Rezension zu Kindheit im Krieg und Nationalsozialismus
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Rezension von Prof. Dr. Peter Bünder
Gertraud Schlesinger-Kipp: Kindheit im Krieg und
Nationalsozialismus
Thema
Das Buch beschäftigt sich mit Erinnerungsprozessen von
Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytikern, die zwischen 1930 und
1945 geboren wurden. Auf der Basis von ca. 200 Fragebogen von
»Kriegskindern« und zehn anschließenden narrativen Interviews aus
diesem Personenkreis macht sich die Autorin daran, der »narrativen
Wahrheit« auf die Spur zu kommen.
Autorin
Dipl.-Psych. Dr. phil. Gertraud Schlesinger-Kipp ist
Psychoanalytikerin in eigener Praxis und Lehranalytikerin der
Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist in zwei große Teile gegliedert.
Teil 1 (Fragestellung, Literatur, Thesen zu Untersuchung) umfasst
fünf Kapitel – das Vorwort, eine Einleitung, Trauma,
Psychoanalytische Reflexion und Thesen.
Teil 2 (Untersuchung) umfasst sechs Kapitel – Einleitung zu
Methodik, Untersuchung mit Fragebögen, Interviews, Ergebnisse,
Diskussion der Thesen und Zusammenfassung. Ein Literaturverzeichnis
und Anhang schließen das Werk.
Wie Schlesinger-Kipp in ihrer Einleitung anführt, geht es ihr in
ihrer Untersuchung darum, die »Generation der Kriegskinder zu Wort
kommen zu lassen, das hinter dem Schweigen über die
Kindheitserlebnisse stehende Bedürfnis nach Anerkennung und
Bedeutung der frühen Erlebnisse für das Leben zu teilen« (S.
21-22). Das 3. Kapitel beginnt die Autorin mit der Darstellung von
Trauma aus psychoanalytischer Sicht, wobei sie sich im Hinblick auf
das Erleben von Kindern stark an Anna Freud und Dorothy Burlingham
orientiert. Das 4. Kapitel referiert im Überblick psychoanalytische
Reflexionen von sechs Autorinnen und Autoren, die einen hilfreichen
Einblick in die unterschiedlichen Aspekte von Erleben und Erinnern
aus psychoanalytischer Sichtweise geben. Auf Basis dieser
Reflexionen entwickelt Schlesinger-Kipp im 5. Kapitel vier Thesen,
die in ihrer Untersuchung überprüft werden sollen:
These 1 bezieht sich dabei auf die zu erwartende Anzahl von vormals
traumatisierten Kinder während der Kriegszeit.
These 2 geht davon aus, dass je nach damaligen Alter der Kinder
sich die Erinnerungen an Trennung, Bedrohung und Traumatisierung
sehr unterscheiden werden.
These 3 fokussiert auf die unterschiedlichen Auswirkungen bei
Jungen und Mädchen und
These 4 geht der Frage nach, ob die damaligen Kriegsereignisse als
ein starkes Motiv für die Hinwendung zur Psychoanalyse gesehen
werden können.
