Rezension zu Psychoanalytisch-pädagogisches Können (PDF-E-Book)
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Rezension von Prof. Dr. Thilo Naumann
Wilfried Datler, Urte Finger-Trescher u.a. (Hrsg.):
Psychoanalytisch-pädagogisches Können
Thema
Das Jahrbuch für Psychoanalytische Pädagogik widmet sich anlässlich
der 20. Ausgabe grundlegenden Fragen des Lehrens, Lernens und
Anwendens Psychoanalytischer Pädagogik. Getragen wird die
Auseinandersetzung durch eine pädagogische Haltung, die sich der
instrumentalistischen Anwendung theoretischer Begriffe in der
Praxis widersetzt, sondern schon beim Lehren und Lernen auf die
enge Verzahnung rationaler und affektiver Erkenntnisprozesse setzt.
Auf diese Weise sollen sich psychoanalytisch-pädagogische
Kompetenzen entwickeln, die dann auch in der pädagogischen Praxis
zur Entfaltung kommen können.
Herausgeberin und Herausgeber
Urte Finger-Trescher ist Privatdozentin, Doktorin der Philosophie,
Diplom-Pädagogin, Gruppenanalytikerin sowie Kinder- und
Jugendlichenpsychotherapeutin. Sie ist Mitglied im Frankfurter
Arbeitskreis für Psychoanalytische Pädagogik (FAPP), arbeitet als
Leiterin der Beratungsstelle für Eltern, Kinder und Jugendliche der
Stadt Offenbach und lehrt an den Universitäten Kassel und Wien.
Wilfried Datler ist professoraler Leiter des Arbeitsbereichs
Psychoanalytische Pädagogik am Institut für Bildungswissenschaften
der Universität Wien sowie stellvertretender Vorsitzender der
Arbeitsgemeinschaft für Psychoanalytische Pädagogik (APP) in Wien.
Neben zahlreichen weiteren Aufgaben ist er Lehranalytiker im
Österreichischen Verein für Individualpsychologie.
Johannes Gstach ist Assistenzprofessor im Arbeitsbereich
Psychoanalytische Pädagogik am Institut für Bildungswissenschaften
der Universität Wien.
Aufbau und Inhalt
Das Buch umfasst sechs Beiträge zum Themenschwerpunkt, zwei »freie
Beiträge« sowie eine Literaturumschau und Rezensionen zu
Publikationen aus dem Feld Psychoanalytischer Pädagogik. Die
Beiträge im Einzelnen:
Der Themenschwerpunkt wird eröffnet durch den Text »Das Jahrbuch
für Psychoanalytische Pädagogik wird 20. Oder: Das Jahrbuch als Ort
des Nachdenkens über psychoanalytisch-pädagogisches Können« von
Christian Büttner, Wilfried Datler und Urte Finger-Trescher.
Einerseits rekonstruieren die AutorInnen die Geschichte des
Jahrbuchs – von den Debatten zu Psychoanalyse, Pädagogik und
kritischer Gesellschaftstheorie im Kontext der Frankfurter Schule,
über die Wiederaufnahme dieser Debatten vor allem durch Aloys Leber
an der Universität Frankfurt, die Gründung des FAPP im Jahre 1983
bis hin zur Publikation des ersten Jahrbuchs im Jahre 1989. Auch
die Gründung der APP im Jahre 1997 und die damit verknüpfte
finanzielle Unterstützung der Publikation durch das Institut für
Bildungswissenschaften der Universität Wien werden als bedeutsame
Wegmarke erwähnt. Andererseits formulieren sie Leitlinien
psychoanalytisch-pädagogischen Könnens. Diese umfassen vor allem
die Fähigkeiten, affektive Prozesse in pädagogischen Beziehungen
wahrzunehmen, diese Erkenntnisse im Dienst förderlicher
Entwicklungsprozesse in der pädagogischen Praxis zu berücksichtigen
sowie die Bedeutung von Rahmen und Setting zu reflektieren.
