Rezension zu Außenseiter integrieren
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Rezension von Tatjana van de Kamp
Joachim Heilmann, Heinz Krebs u.a.: Außenseiter integrieren
Thema
Außenseiter sind Einzelne oder Gruppen, die nicht den Erwartungen
und Normen eines sozialen Gefüges entsprechen, sei es freiwillig
oder unfreiwillig. Die Gründe hierfür sind vielfältig und können
nur im komplexen Zusammenhang gesehen werden. In diesem Buch geht
es vorrangig um Kinder, jugendliche Außenseiter und deren Familien
in der Sozialen Arbeit und Pädagogik. Insbesondere die
UN-Konvention von 2008 über die Rechte behinderter Menschen und
ihrer Integration in die Gesellschaft dokumentiert deren
Ausgrenzung und Diskriminierung als nicht mehr akzeptabel.
Gleichzeitig sind die Soziale Arbeit und Pädagogik aber auch
gefordert zu differenzieren und zu individualisieren, ohne dabei
aber jemanden auszugrenzen oder zu stigmatisieren, eine »paradoxale
Aufgabenstruktur«. Die einzelnen Beiträge des Buches gehen
verschiedenen Facetten dieses Themas nach und beschreiben und
diskutieren psychoanalytisch-pädagogische Erklärungs- und
Lösungsansätze aus der Theorie und Praxis der Psychoanalytischen
Sozialarbeit.
Autoren und Herausgeberteam
Die 20 Autoren bilden einen Querschnitt aus Wissenschaft und Praxis
in Sozialarbeit, Pädagogik, Psychologie. Joachim Heilmann ist
Diplompädagoge, Kinder- und Jugendtherapeut, Psychoanalytischer
Pädagoge und Vorstandsmitglied des Frankfurter Arbeitskreises für
Psychoanalytische Pädagogik (FAPP). Heinz Krebs ist promovierter
Diplompädagoge, Kinder- und Jugendtherapeut, Supervisor,
Psychoanalytischer Pädagoge sowie zweiter Vorsitzender des FAPP.
Annelinde Eggert-Schmid Noerr ist Professorin der Sozialpädagogik
an der Katholischen Fachhochschule Mainz, Kinder- und
Jugendpsychotherapeutin, Gruppenanalytikerin und Vorsitzende des
FAPP.
Aufbau
Die 18 Einzelbeiträge des Buches sind in fünf Teile gruppiert. Nach
einführenden Überlegungen beginnt das Buch mit grundlegenden
Aspekten der Problematik aus verschiedenen Blickwinkeln. Der zweite
Teil fokussiert auf die Integrationsarbeit in Kindertagesstätten.
Im dritten Teil werden aus Sicht sozialer Marginalisierung sowie
der Schulberatung Ansätze diskutiert, wie Beratungsprozesse helfen
können, Ausgrenzungen vorzubeugen. Der vierte Teil ist Inklusions-
und Exklusionsprozessen in der Schule gewidmet. Im fünften Teil
legen die AutorInnen Entwürfe für die Theorie und Praxis
Psychoanalytischer Sozialarbeit vor. Der letzte Teil enthält
kritische Rückfragen zur psychischen Gesundheit auf individueller
Ebene sowie vor der Folie makrogesellschaftlicher Prozesse.
Inhalt
Teil 1 Grundlegende Aspekte von Ausgrenzung
Annelinde Eggert-Schmid Noerr zeigt wie Kindern in Kitas in
Außenseiterpositionen geraten können. Dabei reicht der Blick auf
individuelle Lebens- und Entwicklungsbedingungen nicht immer, da
auch die individuelle oder gruppenspezifische Psychodynamik und die
institutionellen Rahmenbedingungen ungünstig sein können. Die
Autorin untersucht psychoanalytische Erklärungsansätze und fordert
den doppelten Blick, auf das ausgegrenzte Kind und auf die
ausgrenzende Gruppe.
