Rezension zu Bindung und Gefahr (PDF-E-Book)
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Rezension von Stefan Müller-Teusler
Martin Stokowy, Nicola Sahhar (Hrsg.): Bindung und Gefahr
Thema
Bindung als elementarer Teil von Entwicklung für einen »sicheren«
Stand in der Welt bleibt ein Dauerthema in den
Sozialwissenschaften, denn die Möglichkeiten, dass Bindung
misslingt, sind vielfältig, die gesellschaftlichen Bedingungen
komplex und wandeln sich immer wieder, weshalb auch Anpassungen
vorgenommen werden müssen, und Menschen mit
Bindungsproblemen/-störungen sind häufig Klienten in der Sozialen
Arbeit, in der psychotherapeutischen Arbeit und/oder im klinischen
Kontext. In diesem Buch geht es um das Dynamische Reifungsmodell
der Bindung und Anpassung (Dynamic-Maturational Model of Attachment
and Adaptation; kurz: DMM) von Patricia McKinsey Crittenden, die
eine Schülerin von Mary Ainsworth war und deren Ansatz in dem
Dynamischen Reifungsmodell weiterentwickelte.
Aufbau und Inhalt
Dieses Buch gibt einen Überblick über das Dynamische Reifungsmodell
der Bindung und Anpassung in den verschiedenen Entwicklungsphasen
eines Menschen sowie seine Anwendbarkeit in verschiedenen
Kontexten. Dabei wird jeweils auf die Besonderheit der
Entwicklungsphase eingegangen, dann das entsprechende
Instrumentarium vorgestellt und in den meisten Beiträgen auch durch
Kasuistiken illustriert bzw. erklärt. Es beginnt im Säuglingsalter
und reicht bis in die adulte Lebensphase. Außerdem wird die
Unterbringung in außerfamiliären Kontexten (Pflege- und
Adoptiveltern) angesprochen, der Einsatz bei Familiengerichten
sowie die Anwendung in der forensischen Psychiatrie.
Die Autorinnen und Autoren sind alles erfahrene (und lizensierte)
Anwender in den Instrumentarien des Dynamischen Reifungsmodells der
Bindung und Anpassung und überwiegend auch in der Lehre tätig. Sie
arbeiten in Australien, Kanada, England, Italien, Norwegen und
Deutschland. Damit wird auch der ubiquitäre Ansatz deutlich.
In dem Vorwort von Michael B. Buchholz wird darauf hingewiesen,
dass häufig von einer Individualität ausgegangen wird, dabei muss
diese erst werden, wozu (sichere) Bindung erheblich beiträgt. Auch
neigt »unzureichend qualifiziertes Personal dazu,
›Persönlichkeitsstörungen‹ des Kindes individualisierend zu
diagnostizieren, wo die sorgfältige Anwendung der hier
vorgestellten Bindungsanalyseinstrumente das Verhalten des Kindes
als Antwort auf äußerst schwierige Beziehungslagen erkennen lässt.
›Bindungsunsicherheiten‹ ist, so gesehen, gerade nicht die
alltagssprachliche Unsicherheit, sondern Internalisierung einer
Bindungserfahrung und zugleich der, manchmal klägliche, Versuch,
diese zu bewältigen. Wenn das gewürdigt werden kann, ergeben sich
ganz andere Hilfsmöglichkeiten für solche gefährdeten Kinder. Sie
wollen dann nicht die vermeintlich ›innere‹ Störung des Kindes
behandeln, sondern Stabilität und Sicherheit durch dessen
Bindungspersonen erzielen oder wenigstens verlässlich abschätzen
können, ob diese gewährt werden können« (S. 11).
Ziel des Buches ist die Darstellung eines theoretischen Überblicks
über die Bindungstheorie sowie Anwendungsmöglichkeiten. Da die
Diskussionen und die Forschungen zum Dynamischen Reifungsmodell der
Bindung und Anpassung bisher überwiegend im englischsprachigen Raum
stattgefunden haben, wollen die Herausgeber mit diesem Buch diesen
Ansatz im deutschsprachigen Raum bekannt machen. Das Buch richtet
sich an alle, die mit Familien, Säuglingen, Kleinkindern,
Heranwachsenden, Erwachsenen, Gewalttätern und Gewaltopfern
arbeiten, also an Praktiker im Gesundheitswesen, Fachleute der
Kinder- und Jugendhilfe, Kliniker, Juristen und nicht zuletzt an
Wissenschaftler (vgl. S. 15).