In ihrem Beitrag »Psychoanalytisch-pädagogisches Können und die
Funktion gruppenanalytischer Selbsterfahrung« begründet Urte
Finger-Trescher die außerordentliche Bedeutung von
Gruppenselbsterfahrung für PädagogInnen. Insbesondere die
gruppenanalytische Selbsterfahrung macht für PädagogInnen die
Funktionsweise und Dynamik von Gruppen erlebbar, etwa projektive
Identifizierung, »temporäre psychische Kollision« oder auch die
Gruppe als Übergangsraum, in dem »Affektbildung« gelingen kann
(S.39ff.). Auf diese Weise wächst einerseits ein vertieftes
Verständnis für pädagogische Prozesse, die sich auch überwiegend in
Gruppen abspielen. Andererseits können die PädagogInnen eigene
verinnerlichte Konflikte in der Gruppe kennenlernen und bearbeiten.
Unbewältigte Konflikte müssen dann nicht in der pädagogischen
Beziehung ausagiert werden, weil die PädagogInnen das reale Kind
und das Kind in ihnen genügend gut zu unterscheiden vermögen.
Michael Wininger stellt in seinem Beitrag »›Reflection in action‹
im Dienst pädagogischer Professionalisierung.
Psychoanalytisch-pädagogische Überlegungen zur Vermittlung
sonderpädagogischer Kompetenzen an Hochschulen« das
Lehr-Lern-Projekt »Therapeutischer Begleiter« vor, das von 2002 bis
2010 als Kooperationsprojekt zwischen den Wiener Instituten für
Erziehungshilfe und dem Arbeitsbereich Psychoanalytische Pädagogik
der Universität Wien durchgeführt wurde. Anhand eines Fallbeispiels
plädiert er für »wissenschaftsgestützte Zugänge zur Erfassung,
Analyse und Reflexion pädagogischer Praxis« (S.58), die
vorschnelles Intervenieren verhindern helfen und auf der Basis des
Verstehens von Beziehungsdynamiken erst Entwicklungsräume
eröffnen.
Im Beitrag »Das heimliche Curriculum der Psychoanalytischen
Pädagogik« berichtet Manfred Gerspach in ebenso persönlichen wie
politisch-emanzipatorischen Worten zunächst davon, wie er in seinem
Studium in den frühen 1970er Jahren an der Universität Frankfurt
den auf Anpassung drängenden heimlichen Lehrplan einer
behavioristischen Psychologie angesichts der Präsenz Kritischer
Theorie und befeuert durch das Wirken Aloys Lebers subversiv zu
lesen begann und sein Interesse zunehmend auf den Zusammenhang
subjektiver und objektiver Beschädigung, die Kooperation von
Psychoanalyse und Gesellschaftskritik sowie auf Psychoanalytische
Pädagogik richtete. Daran anschließend erläutert er das Lebersche
Projektseminar mit der Trias von Theorie, Praxis und
Praxisreflexion, dessen modifizierte Übernahme in den
Bachelorstudiengang Soziale Arbeit an der Hochschule Darmstadt
sowie das informelle Netzwerk psychoanalytisch orientierter
KollegInnen, das für interessierte Studierende über das gesamte
Studium psychoanalytisch-pädagogische Theorie, Praxisreflexion und
Selbsterfahrung bereithält.
Heinz Krebs und Annelinde Eggert-Schmid Noerr machen in ihrem
Beitrag »Professionalisierung von Pädagogik und Sozialer Arbeit im
Frankfurter Arbeitskreis für Psychoanalytische Pädagogik« zunächst
deutlich, dass eine postgraduale Weiterbildung für pädagogische
Fachkräfte drei Anforderungen zu bewältigen hat: Erstens die
Zielsetzung einer an Emanzipation und Mündigkeit orientierten
Profession, die unweigerlich mit institutionellen und
gesellschaftlichen Machtstrukturen zu rechnen hat; zweitens eine
Methode, die keine reproduzierbare Technik ist, sondern auf die
Gestaltung von externen Vernetzungen, innerinstitutionellen
Kooperationen und Räumen sowie vor allem von förderlichen
Beziehungsangeboten zielen muss; und drittens eine professionelle
Haltung, die pädagogische Situationen in ihrer Rationalität und
Affektivität ebenso wie in ihrer biografischen, institutionellen
und gesellschaftlichen Bestimmtheit zu reflektieren erlaubt. In
diesem Sinne stellen die AutorInnen dann das Fort- und
Weiterbildungsprogramm des FAPP dar, insbesondere die aus je 120
Doppelstunden Theorieseminar, Supervision und gruppenanalytischer
Selbsterfahrung bestehende dreijährige Weiterbildung zum/r
Psychoanalytischen Pädagogen/in.
