Rezension zu Das Väter-Handbuch
Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Pädagogik 3/2012
Rezension von Bernd Traxl
Heinz Walter, Andreas Eickhorst: Das Väter-Handbuch. Theorie,
Forschung, Praxis
Nach der Herausgabe von »Männer als Väter« (2002) und »Vater, wer
bist du« (2008) fügt der als Väterforscher bekannt gewordene
Psychologe und Psychoanalytiker Heinz Walter (er forschte und
lehrte bis 2007 an der Universität Konstanz) mit dem
»Väter-Handbuch« (2011) ein weiteres Sammelwerk aus
unterschiedlichsten Beiträgen zum Thema Vaterschaft hinzu. Mit
dieser Trilogie bereichert Walter ein bislang stark
unterrepräsentiertes Forschungsfeld. Das Sammelwerk »Männer als
Väter« stellte bereits eine erste umfangreiche Bemühung dar, die
unterschiedlichen sozialwissenschaftlichen Forschungszugänge zu
Vaterschaft und Männlichkeit zu sammeln. Der nachfolgende Band
»Vater, wer bist du« fokussierte stärker auf die psychologischen
Dimensionen von Vaterschaft und machte sich auf die Suche nach dem
»hinreichend guten Vater«. Sein aktuellstes Werk, das Walter
gemeinsam mit Andreas Eickhorst herausgegeben hat, stellt nun eine
Synopsis muttiperspektivischer Zugänge auf das Thema Vaterschaft
dar.
Das Handbuch ist in seiner pluralistischen Form als Einführung für
Forscher, Praktiker und natürlich Väter zu empfehlen, die sich
einen Überblick über die historische und kulturelle Entwicklung von
Vaterschaft, dem Vaterverständnis aus psychologischer und
tiefenpsychologischer Perspektive sowie der gesellschaftlichen und
politischen Umgebungsbedingungen von Vaterschaft verschaffen
möchten. Zu erwähnen sind, neben den Publikation aus der
einschlägigen Väterforschung, die essayistischen Beiträge zur
erfahrenen Vaterschaft, einige Werkstattberichte von
Väter-Initiativen sowie programmatische Beiträge zu einem neuen
Vaterverständnis. So scheint auf den ersten Blick für jeden Leser
etwas dabei zu sein. Widmet man sich den einzelnen Buchabschnitten
etwas genauer, wird aber auch offensichtlich, dass aufgrund der
allesumspannenden Breite interne Bezüge und Diskurse zu kurz kommen
(man denke beispielsweise an genderspezifische
Auseinandersetzungen). Diese Tatsache ist dem Anspruch geschuldet,
so viele Blickwinkel wie möglich zu integrieren. Es lädt einerseits
dazu ein, den eigenen fachspezifischen Tellerrand hinter sich zu
lassen und neue Perspektiven kennenzulernen. Andererseits könnte
man aber auch gemeinsame Referenzpunkte vermissen, die einen
ertragreichen Diskurs erst möglich machen. Nun zu den zentralen
inhaltlichen Fragen, die sich gleich zu Beginn stellen:
Welche Bedeutung hat das Vatersein überhaupt? Welche biologischen,
kulturellen und historischen Wurzeln lassen sich finden? Ist es
eine postmoderne Idee, dass Väter nun glauben auch einen wichtigen
Beitrag leisten zu müssen und welcher könnte das sein?
Schlägt sich Vaterschaft auch in den Psychen der Kinder nieder und
wenn ja, dann in additiver oder ergänzender Weise zur
Mutterschaft?
Letztere Frage wird gleich anfangs behandelt. In »Wo bleibt
Gurnemanz« zeigt Markus Hofer anhand des Epos Parzifal die
Bedeutung von Vaterschaft eindrücklich auf. Dabei steht die
Entwicklung des kleinen Parzifals vom Jungen zum Mann im
Mittelpunkt. Die Geschichte verdeutlicht, weshalb es für Jungen so
wichtig ist, sich aus der Primärbeziehung mit der Mutter zu lösen
und sich mit dem Vater (oder einem Ersatzvater) zu identifizieren.
