Rezension zu 100 Jahre Totem und Tabu / Totem und Tabu
Jahrbuch für Literatur & Psychoanalyse. Freiburger literaturpsychologische Gespräche, Bd. 32
Rezension von Annette Vieth
Eberhard Th. Haas (Hg.): 100 Jahre »Totem und Tabu«. Freud und die
Funda- mente der Kultur
Die Botschaft in »Totem und Tabu« handelt von den
Menschheitsverhängnissen und davon, dass das Wertvollste und
Erhabenste sich Akten der Gewalt verdankt (S. 289).
Der Darmstädter Psychoanalytiker Eberhard Th. Haas hat für die
Herausgabe seines Sammelbandes mit Schriften zum wohl »riskantesten
Buch« (S. 273) Sigmund Freuds ein beeindruckendes historisches
Datum gewählt: Ein ganzes Jahrhundert ist nunmehr vergangen, seit
Freud seinen berühmt-berüchtigten kulturtheoretischen Klassiker
»Totem und Tabu« (1912-1913) publizierte. Haas’ Band versammelt in
loser chronologischer Anordnung Aufsätze, die einerseits als
»Wegmarken« für die bis heute anhaltende Auseinandersetzung mit
Freuds Text gelten können, andererseits neuere Zugänge vorstellen
und allesamt disziplinäre Brücken schlagen zwischen den
verschiedenen Fachgebieten von Psychoanalyse, Anthropologie,
Ethnologie, Literatur- und Religionswissenschaft. Den aktuellen
Beiträgen etwa von Elizabeth Bott Spillius, Wolfgang Palaver,
Herbert Will, Ulrike Brunotte sowie dem Herausgeber vorangestellt
sind so Artikel von Margaret Mead, Alfred L. Kroeber, Robin Fox,
Paula Elkisch und René Girard, die mit ihren Analysen selbst
maßgeblich zur wechselvollen Diskursgeschichte um Freuds Studie
beigetragen haben. Welch brisante kulturwissenschaftliche Relevanz
dessen Hypothesen indes auch aus heutiger Sicht besitzen, dies
versucht Haas mit seinem eigenen psychoanalytisch-religions-
psychologischen Ansatz (1) weiter zu untermauern. Der Autor nimmt
dazu eine Verknüpfung von Freuds Urvatermord-Theorem mit der
Opfertheorie René Girards vor, die Haas als
»Freud-Girard-Synthese« zusammenfasst, um somit beiden Entwürfen
zugleich eine größere konzeptionelle Konsistenz zu verleihen.
Bei »Totem und Tabu«, lange vor seiner berühmten Schrift über
»Das Unbehagen in der Kultur« (1930) entstanden sowie knapp 30
Jahre später in »Der Mann Moses und die monotheistische Religion«
(1939) von ihm erneut aufgegriffen und weiter ausgearbeitet,
handelt es sich, folgt man Freuds eigenem Urteil (2), um das
Herzstück seiner Kulturtheorie. In der in vier Teile (3)
untergliederten Abhandlung entwirft der Psychoanalysebegründer
sein Modell (4) von der kulturbegründenden Funktion des
Ödipuskomplexes, in dessen Zentrum mit dem (Tötungs- und)
Inzesttabu die Instituierung einer »verbietenden Instanz« (5)
steht, die in ihrer normierenden Kraft zur Grundvoraussetzung
gesellschaftlicher Organisation und »Zivilisation« (6) wird. In
Analogie zur Individualentwicklung ist Kultur für Freud somit
zuvorderst das Ergebnis eines Triebverzichts bzw. einer
»Kompromissbildung zwischen Triebwünschen und Kulturanforderungen«
(7). Das durch das Inzesttabu geregelte soziale Zusammenleben
bewahrt dabei durch seinen Tabucharakter gleichwohl etwas von der
ursprünglichen »Gefühlsambivalenz« gegenüber dem (geopferten)
verhasst-begehrten väterlichen Objekt, die sich
individualpsychologisch in der Bildung des Gewissens bzw. in Form
eines »inneren Zensors« (Kaltenbrunner) (8) als »Über-Ich«
niederschlägt. In Freuds Konzept steht der Ödipuskomplex also
sowohl am Ursprung der Neurose als auch der Kultur (9), Phylogenese
und Ontogenese werden in einem spiegelbildlichen Wechselverhältnis
gedacht (10).