Helmuth Figdor erinnert in seinem Beitrag »Wie werden aus Pädagogen
›Psychoanalytische Pädagogen‹« an die normative Idee einer
Neurosenprophylaxe aus den Anfangstagen der Psychoanalytischen
Pädagogik. Anhand der Erfahrungen in einem Seminar mit
Studierenden, die bereits über Grundkenntnisse in Psychoanalyse und
Psychoanalytischer Pädagogik verfügen, erläutert er ein
didaktisches Vorgehen, das die Studierenden anhand pädagogischer
Alltagsszenen zur Reflexion von Entwicklungszielen, Interventionen
und handlungsleitenden Theorien einlädt und sie somit befähigen
soll, zwischen Alltags- und Entwicklungsbedürfnissen zu
unterscheiden und die Haltung »verantworteter Schuld« einzunehmen,
als Identifizierung mit dem Kind und dessen Bedürfnissen sowie mit
dessen Wut, wenn Bedürfnisse nicht befriedigt werden können.
Unter der Rubrik »Freie Beiträge« kann die Laudatio für Prof. Dr.
Aloys Leber zum 90. Geburtstag »Die Frankfurter Schule der
Psychoanalytischen Pädagogik« von Urte Finger-Trescher als Replik
auf den Beitrag Helmuth Figdors gelesen werden. Sie wendet sich
gegen die Verkürzung der Psychoanalyse als normatives Heilverfahren
und betont stattdessen das von Adorno, Horkheimer, Mitscherlich und
Lorenzer begründete Verständnis der Psychoanalyse als kritische
Theorie des Subjekts, die ihre Erkenntnisse über den Zusammenhang
von subjektiven Beschädigungen und gesellschaftlichen Verhältnissen
emanzipatorisch zu wenden trachtet – ein Verständnis, das vor allem
Aloys Leber für pädagogische Kontexte nutzbar gemacht hat.
Abgerundet wird das Buch nicht nur durch den freien Beitrag »Das
Konzept der projektiven Identifizierung lehren. Ein interaktives
didaktisches Modell« von Catherine Schmidt-Löw-Beer und Wilfried
Datler sowie durch Rezensionen zu neueren Publikationen aus dem
Feld Psychoanalytischer Pädagogik, sondern vor allem durch eine
Literaturumschau, in der Barbara Neudecker die bislang erschienen
Jahrbücher für Psychoanalytische Pädagogik nach inhaltlichen
Schwerpunkten durchforstet. Ihre Differenzierung von Beiträgen zur
Grundlegung der Psychoanalytischen Pädagogik, zu ihrer Geschichte
und Entwicklung, zu psychoanalytischer Sozialisationstheorie und
Entwicklungstheorie, zu professionellem Handeln in pädagogischen
Praxisfeldern, zu Kasuistik von psychoanalytisch-pädagogischen
Beziehungsverläufen sowie zur Diskussion politischer und
soziokultureller Einflüsse auf Erziehung und Bildung verdeutlicht
den im Jahrbuch versammelten Erkenntnisreichtum.
Diskussion
Das Jahrbuch bietet den LeserInnen in erster Linie vielfältige
praktische Konzepte und Ideen zum Lehren und Lernen
psychoanalytisch-pädagogischen Könnens. Der formulierte Anspruch,
in der Lehre kognitive und affektive Prozesse zu berücksichtigen,
ist schon in den meisten Beiträgen sehr anschaulich eingelöst. Dazu
tragen einerseits die historischen und auch biografisch gefärbten
Beiträge zur Entstehung und Entwicklung der Psychoanalytischen
Pädagogik bei, andererseits sind es die vielen Fallbeispiele, die
die didaktischen Konzepte lebendig werden lassen.
