Rezension zu Revolution der Seele
Jahrbuch für Literatur & Psychoanalyse. Freiburger literaturpsychologische Gespräche, Bd. 32
Rezension von Krischan Fiedler
George J. Makari: Revolution der Seele. Die Geburt der
Psychoanalyse
»Four years after its publication, Revolution in Mind has developed
a life of its own« (1), schreibt George J. Makari – Psychiater,
Psychoanalytiker und unter anderem Direktor des Institute for the
History of Psychiatry am Weill Cornell Medical College – zur
Rezeption seiner Geschichte der Psychoanalyse. Jetzt lebt
»Revolution in Mind. The Creation of Psychoanalysis«, 2008 bei
HarperCollins erschienen, nicht mehr nur in den zahlreichen
Rezensionen, sondern auch in der deutschen Übersetzung weiter.
Nach Paul Auster hat Makari »nichts Geringeres geschrieben als eine
Geschichte des modernen Geistes.« (2) Makari füllt eine Lücke der
Forschung – dennoch ist »Revolution der Seele. Die Geburt der
Psychoanalyse« nicht die »Geschichte des modernen Geistes«. Laut
Makari selbst »ist bislang – während [...] hunderte von
Freud-Studien und -Biografien geschrieben wurden – keine umfassende
Darstellung des Aufstiegs der Psychoanalyse an ihrer Geburtsstätte
geliefert worden« (S. 10 f.). Und doch ist Revolution der Seele
auch nicht die erste umfassende Geschichte der Psychoanalyse –
Makari verkennt etwa Henry F. Ellenbergers Kultur- und Eli
Zaretskys Sozialgeschichte der Psychoanalyse (3). Revolution der
Seele muss anders in den Blick genommen werden: Makari hat weder
die erste umfassende Geschichte der Psychoanalyse noch die
»Geschichte des modernen Geistes« geschrieben – aber Revolution der
Seele ist die erste umfassende Geistesgeschichte der
Psychoanalyse.
Makari unterscheidet für die ›Geburt‹ der Psychoanalyse drei
Phasen. Sie entsprechen in »Revolution der Seele« den drei Teilen:
»Die Entstehung der Freud’schen Theorie« (S. 17-155), »Die
Entstehung der Freudianer« (S. 157-347) und »Die Entstehung der
Psychoanalyse« (S. 349-546). Alle drei Teile überzeugen sowohl
durch Detailliertheit als auch durch Klarheit, aber der erste Teil
beeindruckt noch einmal besonders: En détail und eloquent, weder
als Freud-Idealisierung noch als Freud-Polemik, entwickelt Makari
Sigmund Freuds Synthese von französischer Psychopathologie, Bio-
und Psychophysik sowie Sexualforschung, das heißt Freuds Konzept
der Psychosexualität. Makari beginnt mit der psychologie nouvelle,
einem Entwurf Théodule Ribots gemäß dem Positivismus Auguste
Comtes: Ribots psychologie nouvelle sei auf
Assoziationspsychologie, Vererbungstheorie sowie auf die
Beobachtung Geisteskranker gestützt. Sie sei von Philosophie und
Religion befreit und mit den Naturwissenschaften und dem Experiment
verwandt. Doch Ribots Psychologie widerspreche Comte auch: »[D]er
Begründer des Positivismus glaubte, dass der psychologischen
Erkenntnis ein unlösbares Problem zugrunde lag«, nämlich die
Subjektivität eines »Wissen[s], das von einem sich selbst
beobachtenden Geist stammte« (S. 21). Diese Kritik, wenn auch auf
die Beobachtung von Patienten erweitert, zum Beispiel durch
Konzepte wie Suggestion und Gegenübertragung, begleitet und
bestimmt – das rekonstruiert Makari mit starker Evidenz – die
gesamte Entwicklung der Psychoanalyse. Auf Ribot folge Jean-Martin
Charcot, »[a]ls Arzt, Neurologe und strenger Positivist glaubte er,
dass die Psyche einfach eine Begleiterscheinung der Hirnfunktionen
sei, nicht mehr als Schaum, den das Meer aufwühlt« (S. 25).