Die im 4. Kapitel von »Totem und Tabu« aufgestellte These Freuds
vom »Mord am Urvater« durch die gegen dessen Monopol auf die Frauen
der Urhorde rebellierenden Söhne, die nach der gemeinsamen Mordtat
den Getöteten verspeisen, um sich dessen begehrte Eigenschaften
buchstäblich wie identifikatorisch einzuverleiben, und die
anschließend von Reue geplagt ein Schuldgewissen entwickeln, das
sie dazu treibt, auf die Frauen des eigenen Clans zu verzichten und
fortan Regeln der Exogamie zu befolgen, ist schon früh gerade
vonseiten der Anthropologie heftig kritisiert worden. Einer der
ersten und für sein Fach über Jahrzehnte hinaus maßgeblichen
Kritiker war der Ethnologe Alfred L. Kroeber, der seine Kritik von
1920 mit einem zweiten (hier abgedruckten) Artikel aus dem Jahre
1939 zumindest in ihrer Schärfe wieder zurücknahm, dabei nicht
zuletzt einer möglichen »tiefen psychologischen Wahrheit« (S. 26)
sowie »eine[m] der größten Denker unserer Tage« Tribut zollend (S.
31). (11) Andererseits wurde die von Freud behauptete fundamentale
Rolle des Tabus für jede Form der »Gesellschaftlichkeit« (12),
allem voran der »Inzestscheu«, nur wenige Jahrzehnte später durch
das von Claude Lévi-Strauss auf der Grundlage umfassender
anthropologischer Studien aufgestellte Theorem vom Inzestverbot als
dem zentralen Strukturierungsmoment menschlicher Gesellschaften
prinzipiell bestätigt (13). Nach Laplanche/Pontalis (1972/73 [frz.
Orig. 1967]) konvergieren beide Konzepte über ein kulturelles
Inzesttabu in der Überzeugung, dass es erst eines solchen Verbots
bedürfe, »damit aus ›Natur‹ ›Kultur‹ werde« (14). Der Anthropologe
Robin Fox brachte dies 1973 auch auf die Formel: »wie kam Homo
dazu, sapiens zu werden?« (S. 33) – eine Frage, an der »[s]owohl
Freud als auch Lévi-Strauss« interessiert gewesen seien (ebd.)
(15). Gleichzeitig setzte in der Kulturanthropologie eine
Neubewertung des Mythos ein. Bis in die Gegenwart ist eben dieser
Mythoscharakter des Freudschen »Ursprungsnarrativs« (Gutjahr) (16)
ein Dreh- und Angelpunkt verschiedenster Kritikansätze. So
kritisiert etwa Gutjahr (2005), dass in Freuds Narrativ vom
Ursprung der Kultur gerade die genuine »Kulturarbeit« der antiken
Mythen unbeachtet bleibe mit der Folge, »dass die permanente
Veränderung von Kultur und epochale Neusemantisierungen aus dem
Blick« gerieten (17).
Wie vielfach herausgearbeitet wurde, entstanden Freuds Thesen in
»Totem und Tabu« auf der Grundlage zeitgenössischer
ethnologischer, naturwissenschaftlicher sowie
religionsgeschichtlicher Wissenschaftsdiskurse um 1900,
insbesondere den Werken von Charles Darwin, Jean-Baptiste de
Lamarck, James George Frazer, William Robertson Smith und Wilhelm
Wundt. Daraus folgert von Hoff (2003): »Der Freudsche Mythos kann
als positivistische Transkription des tragischen Mythos in den
[sic] ethnographischen Termini des beginnenden 20. Jahrhundert
verstanden werden.« (18) Lässt man die ethnologischen Fragen samt
ihrer verschiebenden »Exotisierung« der ›primitiven Anderen‹ (19)
beiseite, wird Freuds Abhandlung daher auch und gerade »als Text
über die eigene Gesellschaft, über das Unbewusste des Individuums
in der Kultur« (Kraft) lesbar (20).