Parzifal spürt und folgt dem Wunsch nach Ablösung und
Individuation, als er zum ersten Mal drei Ritter sieht. Seine
Versuche Männlichkeit so zu leben, wie von der Mutter gelehrt,
scheitern. Erst als er eine Art Ersatzvater findet, der sich um ihn
kümmert, kann er sich der aufgesetzten Männlichkeit entledigen und
eine eigene, stimmige Variante von Männlichkeit entwickeln. Der
Beitrag zeigt die Notwendigkeit von männlichen Vorbildern für
Jungen auf und weist auf die Problematik hin, wenn diese fehlen
(beispielsweise ein machohaftes, überbetontes Männlichkeitsgehabe).
Insofern könnte man Hofer folgendermaßen übersetzen: Väter leisten
einen ergänzenden Beitrag zu Müttern, den diese nicht ersetzen
können. Gelingende männliche Individuation bedarf der
Auseinandersetzung mit realen männlichen Bezugspersonen.
Wer mehr über die evolutionäre, historische und kulturelle
Bedeutung von Vaterschaft wissen möchte, wird mit den Beiträgen des
Kapitels »Evolution, Geschichte, Kultur« gut versorgt. Es stellt
eine Zusammenschau evolutionsbiologischer Ansätze zum Verständnis
von Vaterschaft, der historischen Aufarbeitung des Vaterbildes seit
der frühen Neuzeit und der sozio-kulturellen Einbettung und
Variabilität von Vaterschaft dar.
Eine subjektive Perspektive zu Vaterschaft liefern die Beiträge von
Eva Jaeggi und Helmwart Hierdeis. Sie nähern sich dem Thema
Vaterschaft in unkonventioneller Weise an und bereichern damit die
Auseinandersetzung ungemein. Eva Jaeggi setzt sich mit den Vätern
ihrer persönlichen Lebensgeschichte auseinander – vom Urgroßvater
bis zum Vater ihres Enkels – und schafft damit einen äußerst
plastischen Eindruck von Vätern, »eingebettet in die
gesellschaftlichen Verhältnisse ihrer Zeit« (S. 89). Helmwart
Hierdeis lud vor einigen Jahren bekannte Pädagogen, Psychologen und
Schriftsteller dazu ein, Franz Kafkas Brief an seinen Vater (1919)
zu beantworten. Daraus entstand das Buch »Lieber Franz! Mein lieber
Sohn« (1996) und ein resümierender Beitrag in diesem Band. Die
Auszüge der Briefe schaffen eine verdichtete, emotionale Präsenz
des Vater-Sohn Konflikts, die sich aus den bewussten und
unbewussten Dynamiken von Absender und Adressat speisen. In einem
weiteren Beitrag beschäftigt sich Heimwart Hierdels mit der Frage
nach den psychischen Vaterrepräsentationen zwischen historischer
Wahrheit und narrativer Konstruktion. Am Beispiel
autobiographischer Erinnerungen und der Assoziationen von
Studentinnen demonstriert er das selbstreflexive Potential in der
Auseinandersetzung mit dem »Vater in mir«.
Mit Väterpolitik im deutschsprachigen Raum beschäftigen sich die
Beiträge von Johannes Huber und Eberhard Schäfer (Deutschland),
Mariam i. Tazi-Preve (Österreich) und Andreas Borter (Schweiz).
Dazu gesellen sich Plädoyers für eine gesetzliche Verankerung des
nichtehelichen Vaters in der Erziehung des Kindes (Roland Proksch)
sowie für die Kenntnisnahme der Bedeutung männlicher Lehrpersonen
in der Entwicklung von Jungen. In dem eingängigen Beitrag
»Männliches Vorbild, Bezugsperson, Autorität und Erzieher« von
Michael Matzner wird insbesondere die Feminisierung des
Schulsystems kritisch beleuchtet. Die Jungen seien im
Lernverhalten, der sprachlichen Entwicklung und der Anpassung an
das Schulsystem im Nachteil gegenüber den Mädchen. Er bezieht sich
dabei insbesondere auf das Grundschulsystem und verortet das
Problem bei fehlenden männlichen Lehrkräften. Unter Anführung der
historischen Entwicklung, der Geschlechterverteilung in den
einzelnen Schulsystemen und Studien zur Lehrerforschung stellt sich
Matzner die Frage nach der Bedeutung des männlichen Lehrers für die
persönliche und schulische Entwicklung von Kindern. Insbesondere
für Jungen betont er die Wichtigkeit von
Identifikationsmöglichkeiten sowie die Akzeptanz einer gewissen
männlichen Autorität. Lehrern würde es leichter fallen, sich in die
Psyche ihrer männlichen Sprösslinge hineinzuversetzen und daher
männliches Verhalten und Gehabe entsprechend zu deuten und adäquat
zu beantworten. Dies wirke sich positiv auf die Flexibilisierung
der Rollenbilder sowie der Schulleistungen aus. Aus diesem Grund
fordert Matzner die verstärkte Präsenz engagierter, professioneller
Männer im Grundschulbereich: »Lehrer sind Männer im biologischen,
psychologischen und sozialen Sinn und haben damit bestimmte
Eigenschaften, die sie von Frauen und damit auch Lehrerinnen
unterscheiden« (S. 201).