Charcot habe die hysterischen und hypnotischen Zustände seiner
Patienten an der Salpêtrière in Stadien eingeteilt und mit
Vererbung begründet. Aber er entdeckte – so Makari –, dass
Suggestionen und sogar Autosuggestionen bei hypnotisierten
Hysterikern oder traumatisierten Patienten zu einer Lähmung
führten. Charcot und seine Kollegen »brauchten [...] ein Modell
dafür, wie sich eine Vorstellung auf den Körper auswirken konnte.
Das heißt, Charcot benötigte eine Psychologie. Damit begaben sich
der berühmte Positivist und seine Anhänger direkt in Auguste
Comtes verbotenen Garten« (S. 29). Während seines Besuchs an der
Salpêtrière habe Freud von Charcot gelernt, dass durch Hysterie
oder Traumata »abgespalten[e] Vorstellungen unbehindert und
unwillkürlich auf den Körper [...] wirken« (S. 29). Nach seiner
Rückkehr aus Paris sei Freud zu Charcots Übersetzer, zu »Charcots
Mann in Wien« (S. 41), avanciert. So habe Hippolyte Bernheim mit
seiner Kritik, Hypnotisierbarkeit und Suggestibilität seien nicht
pathologisch, sondern verbreitet – Charcots Hysterie-Stadien seien
selbst suggeriert –, nicht nur Charcots, sondern auch Freuds
Karriere gefährdet. Doch Freud vermochte – auch das dekuvriert
Makari mit großer Schlüssigkeit –, »Debatten umzudeuten und sie
auf den Kopf zu stellen« (S. 47), »in entscheidenden Debatten das
Kommando zu übernehmen« (S. 48). Als Bernheims Übersetzer habe er
gefragt, was Hypnotisierbarkeit und Suggestibilität begründe –
»sodass er die Grenzen zwischen Beobachter und Beobachtetem, die
für die wissenschaftliche Erkenntnis so entscheidend waren,
nochmals bestätigte« (S. 47). Als Charcots Übersetzer habe Freud
die Wirkung der Traumata sowie der Autosuggestionen bekräftigt und
die Hysterie- und Hypnose-Stadien sowie die Degenerationstheorie
verworfen. In den Studien über Hysterie präsentiere Freud als
hysterische Ätiologie einen psychischen Konflikt: »Freud hatte der
Psyche die Macht gegeben, sich selbst zu verwunden« (S. 61). Auch
distanziere Freud sich von der Hypnose. So erweitere er Josef
Breuers und Bertha Pappenheims ›kathartische Methode‹, die
›Redekur‹, zur ›psychischen Analyse‹, zur »bewusste[n] Suche nach
Unterbrechungen in Assoziationen und falschen Verknüpfungen« (S.
62).
Makari fährt im ersten Teil seines Buches mit der Bio- und der
Psychophysik fort (und führt diese Wissenschaftsströmungen auf
Immanuel Kants ›kopernikanische Wende‹, Friedrich Schellings
Naturphilosophie und Arthur Schopenhauers Die Welt als Wille und
Vorstellung zurück). Biophysiker wie Emil Du Bois-Reymond, Hermann
von Helmholtz, Carl Ludwig, Ernst Brücke, Sigmund Exner und
Theodor Meynert hätten konstatiert, »dass das Geistesleben die
Interaktion mechanistischer Energien und Kräfte sei« (S. 79).
Freuds Lehrer Meynert habe behauptet, automatische, ererbte Reflexe
würden mit erworbenen, assoziationsgesteuerten Reflexen
konkurrieren. Meynert stelle – Freuds spätere Theorie
›antizipierend‹ – »das Ur-Ich als eine Ansammlung angenehmer
körperlicher Empfindungen dar. Unangenehme Empfindungen würden
durch Abwehr vom Selbst abgedrängt [...]. Darüber hinaus bilde
sich mit der Zeit ein sekundäres Ich heraus, das in einen heftigen
Konflikt mit dem primären Körper-Ich geraten könne« (S. 81).