Einige dieser Lesarten versammelt nun der neue Band, hierbei
bewusst Schlaglichter auf konträre Positionen werfend. Neben den
historisch frühen Texten, in denen Margaret Mead (1930) und Robin
Fox (1973) aus ethnologischer Sicht gerade auf kulturelle
Verschiedenheiten und beachtlich variable Praxen in Bezug auf
Verwandtschaftssysteme, religiöse Riten, Inzesttabu u. a. m., also
auf kulturelle Differenz hinweisen, nicht ohne zudem soziale
(Macht-)Faktoren hervorzuheben, konzentrieren sich Cyrill Levitt
und Ulrike Brunotte darauf, Freuds eigenen zeithistorischen Kontext
in den Blick zu nehmen, einmal für Vergleiche mit Émile Durkheims
»Die elementaren Formen des religiösen Lebens« (1912), das andere
Mal in Bezug auf den Antisemitismus deutsch-kolonialer
Männerbundaktivisten. Anders auch als Uwe C. Steiner, der die
ödipale Situation bei Freud mit Girards Theorem der mimetischen
Gewalt bzw. »Rivalität« (S. 189) abgleicht und als »mimetisches
Dreieck« mit Michel Serres dingtheoretisch erweitert, oder Herbert
Will, der Überlegungen zu einer »Gewalt ohne Schuldgefühl«
anstellt und dabei die transformierende Kraft religiöser Elemente
hervorhebt, die als »Container« (Bion) für solch archaische
»narzisstische Gewaltimpulse« (S. 165 ff.) dienen können, zielen
schließlich die religionsgeschichtlichen und psychoanalytischen
Beiträge von Wolfgang Palaver und Eberhard Haas ganz wie ihre
Vorgänger Freud und Girard auf eher konsistente und überzeitliche
kulturpsychologische Erklärungsmodelle, laut Haas nicht zuletzt
als Beitrag zur »Orientierung« im Dickicht zunehmender
fachwissenschaftlicher »Atomisierung und Hyperkomplexität« (vgl.
S. 13 und S. 291).
Dahinter stehen höchst disparate Deutungen. Ulrike Brunotte (21)
stellt »Freuds Narrativ vom kulturstiftenden Vatermord« (S. 236)
»in die Tradition der sozialphilosophischen Gründungserzählungen
der Aufklärung« eines Thomas Hobbes oder John Locke (S. 211).
Darüber hinaus arbeitet sie mit Claudia Bruns heraus, habe Freud
»das Patchwork seiner Erzählung von der Urhorde und vom
Brüderclan freilich auch inmitten des kulturellen und
wissenschaftlichen Antisemitismus des Fin de Siècle« (S. 212)
sowie mit »deutliche[n] Affinitäten zu maskulinistischen
Positionen des Männerbunddiskurses« (S. 231) erstellt. Brunotte
zählt hierzu im Besonderen die homoerotischen Thesen Hans Blühers
über eine arisch-germanische »reine, virile Inversion« mit ihrem
»völkischen turn« (S. 225). Sie zieht das Fazit: »Letztlich war es
der siegreiche völkische Männerbund, der den Vater der
Psychoanalyse aus Wien vertrieb« (S. 239). Für Freuds Thema aus
Totem und Tabu: »kollektive Gewalt, ihre Verinnerlichung und
Ritualisierung sowie ihre Wiederkehr in der Moderne« (S. 211), wie
Brunotte hier Erdheim paraphrasiert, ist damit sicher ein weiterer
real-historischer »emotionaler Untergrund« (Erdheim) (22)
präzisiert.
Demgegenüber möchte Eberhard Haas, der hier mit zwei Beiträgen
vertreten ist, sowohl an Sigmund Freuds als auch René Girards (23)
Unterfangen einer »allgemeinen Kulturanthropologie« (S. 12) und
»kohärenten Kulturtheorie« (S. 275) festhalten, ja, er plädiert
dafür, dass der zentrale Gedanke Freuds, »dass im Ödipuskomplex
›alle Anfänge von Religion, Sittlichkeit, Gesellschaft und Kunst
zusammentreffen‹ (Freud 1912-1913) rehabilitiert und, mit [...]
Ergänzungen versehen, wiederholt und bekräftigt« werden müsse
(S. 126). Statt sich in immer weiteren Detailanalysen zu verlieren,
sei nach wie vor die Kühnheit von Freuds Text zu loben, dessen
abhanden gekommener »Bildentwurf« auf nichts Geringeres ziele als
auf »eine Entschlüsselung des Religiösen« (S. 274) (24), die hier
das eigentliche »geistige Band« für die zahlreichen kulturellen
und anthropologischen Befunde bilde: »Im Zentrum finden sich die
tragische Schuld oder die Opfer-Sündenbock-Tragödie« (ebd.), so
Haas’ Folgerung. Der Freudsche Ansatz, der die psychologische
Funktion ritueller Praktiken für die Kulturentwicklung mit der
Entstehung eines »Kultur-Über-Ich« (Freud) aus dem Schuldgefühl
erklärt, sei allerdings mit Girard zu »einer allgemeinen
Opfertheorie« zu erweitern (vgl. S. 275).