Der erste Beitrag von Nicole Letourneau und Penny Tryphonopulos
stellt den CARE-Index vor, ein Instrument zur Erfassung der
Beziehungsqualität zwischen Bezugsperson und Kind ab Geburt. Dabei
geht es nicht um die Bindung selbst, sondern um »die Vorläufer in
der dyadischen Interaktion« (S. 19) und wird in Deutschland in der
Federführung des Nationalen Zentrums Frühe Hilfen implementiert. In
dem Beitrag wird der Zusammenhang von Bindung und CARE-Index
dargestellt, die Anwendungsmöglichkeiten, die Untersuchung und die
Interpretation der Ergebnisse und an einem Beispiel
illustriert.
Das zweite Kapitel ist von Hellgard Rauh verfasst und thematisiert
die erste Bindung (12-13 Monate). Ausgehend von den Erkenntnissen
von Bowlby und Ainsworth leitet sie zu dem Dynamischen
Reifungsmodell der Bindung und Anpassung über. Ihr Beitrag schließt
mit Forschungsbefunden zu Bindungsstrategien bei Kindern mit
Down-Syndrom ab.
Im dritten Kapitel geht es um die Bindungsdiagnostik für
Vorschulkinder. Ulrike Zach stellt das Preschool Attachment (PAA)
vor. Nach ausführlicher Darstellung der Bindungsschritte in diesem
Alter sowie die verschiedenen Bindungsstrategien und eventuelle
Gefährdungen weist sie auf die besondere Stärke des PAA hin: »mit
diesem Verfahren gelingt es, die Kinder, die in ihren Möglichkeiten
gelungener Verhaltensregulation eingeschränkt sind (…), von denen
abzugrenzen, die von manifesten Gefährdungen betroffen sind (…),
und die von pädagogischer und psychotherapeutischer Hilfe sehr
profitieren können« (S. 75f.). Ein Fallbeispiel illustriert die
vorangegangenen Ausführungen.
Der vierte Beitrag mit dem Titel »Übergang in die Gesellschaft« von
Kasia Kozlowska stellt das Schulalter und das School Age Assessment
of Attachment (SAA) dar. Zuerst wird die Entwicklungsphase
allgemein thematisiert, dann stellt sie das Instrument School Age
Assessment of Attachment (SAA) vor, was mit zwei Kasuistiken noch
seine ausführliche Explanation erfährt.
Im fünften Kapitel steht die Adoleszenzphase im Mittelpunkt. Andrea
Landini, Kasia Kozlowska, Fiona Davies und Catherine Chudleigh
stellen das Transition to Adulthood Attachment Interview, kurz:
TAAI, dar und vor, nachdem sie die Entwicklungsschritte in dieser
Lebensphase skizziert haben. Das TAAI ist ein Instrument zur
Beurteilung der Bindung in der Adoleszenz und lässt sich als
Heranwachsenden-Bindungsinterview übersetzen. Ein ausführlich
dargestelltes und erläutertes Fallbeispiel macht das Instrument
anschaulich.
Der sechste Beitrag, verfasst von Nicola Sahhar, fokussiert die
Suche »nach geeigneten Zugängen, um Handlungs- und Denkweisen von
›schwierigen‹ Patienten besser verstehen zu können (nicht im Sinne
von ›Verständnis haben‹ oder Entschuldigen) und dementsprechend
alternative Behandlungen anzubieten« (S. 141), wofür sich das Adult
Attachment Interview (AAI) eignet. Auch hier werden erst allgemeine
Ausführungen zu Bindung in dieser Lebensphase gemacht, bevor das
Instrument vorgestellt wird.
Im siebten Teil spricht Steve Farnfield das Thema »Bindung und
Anpassung bei Ersatzeltern« an. Dabei werden sowohl Adoptiveltern
als auch Pflegeeltern mit Langzeitpflegeverhältnissen wie auch die
Kurzzeitpflege in den Blick genommen. Aber auch die institutionelle
Betreuung von Kindern wird aufgegriffen. Besonders bemerkenswert
ist ein Aspekt seiner abschließenden Betrachtungen: »Wir sollten
nicht nur Adoptiv- und Pflegeeltern, sondern auch uns selbst in
diese Analyse mit einschließen: wir die Orakel der Psychologie,
Therapie und Sozialarbeit. Die Art, wie wir Informationen
verarbeiten (unsere Bindungsstrategien und unsere Fähigkeit zur
Mentalisierung), hat eine zentrale Bedeutung für die
Entscheidungen, die wir treffen« (S. 186).
Das achte Kapitel von Patricia M. Crittenden geht der Frage nach,
wie das Dynamische Reifungsmodell der Bindung und Anpassung in
Familiengerichtsverfahren eingesetzt werden kann. Dazu gibt es von
der IASA (International Association fort he Study of Attachment)
einen Standard für die Diagnostik bindungsrelevanter Fragen für
Familiengerichtsverfahren. Neben der Darstellung der
Vorgehensweisen (es gibt drei Möglichkeiten der IASA
Familienbindungsgutachten) werden vor allen Dingen die Vorteile
einer solchen Entscheidungsgrundlage dargestellt. Ein Fallbeispiel
schließt auch hier den Beitrag.