Meynert identifiziere außerdem Vorstellungen mit Neuronen und
reduziere so den Geist auf das Gehirn. Die Biophysik führe zur
Psychophysik, zum Beispiel vertreten durch Ernst Weber, Gustav
Fechner, Hermann von Helmholtz und Wilhelm Wundt. Fechner habe die
Interaktion von Psychischem und Physikalischem untersucht und so
die ›Schwellenwerte‹ entdeckt, eine psychische Bewusstseinsgrenze
für physische Reize. Schon Johann Friedrich Herbart habe
›Schwellenphänomene‹ erwähnt und eine »Theorie des psychischen
Konflikts« entwickelt, »in der sich Vorstellungen in ihrem
Bewusstseinskampf energisch gegeneinander stellten. Dies lief auf
die Unterdrückung bestimmter Vorstellungen hinaus, während andere
es in unsere bewusste Erkenntnis schafften« (S. 89). Im »Entwurf
einer Psychologie« übersetze Freud die bio- und
psychophysikalischen Modelle der Abwehr in ein eigenes Modell der
Psyche: Im Rekurs auf Helmholtz’ Energieerhaltungssatz und eine
Meynert’sche Verbindung von Psychologie und Anatomie experimentiere
er mit pseudowissenschaftlichen Begriffen wie Phi-, Psi- und
Omega-Neuronen. Noch in der Traumdeutung finde sich der Einfluss
der Bio- und Psychophysik (neben dem Einfluss von Ereignissen wie
dem Tod des Vaters, einer Selbstanalyse und dem Traum zu ›Irmas
Injektion‹). Aus der Freud’schen Theorie des Traumes, nach der ein
Traum einen Urwunsch erfülle und die Traumarbeit den Urwunsch
entstelle, um ihn der Zensur zu entziehen, folge das topografische
Modell der Psyche: Freud »postulierte, dass die bewussten und
unbewussten geistigen Bereiche durch eine Barriere getrennt seien.
Im Gegensatz zu Fechners Vorstellung einer einfachen Reizschwelle
sprach Freud jedoch von einem aktiven Schutzschirm« (S. 103).
Makari schließt den ersten Teil seiner Darstellung mit der
Sexualforschung, mit Freuds Suche nach den Inhalten der unbewussten
Wünsche und Traumata sowie des psychischen Konflikts. Freud habe
behauptet, dass übermäßige sexuelle Aktivität, insbesondere
Masturbation, immer Neurasthenie, das heißt beispielsweise
Erschöpfung, Unwohlsein und Lethargie, auslöse. Auch würden
sexuelle Enthaltsamkeit zu Angstneurosen und sexueller Missbrauch
in der Kindheit zu Hysterie führen. Zu Freuds Kritikern habe –
neben Breuer, der Freuds Theorie öffentlich verteidigt, aber
privat missbilligt habe – Richard von Krafft-Ebing gezählt. In
Psychopathia Sexualis. Eine klinisch-forensische Studie
unterscheide Krafft-Ebing vier Perversionen, den Sadismus, den
Masochismus, den Fetischismus und die Inversion. Krafft-Ebing habe
Homosexualität zunächst mit krankhaft-degenerativer Vererbung,
dann aber mit natürlich-biologischer Abweichung erklärt. Seine
Theorien zur Homosexualität hätten wiederum mit der Theorie von
Albert von Schrenck-Notzing konkurriert. Schrenck-Notzing habe
behauptet, dass Perversionen durch Suggestion und Psychotherapie zu
›heilen‹ seien. Er habe konstatiert, »dass Perversionen auf starke
Vorstellungen, die sich im noch undifferenzierten Kind durchsetzen,
zurückzuführen seien« (S. 122). Freud verband – so Makari – seine
›Verführungstheorie‹, nach der sexueller Missbrauch in der
Kindheit für spätere Neurosen verantwortlich sei, mit der
›Verführungstheorie‹ der Sexualforscher, nach der sexueller
Missbrauch in der Kindheit für spätere Perversionen
verantwortlich sei. Er beschränkte – so Makari weiter – seine
Theorie auf Missbrauch durch den Vater: »Missbrauchte Jungen
wuchsen zu perversen, pädophilen Vätern heran, die den
Traumatisierungskreislauf mit ihren eigenen Kindern fortführten.
Missbrauchte Mädchen reagierten mit Verdrängung und wurden
neurotisch« (S. 125). Freud habe gefolgert: »Hysterie war das
Negativ der Perversion« (S. 125). Doch seine Therapien seien
gescheitert und seine Theorie habe durch die hohe Anzahl von
Hysterikern eine hohe Anzahl von pädophilen Vätern gefordert.