Vor diesem Hintergrund entwickelt Haas zunächst im Anschluss an
Walter Burkert seine eigene These von der sakralen
»Behälterfunktion des Rituals« (25), die die kulturellen Praktiken
vornehmlich psychoanalytisch zu deuten versucht. Es handele sich
dabei immer um »dieselbe Dramaturgie« (vgl. S. 126). Dazu Haas:
»Seelische Strukturen entstehen kraft Verstoßung des mit
Projektionen aufgeladenen Objektes« (ebd.). Nicht zuletzt
bestätigt durch die psychoanalytischen Arbeiten von Klein, Bion,
Winnicott und Loewald gehe es beim sakralen Opferritual um eine
solch kreative »Verstoßung des projizierten Eigenen«: »Als Böses
ausgestoßen, dabei einen Behälter benötigend«, vermag sich dieses
Eigene zu transformieren – eben dieser psychische Zusammenhang
zwischen »Zerstörung« und »Strukturbildung«, der sich
»theologisch« auch im Begriff der »Erbsünde« abbilde, führe hier
dazu, »dass sich die vergiftende Gewalt vom Menschen ablöst und in
einen jenseitigen, intermediären Raum verlagert«, von wo »sie als
gutes Heiliges, als haltgebende Instanz auf den Menschen
zurück[wirkt]« (S. 126-127).
»Im Anfang war die Tat.« (26) Die zentrale Schlussfolgerung aus
Freuds These vom Urvatermord als einer kollektiven Gewalttat am
Beginn der Kultur besteht für Haas wie für Girard im Verstehen
des »Heiligen« und dessen scheinbar paradoxaler Struktur einer
Opfer-Täter-Umkehrung im Sündenbockmechanismus. Auf der Grundlage
von Totem und Tabu arbeiten beide an der Gestalt des (rituellen)
Opfers den Charakter einer ursprünglich gleichermaßen kultur- und
religionsbegründenden »(heiligen) Gewalt«, die in eine
mensch(heitsgeschicht)liche »Gründungsgewalt« umschlägt, heraus
(vgl. S. 290). Mit anderen Worten: »Kultur trägt das Kainszeichen
auf der Stirn« (Steiner, S. 188). In einem solchen
kulturpsychologischen Erklärungsmodell des Religiösen, das, in
welchen rituellen Formen auch immer, in der Tat alle menschlichen
Kulturen durchzieht, liegt ohne Frage ein immenser Erkenntniswert
und -reiz. Als Versuch einer Antwort auf die bis heute in der
Menschheitsgeschichte nicht gelöste Frage der Gewalt entspricht
sie bei aller (Selbst-)Kritik (27) für Haas schlicht einem
»anthropologischen Realismus« (S. 127) (28). – Genauso könnte man
aber von einem ›anthropologischen Fatalismus‹ sprechen:
Kultur(arbeit) als Transformation von Gewalt – diese Definition
lässt die kulturellen Wurzeln und Dynamiken von Gewalt selbst
außer Acht. So kritisiert Gutjahr (2005) eben dies: Dass hier
»kulturelle Praxis« durch Freud in erster Linie als
»Symptombildungsprozess traumatischer Erfahrungen« gedeutet wird,
womit »die Aggression als Fatum« allererst bestimmt werde (29).
Andererseits zeigt sich sowohl auf dem Feld transgenerationaler
»Gefühlserbschaften« (30) als auch auf dem des (Gewalt-)Traumas
mit seinen vielfältigen »Ambivalenzkonflikten« aufseiten der Opfer
und der Täter (31), wie viel Wissensbedarf in Bezug auf die
Erforschung von Gewalt, ihre realen Ursachen und unbewussten
Übertragungsmechanismen noch besteht.
