Rezension zu Brennende Zeiten

Akademie-Akzente, März 2013

Rezension von Michael Schlagheck

Thomas Auchter: Brennende Zeiten. Zur Psychoanalyse sozialer und politischer Konflikte

»Die Gesellschaft wird sich nicht beeilen, uns Autorität einzuräumen. Sie muß sich im Widerstande gegen uns befinden, denn wir verhalten uns kritisch gegen sie; wir weisen ihr nach, daß sie an der Verursachung der Neurosen selbst einen großen Anteil hat. Wie wir den einzelnen durch die Aufdeckung des in ihm Verdrängten zu unserem Feinde machen, so kann auch die Gesellschaft die rücksichtslose Bloßlegung ihrer Schäden und Unzulänglichkeiten nicht mit sympathischem Entgegenkommen beantworten.«

So nüchtern schätzte Sigmund Freud die individuelle und gesellschaftliche Akzeptanz der von ihm vertretenen Psychoanalyse ein. Diese kleine Textstelle aus dem Jahr 1910 (Die zukünftigen Chancen der psychoanalytischen Therapie) zeigt aber eindrücklich, wie sehr die Psychoanalyse nicht nur eine Behandlungsmethode für den einzelnen ist, sondern immer gleichermaßen gesellschaftliche Entwicklungen mit in den Blick nimmt, sozialanalytisch das Verhältnis von Mensch, Kultur und Gesellschaft betrachtet. Diese Grundannahme Freuds, so sehr sie den gesellschaftlichen Teil betreffend nach Auffassung kritischer Beobachter aus dem Blick zu geraten scheint, steht auch am Anfang des neuen Buches des Psychoanalytikers Thomas Auchter. Bereits auf den ersten Seiten stellt er unmissverständlich klar, »dass Psychoanalyse im Sinne von Selbstanalyse immer auch zugleich Gesellschaftsanalyse ist und Gesellschaftsanalyse nicht ohne Selbstanalyse vorstellbar ist« (25). Diese Einsicht zieht sich wie ein roter Faden durch das über 500 Seiten starke Buch, dessen zentrale Botschaft lautet: Psychoanalyse ist immer auch politisch.

Thomas Auchter war es immer besonderes Anliegen seines psychoanalytischen Arbeitens, die psychodynamischen Hintergründe brennender gesellschaftlicher Probleme zu untersuchen. Der vorliegende Band umfasst eine Auswahl von für ihn zentralen Arbeiten aus 35 Jahren, z. B. über den schwierigen Weg, sich der eigenen Vergangenheit anzunähern, über Dehumanisierungsprozesse in der psychotherapeutischen Versorgung, über jugendliche Gewalt, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus oder Fundamentalismus, über Erlösung, Heil und Heilung. Einige der Arbeiten sind aus Anlass von Wolfsburg-Tagungen entstanden. Wie der von ihm sehr geschätzte Psychoanalytiker Winnicott zeigt Auchter eindrucksvoll, dass sich die Wissenschaft nie von der Realität entfernen darf und muss. Mit einer auch von Nichtpsychoanalytikern verstandenen Sprache vermittelt er den Lesern im Blick auf die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Herausforderungen »Respekt vor der Eigenheit des lndividuums« als »Voraussetzung empathischen und solidarischen Handelns«.

Der bekannte Psychoanalytiker Tilmann Moser vermutet in einer Besprechung, dieses Buch könnte einmal »der Auchter« genannt werden. Kann eine Empfehlung noch kräftiger ausfallen?

Rezensent: Michael Schlagheck



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