Kaum ein Hysteriker habe sich an einen Missbrauch durch den Vater
erinnert. Freud sei zur ›Masturbationsthese‹ zurückgekehrt:
Sexualforscher hätten konstatiert, dass Kinder keinen Sexualtrieb
besäßen und nur durch Missbrauch masturbierten. Freud
argumentierte – so Makari –, dass »ein[e] nicht spezifiziert[e]
Ursache für sexuelle Erregung [...] das Kind [...] in einem
Entzugszustand zurückließ. [...] Während dieses intensiven
Lustzustands ersann das Kind sexuelle Fantasien und begann zu
masturbieren [...]. Wurde diese Masturbation schließlich
verdrängt, setzte die Neurose ein« (S. 127). »Fast nebenbei«, so
Makari weiter, »fügten diese Übergangsideen [...] ein
entscheidendes neues Element hinzu« (S. 127) – die Fantasie.
Später habe Freud dann Havelock Ellis’ Begriff des Autoerotismus
aufgegriffen, die Theorie zum Missbrauch verworfen und stattdessen
eine Entwicklung von Sexualität angenommen, die nicht präsexuell,
sondern eben autoerotisch einsetze. Im Bruchstück einer
Hysterie-Analyse, dem Fall Ida Bauer, kompiliere Freud seine
Thesen, »etwas [...], an das er selbst nicht mehr glaubte« (S.
131), und suggeriere sie seiner Patientin: »Fließ wusste, dass die
seltsame ätiologische Formulierung, die Freud in Doras Träumen zu
entdecken schien, exakt der Arbeitshypothese entsprach, die er
aufgestellt hatte, noch bevor er die Frau jemals getroffen hatte«
(S. 137). In den »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie«, einem
»Paukenschlag« (S. 142), gehe Freud von einem Sexualtrieb in
darwinistischer Tradition aus und teile die Libido in Impuls,
Objekt und Ziel auf. Er verweise auf die Forschung zur
Homosexualität – zwar sei Homosexualität keine Degeneration, aber
sowohl eine angeborene Variante als auch ein erworbenes Merkmal:
»Die Libido war nicht entweder angeboren oder erworben. Diese
falschen Dichotomien mussten gegen eine Theorie eingetauscht
werden, die zeigte, wie angeborene Faktoren den Umweltfaktoren auf
halbem Weg entgegenkamen« (S. 141). Freud erkläre Neurosen mit
verdrängten Perversionen und behaupte, »wir seien alle ein wenig
hysterisch, was nun bedeutete, dass wir alle auch ein wenig pervers
waren« (S. 142). Er verorte die Perversion in der Kindheit: »Für
Freud waren Kinder pervers und Perverse waren noch immer Kinder«
(S. 144). Zwischen 1885 und 1905 habe Freud komplexe Debatten aus
der Psychologie und Psychopathologie aufgegriffen,
Auseinandersetzungen über die Psyche und das Gehirn, Erbe und
Umwelt, innere Ursache und äußere Erfahrung, Perversion und
Neurose, normale und anomale menschliche Verhaltensweisen,
individuelle Entwicklung und Evolu- tion, Angst und Lust, und am
Ende konnte er seine Antworten in einem höchst theoretischen
Begriff zusammenfassen: Psychosexualität. Ribot, Charcot,
Bernheim, Janet, Brücke, Helmholtz, Exner, Meynert, Breuer, Fließ,
Fechner, Hering, Lipps, Wundt, Krafft-Ebing, Schrenck-Notzing,
Moll, Möbius, Haeckel, Lamarck und Darwin: All diese Männer
rissen sich darum, einige eben dieser Fragen zu beantworten. Doch
nach wiederholten Bemühungen, drastischen Fehlschlägen und einer
Reihe geschickter theoretischer Gefechte zum Abschluss war es
Sigmund Freud, der die gewaltige Komplexität dieser Probleme
packte und durch Synthese eine Theorie der Psyche aufbaute, die von
großer Tragweite und Aussagekraft, aber dennoch atemberaubend
einfach war: die Psychosexualität. [...] Freuds Synthese war viel
mehr als eine Möglichkeit, eine hysterische Zuckung verschwinden
zu lassen. Sie war ein neuer diskursiver Raum, der die
Geisteswissenschaft zur Naturwissenschaft machte. Sie erweiterte
die Naturwissenschaft, sodass sie die großen Fragen des
menschlichen Innenlebens aufgreifen konnte – den Raum, den die
großen psychologischen Romane und die Dichtung der Franzosen, der
Russen und Engländer erforschten; die Charakterstudien des
Theaters von Aischylos und Shakespeare bis Ibsen und Schnitzler;
die aufschlussreichen Lehren aus der Menschheitsgeschichte sowie
die Aufzeichnungen der menschlichen Fantasie und des menschlichen
Glaubens an Religion, Märchen und Mythen. Durch diese Verflechtung
schien die Wissenschaft vor einer beschämenden Armut gerettet und
die Geisteswissenschaft gemäß universeller Prinzipien verstanden
werden zu können (S. 152 f.).