Manfred Gerspach zeigt das szenische Verstehen als Methode auf, das
Verhalten der Kinder, die sich nicht gut ausdrücken können, besser
zu deuten und diskutiert die Schwierigkeiten, die der
Inklusionsbegriff (lat. Wortstamm einsperren) dabei aufwirft,
ebenso wie die Gefahr einer Verleugnung des angstauslösenden
Befremdlichen. Er warnt Sozialpädagogen sowohl davor, eine zu große
professionelle Distanz zum Klienten zu wahren als auch vor einer
Romantisierung der individuellen Ressourcen und Stärken, bevor klar
ist, welche persönlichkeitsstrukturellen Defizite vorliegen.
Gerspach appelliert mit Aloys Leber »an der Szene teilzuhaben und
doch innere Distanz dazu zu gewinnen« (S.71).
Dieter Katzenbach diskutiert die Auslegung der UN
Behindertenkonvention und setzt sich mit den Kritikern der
Inklusion und ihren praktischen Unzulänglichkeiten auseinander, um
dann ein komplexes Spannungsfeld gesellschaftlicher Widersprüche
zwischen unter anderem Individualisierung und Meritokratie,
Wertschätzung des Einzelnen und Leistungsanspruch, auch im
schulischen Kontext, aufzuzeigen. Für Katzenbach ist die Frage
dabei nicht mehr, ob Inklusion sinnvoll ist, sondern, wie diese
Widersprüche im Rahmen der Inklusion professionell bewältigt werden
können.
Teil 2 Integrationsprozesse in der Kindertagesstätte
Thilo Naumann beschreibt, wie die Dominanz des Leitbildes einer
flexiblen, konkurrenz- und leistungsfähigen Subjektivität mithilfe
gesellschaftlich verankerter Vorurteile zur Überlegenheit der Einen
und Unterlegenheit der Anderen führen kann. Er diskutiert dies
anhand dreier Querschnittsthemen der Ausgrenzung (Unterversorgung,
Geschlechterverhältnisse und Interkulturalität) und schließt mit
Überlegungen, wie die Kita ein Ort für förderliche
Beziehungserfahrungen werden könnte.
Bernd Niedergesäß beschreibt am Fallbeispiel der Inklusion und
Integration eines vierjährigen behinderten Migrantenmädchens die
Tiefe der dahinterliegenden Fördermaßnahmen und psychoanalytischen
Überlegungen und betont, dass die Begleitung solcher Prozesse zur
alltäglichen pädagogischen Arbeit in Kitas gehöre.
Teil 3 Zum pädagogischen Umgang mit Außenseitern in
Beratungsprozessen
Heinz Krebs weist in seinem Beitrag darauf hin, dass
marginalisierte Jugendliche häufig schwer zu erreichen sind, da die
Verständigung häufig aufgrund von Resignation, Ohnmacht und der
Eindruck fehlender pädagogischer Griffsicherheit misslingt.
Fallbeispiele aus der Beratungspraxis verdeutlichen die
dahinterliegende Dynamik zwischen den Beteiligten. Krebs stellt ein
theoretisches Handlungsmodell in sechs Ebenen vor, in denen sich
Reflexion (Gegenübertragungen, Perspektiven, Affekte) und
Handlungen abwechseln.
Die Schulpsychologin Dorothea Steinlechner-Oberläuter stellt eine
Fallstudie zum szenischen Verstehen in einem Mobbingfall in der
Schule vor. Sie setzt sich dabei intensiv mit den Botschaften ihrer
eigenen Gegenübertragungen auseinander und stellt die Beratung
zwischen Reflexion und Ratschlag, als Tandem aus Reflexion und
Handeln.
Teil 4 Inklusion und Exklusion in der Schule
Christoph Kleemann zeigt die Ambivalenz des Anders-Seins, das immer
auch etwas Besonderes, Individuelles enthält und diskutiert die
Schwierigkeit der Inklusion von Kindern, die eigentlich keiner mag.
