sind […] vor
allem persönliche Notlagen, Konflikte oder Traumata, die den Anlass
zum Kontakt mit einer ideologischen Organisation bilden.« (S. 245).
Die Gruppe vermittelt demgegenüber ein Gefühl von Geborgenheit und
Sicherheit – ein Gefühl allerdings, dass durch eine gestörte
Realitätswahrnehmung erkauft wird. Im Gefolge werde Individualität
durch Ideologie ersetzt. Offen spricht der Verfasser jene
Mechanismen an, die hier greifen, z. B. Idealisierung als
Abwehrmechanismus, Ritualisierung, Regression, Schuldgefühle oder
auch Korruption und Doppelmoral. Ein schmerzlicher Lernprozess –
»ein mühsamer Prozess von Identitätszerstörung und
Identitätsfindung« (S. 265) – sei notwendig, aus der
»sektiererischen« Welt wieder auszubrechen.
Der sechste Block packt ein Thema an, zu dem Äußerungen nicht
leicht fallen: eine Psychoanalyse des Antisemitismus. Auch der
schwierigen Frage nach einer möglichen Instrumentalisierung dieses
Terminus weicht Auchter nicht aus. Er plädiert für diagnostische
Schärfe, u. a. in der Unterscheidung von »Antisemitismus«,
»Antizionismus« oder »Antiisraelismus«. Nur dann könne
Antisemitismus auch wirksam bekämpft werden. Und der Verfasser
warnt: »Als Psychoanalytiker wissen wir, dass destruktive Impulse
und Tendenzen unvermeidlich zur ›conditio humana‹ gehören. Weder
Selbstidealisierung noch Fremdidealisierung, noch Projektion oder
Dämonisierung des Gegners können darüber hinwegtäuschen.« (S.
359)
Nein, ein politischer Freund von George W. Bush, dessen
Irakkriegspolitik die Welt gespalten hat, ist Auchter keinesfalls.
Im siebten Block, der dem Thema Krieg und Frieden gewidmet ist,
unternimmt der Aachener Psychotherapeut den Versuch einer
Psychoanalyse dieses umstrittenen US-Präsidenten. Zu sprechen sei
über die Angst vor George W. Bush – und über die Angst von George
W. Bush. Der Verfasser erkennt Spaltung und Projektion auf Seiten
des US-Politikers. Aus Sicht der Politischen Psychologie ist vor
allem interessant, warum ein solcher Mann sogar wiedergewählt
wurde: Der politische Narzisst, so die Antwort, befriedige
unbewusst narzisstische Wünsche der breiten Masse. Die Wähler
wollten sich in der Mehrzahl ihr Bild vom »Beschützer der Nation«
nicht zerstören lassen.
Was bleibt am Ende? – Vielleicht könnte man es Bescheidenheit
nennen: das Wissen, dass der Mensch »versehrt« ist; die Hoffnung,
dass »Heilung« möglich ist – so die Aussicht am Ende des achten
Blocks. Der Mensch müsse diesen Prozess der Heilung aber aktiv
angehen; er muss sich aber bewusst bleiben, dass er endgültige
Erlösung innerweltlich niemals zu erreichen vermag. Es kommt darauf
an, angesichts dieser Einsicht sich weder zum »Herrn über Leben und
Tod« aufschwingen zu wollen noch in Zynismus oder Resignation zu
flüchten.
Diskussion
Wie diese Balance zu halten ist, zeigen die gesammelten Beiträge
Auchters. Herausgekommen ist eine lesenswerte Sammlung
psychoanalytisch orientierter Konfliktstudien. Manche sind durchaus
erwartbar, beispielsweise die Abrechnung mit der aggressiven
Politik des amerikanischen Präsidenten Bush. Andere Beiträge
bürsten die Themen deutlich gegen den Strich – so beispielsweise
Auchters Psychoanalyse des Antisemitismus, die nicht unbedingt in
allem dem herrschenden linksliberalen Mainstream entspricht.
Der Band macht deutlich, dass soziale und politische Konflikte
nicht allein gesellschaftlich zu erklären sind. Hinter den
Konflikten stecken psychologische Prozesse, die herauszuarbeiten
lohnenswert ist – ohne dabei ins Gegenteil zu verfallen und
politische Konfliktlinien einseitig zu individualisieren. Dies
gelingt dem Verfasser.
Nicht jeder Autor mag frühere Werke noch einmal auflegen; ändern
sich doch nicht allein die damit verbundenen Zeitumstände, sondern
auch die Person des Autors selbst. Es ist dem Verfasser zu danken,
dass er sich diesem Unternehmen gestellt hat. So liegen seine
Beiträge nun in gebündelter, leicht greifbarer Form vor, was dem
Leser auch ermöglicht, zeithistorische Vergleiche anzustellen. Nur
ein Beispiel soll genannt werden: Was vor vierzig Jahren als
antiautoritäre Erziehung daherkam, zeigt sich heute als neuer
Egalitarismus in der Bildungsdebatte, äußerlich vielleicht anders
gewandet, doch immer noch nicht reif, mit dem Autoritätsproblem
pädagogisch aufgeklärt umzugehen. Der Band ermöglicht dem Leser,
solchen Zusammenhängen in den Tiefenschichten bestimmter
Konfliktlinien nachzuspüren.
Der Band zeigt anschaulich, was politische Psychologie, eine in
Deutschland eher unterrepräsentierte Teildisziplin, zu leisten
vermag. Wichtig dafür ist, sich nicht politisch vorschnell
vereinnahmen zu lassen. Auchter tappt nicht in die Falle,
Psychologie durch Politik ersetzen zu wollen. Und nicht zuletzt das
macht den Band lesenswert.
Fazit
Der Band ist ein wichtiges Zeitdokument, das zentrale
Konfliktlinien der jüngeren deutschen Zeitgeschichte
psychoanalytisch aufarbeitet. Das Buch ist durchaus parteiisch,
insofern der Autor seinen Standpunkt und seine eigenen
Verstrickungen in die Zeitläufe keinesfalls versteckt – im
Gegenteil. Es lässt sich auch so sagen: Der Band lässt nicht kalt,
sondern lädt dazu ein, den eigenen – ebenfalls biographisch
geprägten – Blick dagegenzuhalten, sei es zustimmend oder
widersprechend. Auf diese Weise entsteht beim Lesen ein
interessantes Wechselspiel zwischen eigenen biographischen
Prägungen und gesellschaftlichen Reflexionen.
Rezensent
Dr. theol. Dipl.-Päd. Axel Bernd Kunze
Privatdozent am Bonner Zentrum für Lehrerbildung (BZL) der
Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
Homepage www.axel-bernd-kunze.de
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