Im zweiten Teil von Revolution der Seele stellt Makari die erste
Generation von Freudianern vor – das heißt etwa die Psychologische
Mittwoch-Gesellschaft sowie ihre Verbindung zur Medizin und
Sozialbewegung in Wien, sodann Paul Eugen Bleuler und Carl Gustav
Jung sowie deren Anbindung an das Burghölzli in Zürich, des
Weiteren Ernest Jones in London, Phillip Stein und Sándor Ferenczi
in Budapest, Abraham Arden Brill in New York, Max Eitingon und Karl
Abraham in Berlin und schließlich Otto Gross und Ludwig Binswanger.
Makari arbeitet minutiös alle Brüche in dieser Generation auf und
stellt so schlüssig eine erste Bestimmung von Freud’scher
Psychoanalyse her: Spätestens mit dem Nürnberger Kongress 1910
und der Gründung der Internationalen Psychoanalytischen
Vereinigung sei eine Grenze [...] gezogen worden, und diejenigen,
die sie überspannen wollten, hatte man ausgestoßen. Es gab keinen
Bleuler, keinen Jung, kein Burghölzli für Ausbildung und
Forschung; die gesamte Züricher Schule war weg. Es gab keinen
Adler oder Stekel, und die Sexualrevolutionäre wie Fritz Wittels
waren gezähmt oder verdrängt worden. [...] Sigmund Freud hatte
seine Gemeinschaft von teilweise Gläubigen, Konkurrenten und
potenziellen Nachfolgern gesäubert. [...] Die psychoanalytische
Bewegung hatte einmal alle Denker und Kliniker willkommen geheißen,
die einen Teil von Freuds Methode, Theorie und Herangehensweise
übernommen hatten, und auch die, die aus den Disziplinen stammten,
auf die Freud sich beim Aufbau seines Fachgebiets gestützt hatte.
Jetzt nicht mehr. Ab 1914 bestanden die Freudianer darauf, dass nur
das uneingeschränkte Bekenntnis zur Freud’schen Psychosexualität
bedeutete, ein Psychoanalytiker zu sein (S. 346 f.).
Doch nach dem Krieg – so zeigt Makari im dritten Teil – war es
Freud selbst, der die Psychoanalyse revolutionierte, der den
Triebdualismus von Eros und Thanatos und das Strukturmodell der
Psyche mit Es, Ich und Über-Ich proklamierte. Nicht nur für diese
Revolution, sondern auch für alle anderen Umbrüche dekuvriert
Makari die Freud’sche Strategie, oppositionelle Theorien erst
abzuwehren und koalitionäre Theoreme dann zu besetzen: Makari
verfolgt das Konzept des Thanatos von Wilhelm Stekel über Theodor
Reik bis zu Sabina Spielrein und führt den Begriff des Es zurück
auf Georg Groddeck. Er gelangt auch zur Neubestimmung von
Psychoanalyse in der Zwischenkriegszeit: Nach der Freud’schen
Revolution und der Institutionalisierung der Psychoanalyse komme es
durch Innovationen der Theorie bloß noch zum Streit – etwa zwischen
Anna Freud und Melanie Klein –, durch Innovationen der Technik aber
zum Ausschluss – etwa von Otto Rank. Aus Freudianern würden
Psychoanalytiker: »Freud stellte seine eigene Theorie des
Unbewussten infrage und half [...] auf diese Weise dabei, sein
Fachgebiet nicht zu einem weiteren geschlossenen Denksystem werden
zu lassen [...]. Nach 1918 verwandelten radikale Verän- derungen
die freudianische Forschung in ein breiteres, facettenreicheres,
offeneres und letztendlich populäreres Fachgebiet. Scharen
freidenkerischer Männer und Frauen strömten zu dieser
reformierten Gemeinschaft, und die Mitglieder der Bewegung
begannen, sich selbst anders zu sehen. Viele nannten sich nicht
länger Freudianer und fingen an, sich als Psychoanalytiker zu
betrachten. Die große Blütezeit der Psychoanalyse fand zwischen
1918 und 1938 statt. Es sollte die beste Zeit werden – und die
schlimmste« (S. 356).