Im neunten und vorletzten Beitrag stellt Lane Strathearn
neurobiologische Forschungsbefunde unter dem Titel Bindung und
Neurobiologie – Ratten, Gehirne und das DMM vor. Ausgehend von
Beobachtungen aus dem Tierreich zur Mutter-Kind-Bindung werden
sowohl Erkenntnisse aus der Substratebene (Neurotransmitter) wie
auch bildgebende Verfahren angeführt.
Das zehnte und letzte Kapitel befasst sich mit dem Dynamischen
Reifungsmodell der Bindung und Anpassung in der Forensik. Peter
Nørbech stellt unter dem Titel »Das DMM und das AAI in einem
forensischen Setting« Erkenntnisse aus der Untersuchung von
Straftätern vor, die psychisch beeinträchtigt sind. »Im Gegensatz
zu symptom-orientierten diagnostischen Werkzeugen (DSM-IV oder
ICD-10) befasst sich das Dynamische Reifungsmodell der Bindung und
Anpassung (…) mit der Bedeutung und Funktion von Symptomen und
Verhalten. Darüber hinaus zeichnet es die Entwicklung des Menschen
vom Neugeborenen zum Erwachsenen nach und liefert so eine
Entwicklungsperspektive für die Psychopathologie« (S. 241). Zwei
Fallbeispiele schließen dieses Kapitel ab.
Neben einem Literaturverzeichnis für alle Beiträge gibt es noch
kurze Anmerkungen zu den Autorinnen und Autoren sowie 5 Teile
Anhang, in denen es um zusätzliche Erläuterungen zur Definition von
Bindung geht, um Bindungsdiagnostik sowie um die spezifischen
Konzepte des DMM und um Theoriekonstrukte des AAI-DMM.
Diskussion
Das Buch verfolgt seinen Weg, nämlich die Darstellung und Anwendung
des Dynamischen Reifungsmodells der Bindung und Anpassung im
Hinblick auf die Entwicklungsstufen des Menschen, konsequent. Die
Systematik der jeweiligen Beiträge ist schlüssig und für mit der
Materie vertraute Leser gut nachvollziehbar. Ob und wieweit das
Dynamische Reifungsmodell der Bindung und Anpassung in den
jeweiligen Anwendungsbereichen hilfreich sein kann/ist, lässt sich
aus der Perspektive einer Rezension nicht beantworten. Gleichwohl
spiegelt das Buch den aktuellen Diskussionsstand in diesem Kontext
von Bindung wider. Allerdings muss auch gewarnt werden: wer mit der
Materie bisher nicht befasst ist, wird das Buch verwirrend finden.
Insbesondere die Zielgruppe der Praktiker oder die der Juristen
werden mit den verschiedenen Testverfahren nichts anfangen können,
auch nicht mit den erst einmal kryptisch anmutenden Zuordnungen und
Bezeichnungen der selbstprotektiven Strategien. Insofern sind
manche Beiträge, die sehr zwischen den Abkürzungen der
verschiedenen Strategien wechseln, nicht einfach nachzuvollziehen.
Gut gelungen ist in dieser Hinsicht der letzte Beitrag von Peter
Nørbech, der seine Erkenntnisse und Befunde gut in den Text einbaut
und eigentlich die beste Einführung in das Dynamische
Reifungsmodell der Bindung und Anpassung für nicht geübte Leser
darstellt.
Fazit
Ein kein einfaches Buch, wenn der Leser mit der
bindungstheoretischen Debatte nicht vertraut ist. Die Herausgeber
weisen auf die Komplexität hin: »die gesamte Theorie des DMM ist so
umfangreich, dass der Leser sich mit diesem Buch nur einen ersten
Einblick verschaffen kann« (S. 17). Das stimmt, aber leider kann
dieser erste Eindruck aufgrund der Komplexität auch verwirrend
sein. Wer sich mit dem Thema befassen will/muss, dem sei der
Beitrag von Peter Nørbech besonders empfohlen, denn der bietet
einen guten Einstieg. Was die Anwendung der Diagnoseverfahren
betrifft, so weisen die verschiedenen Autoren auf die Notwendigkeit
einer umfassenden Schulung sowie einer längeren Erfahrung hin. Wie
das der Praktiker oder der Jurist erlangen soll, bleibt aber
offen.
Rezensent
Stefan Müller-Teusler, Studienrichtungsleiter und Dozent an der
Staatlichen Berufsakademie Breitenbrunn. Schwerpunkte:
Behinderung(en), Grenzbereich zu Behinderung(en), Autismus,
Heilpädagogik/Sonderpädagogik
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