Er resümiert, dass Inklusion in der Regelschule nur auf Grundlage
tragfähiger pädagogischer Beziehungen gelingen kann, die
begleitende Beziehungsgestaltung und ständige Reflexion des
Übertragungs- und Gegenübertagungsgeschehen zwischen Lehrern und
Schülern erfordern, damit das Unheimliche in der Inklusion seinen
Schrecken verlieren kann.
In ihrem Beitrag »Wer ist hier der Außenseiter?« berichten die
Erziehungsberaterinnen Bernadette Neuhaus und Ines Carstens von
ihrer Erfahrung als Tandem in der Unterrichtshospitation und
Begleitung eines Jungen, der sich von Situationen zu dritt bedroht
fühlt und dritte Personen oder Gegenstände ausschließt in dem
Bemühen, sich eine zweidimensionale Welt zu erhalten. Sie
beschreiben Situationen, Gespräche und ihre Reflexionen im Tandem
und mit den Beteiligten (Mutter, Lehrerin, Schüler) sowie
Interaktionen mit den anderen Kinder in der Klasse.
Inge Schubert führte qualitative Interviews mit hochbegabten
Schülern, die über ihre Zeit in der Regelgrundschule sowie ihre
anschließenden Erfahrungen und Gruppendynamik in einer
Hochbegabten-Sonderklasse auf dem Gymnasium berichteten. Die
hochbegabten Schüler fühlten sich in der Grundschule von
Mitschülern, Lehrern und teils auch von ihren Eltern aufgrund ihrer
Hochbegabung entwertet. In der Sonderklasse fühlten sie in ihrer
Hochbegabung angenommen, hier traten eher gruppendynamische
Ausgrenzungsprobleme einzelner Schüler, deren Verhalten den
unausgesprochenen Normen der übrigen Mitschüler nicht entsprachen,
in den Vordergrund. Die Autorin vermutet hieraus, dass die Betonung
kognitiver Leistungsziele und der Selektion auf dem Gymnasium sowie
die Kultur der Selbstkontrolle die Aushandlung von Zugehörigkeits-
und Ausgrenzungsprozessen eher verschärfen könnte. Hierzu sei aber
mehr Forschung erforderlich.
Teil 5 Psychoanalytische Sozialarbeit mit Kindern und
Jugendlichen
Joachim Heilmann beschreibt den Verlauf einer gelungenen
Integration eines 14-jährigen Asperger-autistischen Jungen in der
Regelschule, den er als Jungendpsychotherapeut begleitet hat.
Kinder mit Asperger-Autismus weisen oft eine partielle Hochbegabung
und/oder ein spezielles Interesse in Verbindung mit Problemen im
Sozialverhalten auf. Heilmann zeigt, dass eine Integration nur mit
einer Reihe begleitender Maßnahmen, wie der Bereitstellung einer
Schulassistenz und einer Therapie gelingen kann, allerdings unter
der Voraussetzung erstens einer gezielten Einbeziehung der
Mitschüler und zweitens einer kontinuierlich konstruktiven
Zusammenarbeit zwischen Schule, Elternhaus und Therapie.
Sylvia Künstler und Horst Nonnenmann zeigen anhand zweier
Fallbeispiele, wie Borderline-strukturierte Jugendliche im
Gegensatz zu Autisten nicht nur Attacken gegen andere Menschen,
sondern auch gegen den gemeinsamen Rahmen und Strukturen führen,
die für Autisten dagegen hilfreich sind. Die Autoren beschreiben,
wie in einigen Fällen die Ausgrenzung aus der Wohngemeinschaft
notwendig wurde, um die Betreuung der Jugendlichen neu arrangiert
und ambulant fortsetzen zu können.