Dem Bemühen, verschiedene Typen von Vätern zu Identifizieren und
deren Verläufe im Längsschnitt zu verfolgen, widmen sich die
Beiträge zweier weiterer Arbeitsgruppen. insbesondere der Typus der
»neuen Vater« findet hier große Aufmerksamkeit. Fernanda Pedrina
analysiert die Gesprächsprotokolle einer Vätergruppe und bezieht
sich dabei insbesondere auf die Situation der »neuen Väter« in der
frühen Entwicklungsphase der Kinder. Die »neuen Väter« seien
bereits in den ersten Monaten nach der Geburt fürsorglich und
würden »mütterliche« Gefühle erleben. Sie würden aus eigener
Motivation handeln, »etwas Einmaliges, auf eine kurze Lebensspanne
Beschränktes – den Eintritt ihres Kindes in die soziale Welt –
mitzuerleben und mitzugestalten« (S. 262) und dies trotz aller
Schwierigkeiten als bereichernd erleben. Dazu liest sich Horst
Petris Beitrag »Vom persönlichen Erschrecken zur
psychotherapeutischen Neuorientierung« als gute Ergänzung, da die
idealisierende Betrachtung der »neuen Väter« aus psychoanalytischer
Sicht kritisch beleuchtet wird. Mit Hilfe einer
psychotherapeutischen FalIvignette bekommt man einen Eindruck von
Beweggründen der »neuen Väter«, die nicht so ehrenwert sind wie im
beschriebenen Beitrag von Pedrina. Machtinteressen Innerhalb der
Familie (beispielsweise im Falle von Scheidungen) sowie
Reaktionsbildungen (es besser zu machen als der eigene Vater), aber
auch unreflektierte Sehnsüchte (die offene Lücke der eigenen
Vaterentbehrung durch die Liebe der eigene Kinder ersetzt zu
bekommen) zählen eben auch zu den Beweggründen der »neuen Väter«.
Berücksichtigen muss man dabei, dass die Erfahrungen des
Psychoanalytikers Horst Petri sich dabei auf psychotherapeutische
Behandlungen beziehen und deshalb nur eingeschränkt
verallgemeinerbar sind. Trotzdem scheint eine gewisse
Desillusionierung des neuen Vaterideals angebracht und man darf mit
Petri festhalten: »Väter sind nicht besser als Mütter. Beide teilen
sich das Los elterlicher Unvollkommenheit« (S. 35).
Eine differenzierte Aufarbeitung väterlicher Funktionen in
»Bindungs-, Erziehungs- und Bildungsprozessen« bietet Eva Rass.
Dabei wird, wie bereits bei Matzner, die Bedeutung von Vaterfiguren
für die Entwicklung von Jungen hervorgehoben und als wichtige
Voraussetzung für gelingende männliche Identifikationsprozesse
beschrieben. Sie weist in ihrem Beitrag »Sicherheit und
Orientierung geben« auf die unterschiedlichen Funktionen hin, die
Mütter und Väter in ihrer Elternschaft für ihre Kinder leisten.
Steht der Vater erst als schützender und unterstützender Dritter
der Mutter-Kind-Dyade zur Verfügung, spielt er insbesondere im
Individuationsprozess des zweiten Lebensjahres sowohl für das
Mädchen als auch für den Jungen eine zunehmende Rolle. Die
Entwicklungsaufgabe der Triade umfasst sowohl Mutter, Vater als
auch das Kind und legt den Grundstein für die weitere Entwicklung.
Rass nennt hier insbesondere die Mentalisierungs- und
Reflexionsfunktionen, die der Differenzerfahrung von der Mutter
bedürfen. Später sind es vor allem die Jungen welche in der
Entwicklung einer individuellen Männlichkeitsvariante auf einen
präsenten Vater angewiesen sind.