Kapitel 6 +7 stellen die Untersuchungsergebnisse von
Schlesinger-Kipp dar, die auf der Basis von 198 Fragebogen von
Mitgliedern der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung, die
zwischen 1930 und 1945 geboren wurden, beruhen. Während in anderen
Untersuchungen häufig berichtet wird, dass ca. 20-25 Prozent der
befragten Kriegskinder Traumatisierungen ausgesetzt waren, zeigt
diese Stichprobe auf, dass 64 Prozent der Befragten traumatische
Erlebnisse angaben. Den größten Umfang im Buch nimmt das 8. Kapitel
ein, welches die persönlichen Interviews wiedergibt. Mit der Wahl
eines »narrativen Interviews« wählte die Autorin ein Verfahren,
welches innerhalb eines psychoanalytischen Settings sicherlich
grundlegend ist: die Betroffenen ausführlich zu Wort kommen zu
lassen, ohne lenkend oder strukturierend einzugreifen. Ausgehend
vom psychoanalytischen Konzept der »Nachträglichkeit« hat sie die
Interviewpartner/innen eingeladen, sich über die spätere
Bewusstwerdung des eigenen Erlebens zu äußern. Ergebnis eines
solchen Unterfangens sind niemals »objektive Wahrheiten«, sondern
sinnhafte »narrative Wahrheiten«, die Anschluss an Einzelschicksale
ermöglichen. Die 10 Interviews von Psychoanalytiker/innen, die
ebenfalls zwischen 1930 und 1945 geboren wurden, bieten daher vor
allem Nachgeborenen eine wertvolle Möglichkeit, über die
Narrationen einen Eindruck vom jeweiligen Erleben im
nationalsozialistischen Alltag zu bekommen. Es ist hier
hervorzuheben, dass Schlesinger-Kipp diesen Teil auf einem
erfreulich hohen wissenschaftlichen Niveau geleistet hat. Nach
einem ersten Interviewtermin unterzog sich die Autorin einer
telefonischen Supervision durch einen Psychoanalytiker, um auf
Basis dieser Eigenreflexion noch ein zweites Interview zu führen,
womit die angerissene Thematik vertieft werden konnte. Auf diese
Art und Weise entstanden sehr intensive Darstellungen. Es spricht
weiter für die große Sorgfalt, dass für alle zehn Interviews eine
kommunikative Validierung sichergestellt wurde, d.h. dass die
verschriftlichten Gespräche von den jeweiligen
Interviewpartner/innen nachträglich autorisiert wurden. In ihrer
Dichte werden die einzelnen Interviews zu wertvollen
Zeitdokumenten, aber wissenschaftlich gesehen auch zu einem
sinnvollen Reflexionsgut. Als solches nutzt Schlesinger-Kipp sie
für eine komprimierte Ergebnisdarstellung in Kapitel 9. In Kapitel
10 werden mit Bezug auf die Thesen aus Kapitel 5 die vorliegenden
Daten aus der gesamten Untersuchung diskutiert. Schlesinger-Kipp
kommt hier zum Ergebnis, dass viel mehr Befragte als vorher
angenommen unter starken Kriegseinwirkungen gelitten haben.
Auffallend sind dabei unter anderem die deutlich unterschiedlichen
Auswirkungen auf Mädchen und Jungen, die den Blick einer
genderbezogenen Betrachtungsweise schärfen können.
Zielgruppen
Das Buch eignet sich für Menschen, die ein Interesse an
historischen Aspekten haben, die sich speziell auf Erziehung und
Sozialisation beziehen. Darüber hinaus eignet es sich hervorragend
für Studierende der Sozialen Arbeit, der Erziehungswissenschaften
und Absolvent/innen von Therapieausbildungen.
Fazit
Es ist ein sehr lesenswertes Buch, welches einen weiteren Beitrag
zur notwendigen »Erinnerungsarbeit« leistet, um die demokratischen
Lehren aus der Zeit des Nationalsozialismus lebendig zu halten.
Wahrscheinlich nicht geplant, aber vielleicht unbewusst kann mit
diesem Buch ein Querverweis zu einer aktuellen gesellschaftlichen
Thematik hergestellt werden: der unvermeidlichen Trennung von
jüngeren Kindern und die daraus resultierenden psychischen
Belastungen bei der favorisierten »U-3-Betreuung« in Tagesform.
Gegen den Strich gebürstet kann das vorliegende Buch Gedanken
anregen, sich nochmals kritisch mit den möglichen Belastungen von
jüngeren Kindern bei frühzeitigen Trennungserfahrungen zu
befassen.
Rezensent
Prof. Dr. Peter Bünder
Fachhochschule - University of Applied Sciences - Düsseldorf.
Lehrgebiet Erziehungswissenschaft am Fachbereich Sozial- und
Kulturwissenschaften
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