Rebecca Friedmann und Silke Wolter zeigen Problematik und
Lösungsansätze beim psychoanalytisch-pädagogischen
Denkzeit-Training delinquenter Jugendlicher, die unfreiwillig
aufgrund einer richterlichen Weisung in 40 Sitzungen in der
Entwicklung ihrer sozialen Kompetenzen unterstützt werden.
David Zimmermann beschreibt sechs traumatische Sequenzen, die
Flüchtlinge oder Zwangsmigranten durchlaufen können. Da die
lebensgeschichtlichen Details zwar notwendig für ein pädagogisches
Verständnis sind, aber häufig abgewehrt und schlecht verbalisiert
werden können, sieht er im szenischen Verstehen einen möglichen
Zugang zu den Betroffenen.
Teil 6 Kritische Rückfragen
Hans von Lüpke philosophiert über zwei Zitate von Winnicott
(1945/1976) »wir sind tatsächlich arm, wenn wir nur geistig gesund
sind« und Adorno (1944/1994), nach dem »die zeitgemäße Krankheit
gerade im Normalen besteht« und die Anpassung des Individuums, sich
gesund zu benehmen »nur vermöge der tiefsten Verstümmelung
vollbracht werden könne« und argumentiert, dass die Kreativität nur
in der Kunst überleben könne.
Peter Rödler fragt, wie entlang des Individualitätsparadigmas
Außenseiter und Ausgrenzung überhaupt möglich seien. Er definiert
als Außenseiter diejenigen, die die systeminhärenten Risiken
dadurch sichtbar werden lassen, dass sie die geforderte
Arbeitsleistung nicht (mehr) erbringen können, und so die »Risiken
der plural unverbindlichen Multioptionsgesellschaft« öffentlich
machen. Als Alternative bietet er eine Rückkehr zu Martin Buber an:
»Der Mensch wird am DU zum ICH« und schließt, dass erst die
Bereitschaft, das Individualparadigma zugunsten eines
Gemeinwesen-Begriffs zu verlassen, eine Integration von
Außenseitern ermögliche.
Diskussion
Pädagogik ist nicht wertfrei, und so geht es in den theoretischen
Beiträgen dieses Buches auch um Werte, Haltungen und Einstellungen.
Es melden sich Inklusionsbefürworter zu Wort, die Inklusion,
Dilemmata und Schwachpunkte in Konzeption und Umsetzung teils auch
kritisch diskutieren. Die Inklusion selbst wird mit der
UN-Behindertenrechtskonvention aber als gegeben vorausgesetzt, es
gehe nicht um das ob, sondern um das wie (siehe Beitrag von
Katzenbach, S. 108).
Daneben wird an unterschiedlichen Fallbeispielen gezeigt, wie
Inklusion, Integration und Beratung in diesen pädagogischen
Kontexten funktioniert haben und welche Erfahrungen die Autoren
dabei gemacht haben. Den Fallbeispielen ist gemeinsam, dass viele
Ressourcen in die Integration eines Kindes investiert wurden bzw.
Voraussetzungen erfüllt sein mussten: Zusammenarbeit zwischen
Eltern, Schule, Schülern aber auch Schulbegleitung sowie
psychologische Betreuung des Kindes und der Dynamik der Gruppe.
Inklusion ist machbar, erfordert aber viel Anstrengung und
Ressourcen von allen Beteiligten. Die Überlegungen, Beispiele und
Interventionen basieren vorrangig auf
psychoanalytisch-pädagogischen Ansätzen und Verstehenszugängen.
Fazit
In diesem Sammelband über Integration und Inklusion von
Außenseitern beleuchten die Autoren verschiedene theoretische und
praktische Perspektiven auf gesellschaftliche, institutionelle und
individuelle Ausgrenzung und zeigen anhand eigener Fallbeispiele
und kurzer Vignetten, wie Ausgrenzungsprozessen entgegengewirkt
werden kann.
Rezensentin
Dipl.-Kfm. Tatjana van de Kamp
Studierte Betriebswirtschaft und Organisationspsychologie und
arbeitet als interkulturelle Trainerin.
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