Schließlich bleibt die Frage, ob der Herausgeber mit seinem Ansatz
nicht vielleicht sogar einem Zirkelschluss aufsitzt, der die selbst
wieder Mythen bildenden Narrative Freuds und Girards nochmals
reproduziert (32). Wie sein Gegenstand ist auch Haas’ aktueller
Sammelband ein Ergebnis »heftiger und fruchtbarer Kontroversen«
(Haas, S. 7), die die nach wie vor strittigen Fragen an Freuds Text
spiegeln. So zeigt die (beabsichtigte) disparate und polyphone
Zusammensetzung der Beiträge in ihrer tendenziellen
Unvereinbarkeit quasi symptomatisch, dass die Rezeption der
Freudschen Kulturtheorie selbst in eine Glaubensfrage mündet:
Darüber etwa, ob man Freuds Kulturpessimismus (33) nun teilt oder
nicht, wie darüber, ob man Haas’ Rückwendung zum Religiösen,
insbesondere zum Christentum, folgen mag oder nicht.
Haas’ Anliegen ist der Versuch einer Ehrenrettung. Doch braucht es
das? Unabhängig ob man Freuds »Totem und Tabu« nun als
»philosophischen Mythos« (Ellenberger) (34), als »Produkt einer
Verschiebung« (Erdheim) (35) und Projektion der psychoanalytischen
Erfahrung in ein »archaisches Bild« (van Gisteren) (36), als eine
eigene Meistererzählung (vgl. auch Will, S. 154), mit der Freud
nicht zuletzt die Psychoanalyse als Fachgebiet begründete sowie
sich selbst als deren Urvater bzw. ›Übervater‹ stilisierte, als
eine »urgeschichtliche Legende« im Dienste eines die
physispsyche-Dichotomie aufhebenden (auch aktuell gepflegten)
Rückbezugs von »physiologischer Evolution und Kulturgeschichte«
(Moré) (37) oder als psychohistorisches »Ursprungsnarrativ« einer
Kulturentwicklung, bei der »die Herausbildung einer paternal
fixierten, schuldbeladenen Erinnerungskultur im Zentrum steht«
(Gutjahr) (38), oder schlicht als »Schauermärchen« (von Hoff) (39)
einstuft: Die Erklärung der Kultur ›aus dem Unbewussten‹ (40) ist
sicherlich auch weiterhin ein ebenso spannendes wie
gewinnbringendes Unterfangen.
Aus dem gegebenen Anlass wäre daher sogar noch eine sehr viel
umfangreichere Anthologie wünschenswert gewesen. Eine schöne
editorische Maßnahme ist die zusätzliche Publikation in Form einer
Doppelausgabe, die ganz demonstrativ zum eigenständigen Lesen des
Freudschen Originals einlädt (41). Erfolgt doch die größte
Anerkennung dieser gedanklichen Pionierleistung Freuds, wie Haas
selbst zeigt, in immer weiteren Um- und Neudeutungen, in
fortgesetzten Re-Lektüren – auch noch über die letzten 100 Jahre
hinaus. Oder wie es schon René Girard 1972 ausdrückte: »[...]
etwas in Totem und Tabu ist von keiner Definition einholbar« (S.
77).
Annette Vieth
1 Vgl. auch Eberhard Th. Haas: ... und Freud hat doch recht. Die
Entstehung der Kultur durch Transformation der Gewalt, Gießen 2002
sowie ders.: Das Rätsel des Sündenbocks. Zur Entschlüsselung
einer grundlegenden kulturellen Figur, Gießen 2009. 2 Vgl. Mario
Erdheim: Einleitung, in: Sigmund Freud: Totem und Tabu. Einleitung
von Mario Erdheim, 9. Aufl., Frankfurt a. M. 2005 (1991;
[1912-1913]), S. 12 sowie Haas (S. 273).
3 I. »Die Inzestscheu«, II. »Das Tabu und die Ambivalenz der
Gefühlsregungen«, III. »Animismus, Magie und Allmacht der
Gedanken«, IV. »Die infantile Wiederkehr des Totemismus«. 4 Freud
selbst bezeichnete sein kulturtheoretisches Narrativ auch als
»wissenschaftlichen Mythus« (vgl. Herbert Will: Gewalt,
Schuldgefühl und Religionsbildung [S. 151-176, hier: S. 154-155])
und die »Mordtat« am Urvater auch als ein Ereignis, »das sich in
Wirklichkeit über Jahrtausende er- streckt« hat (vgl. Alfred L.
Kroeber: Totem und Tabu im Rückblick [S. 25-31, hier: S. 31]).