Makaris Buch überzeugt stilistisch, und zwar auch auf Deutsch.
Selbst wenn schon die Übersetzung von ›Revolution in Mind‹ mit
›Revolution der Seele‹ der Ambiguität von ›Revolution des Geistes‹
und ›Revolution im Sinn (haben)‹ entbehrt: Alle Übersetzungen
ebnen alte Mehrdeutigkeiten ein und graben neue Bedeutungen aus.
Antje Beckers Übersetzung verbindet nicht nur Makaris Duktus mit
einem eigenen Stil, sondern auch amerikanische mit deutscher
Wissenschaftssprache. Die deutsche Ausgabe besitzt zudem besonders
umfassende und hilfreiche Namens- und Sachregister.
In neueren Forschungsarbeiten wird behauptet, die Psychoanalyse
stecke in der Krise. Im Vorwort des Psychosozial-Verlags zur Reihe
Bibliothek der Psychoanalyse, in der auch »Revolution der Seele«
erschienen ist, wird konstatiert, die Psychoanalyse sei »von
Zersplitterung bedroh[t]« und habe »[i]m Zuge ihrer Etablierung als
medizinisch-psychologisches Heilverfahren [...] ihre
geisteswissenschaftlichen, kulturanalytischen und politischen
Ansätze vernachlässigt.« Die Behauptung einer ›Krise der
Psychoanalyse‹ mag einerseits überraschen: Die Geschichten der
Psychoanalyse werden begeistert rezipiert. Die Behauptung mag
andererseits unterstreichen: Die Geschichten der Psychoanalyse
müssen sich stärker aufeinander beziehen. – Das Erscheinen von
Makaris Buch macht diese Kritik zur letzten großen Aufgabe für
weitere historiografische Gesamtdarstellungen der Psychoanalyse.
»Revolution der Seele« wird nicht erst zu einem Standardwerk der
Psychoanalyse, es ist schon eines.
Krischan Fiedler
1 George J. Makari: Reforming Psychoanalysis Again (01.03.2012),
in: Psychology Today, URL:
http://www.psychologytoday.com/blog/revolution-in-mind/201203/reforming-psychoanalysis-again
(14.05.2012).
2 Paul Austers Äußerung findet sich in einer deutschen
Übersetzung auf dem Rückdeckel des Buches und im englischen
Original auf der Internetseite von Harper Collins: »George Makari
has written nothing less than a history of the modern mind«.
URL: http://www.harpercollins.com/books/Revolution-in-Mind-George-
Makari?isbn=9780061346620&HCHP=TB_Revolution+in+Mind
(27.07.2012). Eine unabhängige Publikation des Zitats, zum
Beispiel im Rahmen einer Rezension, konnte nicht ausfindig gemacht
werden.
3 Die Auswahl dieser Beispiele enthält keine Bewertung anderer
historischer Darstellungen der Psychoanalyse. Mit Henry F.
Ellenberger: The Discovery of the Unconscious. The History and
Evolution of Dynamic Psychiatry, New York 1970 und Eli Zaretsky:
Secrets of the Soul. A Social and Cultural History of
Psychoanalysis, New York 2004 sind aber zwei besonders umfassende
und erfolgreiche Geschichten der Psychoanalyse genannt.