Im Kapitel »Herausforderung Väterforschung« werden
wissenschaftliche Beiträge zu den Themen Familiengründung und
Kinderwunsch vereint. Zwei Arbeitsgruppen legen hierzu
Forschungsergebnisse aus dem Zusammenhang von Männlichkeits- und
Vaterschaftsvorstellungen sowie der Beziehung zwischen Kinderwunsch
und Erstelternschaft vor. Weitere Beiträge befassen sich mit dem
Fertilitätsverhalten von Männern, dem Vatersein bzw. Vaterwerden im
Kontext vorherrschender Sozialpolitik sowie dem Phänomen der
Kinderlosigkeit bei Männern. So wird unter anderem anhand einer
objektiv-hermeneutischen Fallrekonstruktion die Verbindung von
Psychodynamik und Kinderlosigkeit eines 79-jährigen Mannes
aufgezeigt.
Die Kapitel »Einladung an Väter« und »Räume für Väter« versammeln
dagegen konkrete und alltagsnahe Schriften zur Umsetzung von
Vaterschaft und Väterarbeit. Einen lebendigen Eindruck von
Engagement und Initiative für den verstärkten Einbezug von Vätern
erhält man aus dem Interview mit dem Schweizer Heilpädagogen
Christoph Popp, aus den geschilderten Bemühungen im Vorschulbereich
(Achim Weise) sowie aus den Beiträgen zu Vater-Kind-Wochenenden
(Ansgar Röhrbein), einem gegründeten Väterzentrum in Berlin
(Eberhard Schäfer & Marc Schulte) und zum Aktionsforum »Männer &
Leben – Vereinbarkeit von Familie und Beruf« (Harald
Seehausen).
Heinz Walter schließt den Band mit einer resümierenden Aufarbeitung
des sogenannten »Vater-Jahrzehnts« in seiner psychologischen,
familiendynamischen und sozialpolitischen Relevanz. Noch einmal
werden Forschungsergebnisse unterschiedlichster Provenienz bemüht,
um der Bedeutung des Vaters in seiner erzieherischen, familiären
und politischen Realität gerecht zu werden. Des Weiteren zeigt
Walter auf, wie sehr die idealtypische Variante des neuen, aktiven
und engagierten Vaters seiner Realisierbarkeit aufgrund des Mangels
an optimalen, gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen entbehrt
und eine real umgesetzte, veränderte Väterlichkeit vieler
Bemühungen und weiteren Anstrengungen bedarf, die bislang nur als
Vision verankert sei: »Ich spreche von ›Vision‹, weil es sich um
ein im gesellschaftlichen Diskurs favorisiertes, jedoch in der
Praxis erst in Ansätzen realisiertes Rollenleitbild für Väter
handelt« (S. 674).
Insgesamt bietet sich dieses Handbuch als Nachschlagewerk für alle
jene an, die sich aus praktischer, wissenschaftlicher oder
politischer Motivation mit der Frage der Väterlichkeit
auseinandersetzen. Im deutschsprachigen Raum wird man kein
vergleichbares Kompendium finden, das es mit dieser Vielfalt an
Beiträgen aufnehmen kann. Wie bereits anfangs erwähnt, lässt sich
dies aber auch als Kritikpunkt anführen, da manchen Lesern
weiterführende, inhaltliche Diskurse zu kurz kommen könnten.
Pflichtlektüre sind meines Erachtens die Beiträge zur Vaterschaft
bzw. zum Vaterbild in seinen biologischen, historischen und
kulturellen Zusammenhängen, wie sie vor allem im ersten Teil zu
finden sind. Wer einen leibhaftigen Eindruck von Vätern bevorzugt,
sollte sich auf keinen Fall die Antworten auf Kafkas Vaterbriefe in
den Beiträgen von Heimwart Hierdeis sowie die autobiographischen
Erinnerungen an die Väter rund um Eva Jaeggi entgehen lassen. Für
ein differenziertes, theoriegeleitetes Verständnis väterlicher
Funktionen eignen sich die Beiträge von Matzner und Rass. Nicht
zuletzt seien die sogenannten Input-Artikel empfohlen, die gleich
zu Beginn ein Spannungsfeld eröffnen, welches sich über die gesamte
Bandbreite des »Väter-Handbuchs« erstreckt.
Bernd Traxl