5 Vgl. J. Laplanche/J.-B. Pontalis: Das Vokabular der
Psychoanalyse, Frankfurt a. M. 1972/73 [frz. Orig. 1967], S. 355. 6
Vgl. Ortrud Gutjahr: Ursprungsmythen der Kultur. Narrative
psychokultureller Entwicklung in Sigmund Freuds Totem und Tabu und
Richard Wagners Der Ring des Nibelungen, in: Dies. (Hg.):
»Kulturtheorie«, Jahrbuch für Literatur & Psychoanalyse.
Freiburger literaturpsychologische Gespräche, Bd. 24, Würzburg
2005, S. 90 f.
7 Vgl. Ludger van Gisteren: Kultur(theorie, -kritik), in: Wolfgang
Mertens/Bruno Waldvogel (Hg.): Handbuch psychoanalytischer
Grundbegriffe, 3., überarb. u. erw. Aufl., Stuttgart 2008 [2000],
S. 420-425, hier: S. 421. 8 Vgl. Ortrud Gutjahr: Tabus als
Grundbedingungen von Kultur. Sigmund Freuds Totem und Tabu und die
Wende in der Tabuforschung, in: Claudia Benthien/Ortrud Gutjahr
(Hg.): TABU. Interkulturalität und Gender, München 2008, S.
19-50, hier: S. 50.
9 Die Neurose mit ihren »individuellen Zwangssymptomen« falle somit
im »Ambivalenzkonflikt« des Ödipuskomplexes mit dem »Tabu als
soziale[m] Phänomen« zusammen (vgl. Hartmut Kraft: Tabu, in:
Mertens/Waldvogel, Handbuch, S. 747-752, hier: S. 748). 10 Die
Frage, »ob es nicht doch so etwas wie das phylogenetische Erbe
gibt«, beantwortet Haas hier mit dem Verweis: »Die Biologie, die
mit demselben Problem kämpft, kann ebenfalls nicht auf das
heuristische Prinzip einer archaischen Erbschaft verzichten«
(S.12). Zum Rückbezug ontogenetischer Prozesse auf biologische
Entwicklungen in der menschlichen Phylogenese bei Freud vgl. auch
Angela Moré: Vorstellungen von Kindheit im 18. und 19. Jahrhundert
und ihr Einfluss auf die Anfänge der Psychoanalyse. Zum
Zusammenhang von Tradierung und Erinnern bei Freud, in: Astrid
Lange-Kirchheim/Joachim Pfeiffer/Petra Strasser (Hg.):
»Kindheiten«, Jahrbuch für Literatur & Psychoanalyse. Freiburger
literaturpsychologische Gespräche, Bd. 30, Würzburg 2011, S.
19-34.
11 Als »Konstrukt« hält Kroeber Freuds »Theorie der Uranfänge der
Kultur« mit Ausnahme einiger ihrer »Prozesskonzepte« aber nach wie
vor für wissenschaftlich unbrauchbar (vgl. S. 31). Zu Kroeber
siehe auch Haas (S. 8) sowie Erdheim, Einleitung, S. 8-9. 12 Vgl.
Erdheim, Einleitung, S. 27.
13 Claude Lévi-Strauss: Die elementaren Strukturen der
Verwandtschaft, Frankfurt a. M. 1981 [frz. Orig. 1949]. In strikter
Abgrenzung zu Freuds psychologischem und triebökonomischem Ansatz
betonte der Strukturalist Lévi-Strauss dabei die sozialen Faktoren
für die von ihm untersuchten Heiratsregeln und
Verwandtschaftssysteme wie z. B. die Bildung verbindlicher
»Allianzen« auf der Grundlage von sozialen und ökonomischen
Tauschbeziehungen (Frauentausch). Vgl. auch Erdheim, Einleitung, S.
25-27; ebenso Claudia Benthien: ›Inzestscheu‹ und Tragödie
(Sophokles, Racine, Schiller), in: Benthien/Gutjahr, TABU, S.
73-99, hier: S. 77.
14 Vgl. Laplanche/Pontalis, Vokabular der Psychoanalyse, S.
355.
15 Robin Fox: Ein neuer Blick auf Totem und Tabu (S. 33-50, hier:
S. 33). 16 Vgl. Benthien/Gutjahr, TABU, S. 24 und S. 25. 17 Vgl.
Gutjahr, Ursprungsmythen, S. 97. 18 Dagmar von Hoff:
Familiengeheimnisse. Inzest in Literatur und Film der Gegenwart,
Köln/Weimar/Wien 2003, S. 66.