Psychoanalytische Pädagogik ist gleichsam die Kunst, die eigenen
Affekte nicht als vermeintliche Erkenntnisstörung auszuschalten,
sondern als Erkenntnisquelle zu nutzen. Auf diese Weise können im
szenischen Verstehen die Dynamik von Übertragung und
Gegenübertragung sowie die individuellen und institutionellen
Bedeutungen pädagogischer Prozesse erschlossen werden, um letztlich
förderliche Beziehungen und Entwicklungsräume zur Verfügung zu
stellen. Die Aneignung und Anwendung dieser Kunst kann wiederum nur
gelingen, wenn die Lernenden genügend gut contained werden und
schon die Lehr-Lern-Prozesse in einer affektfreundlichen Atmosphäre
stattfinden.
Allerdings zeigt sich im Jahrbuch auch ein eigentümlich
unbewältigter Dissens, der sich insbesondere zwischen den Beiträgen
Helmuth Figdors und Urte Finger-Treschers auftut. Figdor kritisiert
in durchaus polemischen Worten die Trias von Theorie, Supervision
und Selbsterfahrung und mithin das Weiterbildungskonzept des FAPP,
weil die Selbsterfahrung nicht in pädagogische Standardausbildungen
übernommen werden könne, weil einer unveränderten pädagogischen
Praxis bloß ein psychoanalyseähnliches Setting, nämlich die
Supervision, angehängt werde, und vor allem, weil die normative
Idee der Neurosenprophylaxe im Sinne größerer psychischer
Gesundheit preisgegeben werde. Finger-Trescher antwortet zurecht
mit dem oben bereits erwähnten erkenntnistheoretischen Hinweis,
dass es einen Unterschied macht, die Psychoanalyse als normatives
Heilverfahren oder als kritische Theorie des Subjekts zu verstehen.
Zudem läuft Figdors Kritik aus weiteren fachlichen Gründen ins
Leere. Die Erwartung, dass gruppenanalytische Selbsterfahrungen
nicht in die Standardausbildung integriert werden wird, kann doch
die Sinnhaftigkeit dieser Forderung nicht entkräften – Figdor
selbst bezeichnet dies gegen Ende seines Beitrags als
wünschenswert. Und der Vorwurf, der Fokus auf das szenische
Verstehen von Konfliktbeziehungen in der Supervision verspiele die
Gestaltungspotentiale entwicklungsförderlicher
Erfahrungsmöglichkeiten, verkürzt das szenische Verstehen und
ignoriert den wichtigen, von Hans-Georg Trescher geprägten Begriff
der Optimalstrukturierung. Dabei geht es darum, das pädagogische
Setting im Sinne szenischen Verstehens daraufhin zu überprüfen, ob
es Entwicklungsbündnisse und förderliche Entwicklungs- und
Bildungsmöglichkeiten begünstigt oder gar behindert. In diesem
Sinne könnten viele der von Figdor vorgebrachten Ideen auch als
Aspekte der Optimalstrukturierung verstanden werden.
Fazit
Das Buch zeugt von der lebendigen Aktualität und durchaus
kontroversen Vielfalt der Psychoanalytischen Pädagogik sowie ihrer
Vermittlung, Aneignung und Anwendung. Es ist außerordentlich
lesenswert für Lehrende, ob in der Hochschule oder in der
Weiterbildung. Aber auch interessierte Studierende und Fachkräfte
aus der Praxis können von der Lektüre im Sinne einer
affektfreundlichen Praxis und pädagogischen Professionalisierung
ungemein profitieren.
Rezensent
Prof. Dr. Thilo Naumann
Professor für Pädagogik an der Hochschule Darmstadt, Fachbereich
Gesellschaftswissenschaften und Soziale Arbeit
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