19 Vgl. Erdheim, Einleitung, S. 7, S. 21-23 und S. 40. Ute Frietsch
spricht auch vom »rassistischen Bias« eines Entwicklungsgedankens,
wie ihn nicht zuletzt Freuds ethnopsychologischer Link zwischen den
»Wilden« und »Neurotikern« dokumentiert. Vgl. Ute Frietsch: Der
Wille zum Tabu als Wille zum Wissen, in: Ute Frietsch/Konstanze
Hanitzsch/Jennifer John/Beatrice Michaelis (Hg.): Geschlecht als
Tabu. Orte, Dynamiken und Funktionen der De/Thematisierung von Ge-
schlecht, Bielefeld 2008, S. 9-16, hier: S. 11.
20 Vgl. Kraft, Tabu, in: Mertens/Waldvogel, Handbuch, S. 749; vgl.
ebenso bereits Erdheim, Einleitung, S. 23.
21 Ulrike Brunotte: Brüderclan und Männerbund. Freuds
Kulturgründungstheorie im Kontext neuerer kulturanthropologischer
und gendertheoretischer Ansätze (S. 209-242). Vgl. kritisch hierzu
Haas (S. 12 und S. 289). 22 Vgl. Erdheim, Einleitung, S. 23.
23 Der Band beinhaltet René Girards Originaltext »Totem und Tabu
und die Inzestverbote« aus dem Jahre 1972 (S. 77-98). 24 »Da
bislang keine Kultur ohne Religion gefunden wurde, drängte sich
dieser Zugang auf« (S. 290), begründet Haas seinen eigenen Link
von Religions- und Kulturentwicklung explizit.
25 Vgl. den Artikel von Haas: Die Behälterfunktion des Rituals.
Versuch der Rekonstruktion von Totem und Tabu, S. 99-128. 26 Freud,
Totem und Tabu. Einleitung von Mario Erdheim, S. 217. 27 »Diese
allgemeine Kulturtheorie, deren Herzstück der
Opfer-Sündenbock-Mechanismus ist, muss zwangsläufig
reduktionistisch sein und kann nur ein grobes Raster darstellen«
(S. 291), merkt Haas selbst einschränkend an.
28 Denn, so Haas: »Die bittere Wahrheit lautet, Ursprungsmythen
handeln von realen Ereignissen, die jedoch in entstellter Form
überliefert werden, weil die nackten Tatsachen inkommensurabel
sind« (S. 289). 29 Vgl. Gutjahr, Ursprungsmythen, S. 93. Ebenso
vgl. Gutjahr, Tabus als Grundbedingungen, S. 45. Ähnlich
argumentiert überdies Reemtsma (2008), vgl. hier Will, S. 162.
30 Vgl. Freud, Totem und Tabu, S. 214; vgl. auch Moré,
Vorstellungen von Kindheit, S. 21 ff. Siehe außerdem meine
Besprechung des Buches von Jan Lohl im vorliegenden Jahrbuch-Band.
31 Vgl. Mathias Hirsch: Schuld, Schuldgefühl, in:
Mertens/Waldvogel, Handbuch, S. 671-677. 32 So bemängelt Uwe C.
Steiner an Freuds Konzeption, hier würden »psychische Prozesse mit
psychischen Prozessen begründet« (S. 182). Vgl. ähnlich Gutjahr,
Ursprungsmythen, S. 97.
33 Vgl. ebenso Gutjahr, Ursprungsmythen, S. 89. 34 Vgl. von Hoff,
Familiengeheimnisse, S. 64. 35 Vgl. Erdheim, Einleitung, S. 23. 36
Vgl. van Gisteren, Kultur(theorie, -kritik), in: Mertens/Waldvogel,
Handbuch, S. 422. 37 Vgl. Moré, Vorstellungen von Kindheit, S.
26-31.
38 Vgl. Gutjahr, Tabus als Grundbedingungen, in: Benthien/Gutjahr,
TABU, S. 26. 39 Vgl. von Hoff, Familiengeheimnisse, S. 67. 40 Vgl.
ebd., S. 65. 41 Eberhard Th. Haas (Hg): 100 Jahre »Totem und Tabu«.
– Sigmund Freud: Totem und Tabu [seitenidentisch mit Band IX der
Gesammelten Werke], Gießen 2012. – [Paket mit beiden Bänden zum
Sonderpreis].