Rezension zu Das Geheimnis unserer Großmütter
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Rezension von Luise Krebs
Svenja Eichhorn: Das Geheimnis unserer Großmütter
Thema
Eine »wirkliche Aufarbeitung ihrer Verbrechen und damit verbunden
der Traumata« der Vergewaltigungen hat »die deutsche
Nachkriegsgesellschaft« bisher nicht geschafft (1).
»Zwei haben mich festgehalten, ein Dritter hat mich dann
vergewaltigt. (…) Das sitzt drin, das kriegen Sie nicht wieder
los«, erinnert sich eine Frau an die Vergewaltigung durch
Sowjetsoldaten zum Ende des Zweiten Weltkrieges (S. 78). Um 1945
wurden in Deutschland Millionen Mädchen und Frauen durch Alliierte
vergewaltigt. Schätzungen gehen davon aus, dass allein durch
Angehörige der Roten Armee der Sowjetunion zwei Millionen Frauen
Opfer sexueller Gewalt wurden. Nach dem Krieg wurden die
Vergewaltigungen in Ost- und Westdeutschland weitestgehend
tabuisiert. Die Frauen wurden mit ihren seelischen und physischen
Verletzungen vielmals allein gelassen. Schweigegebote dominierten
familiäre wie öffentliche Räume. Gründe hierfür waren vielfältig.
Die sexuellen Gewalttaten an deutschen Frauen sind unmittelbar mit
Zwangsprostitution, sexueller Folter und massenhaften
Vergewaltigungen an Millionen Mädchen und Frauen durch deutsche
Wehrmachtssoldaten, Angehörige der SA, der SS und der Polizei in
den besetzten Gebieten des nationalsozialistischen Terrors
verflochten. Eine Konfrontation mit eigenem Leid und Leid von
Familienangehörigen ist besonders schmerzlich, wenn dieses mit
(eigener) Schuldhaftigkeit verknüpft ist. Angesichts der komplexen
Verkettungen von Schuld und Leid scheint das Verdrängen und
Verschweigen der sexuellen Gewalt in der deutschen
Nachkriegsgesellschaft nicht verwunderlich. »Das Geheimnis unserer
Großmütter. Eine empirische Studie über sexualisierte Kriegsgewalt
um 1945« von Svenja Eichhorn und Phillipp Kuwert stellt Ergebnisse
von Interviews mit 27 Frauen vor, die um 1945 von Soldaten der
Sowjetischen Armee vergewaltigt wurden. Nach einer ausführlichen
Thematisierung von »Traumatisierung im Allgemeinen, im Krieg, durch
sexuelle Gewalt und deren Folgestörungen« gehen die AutorInnen auf
die Folgen der Vergewaltigungen für die betroffenen Frauen ein.
Dabei zeigen sie u.a., dass das individuelle wie gesellschaftliche
Schweigen ausschlaggebend für eine bis heute »bestehende
posttraumatische Belastungssymptomatik« ist: »Eine Verarbeitung
habe ich eigentlich nicht gehabt. Das hab ich nie verarbeiten
müssen.« (S. 80)
Autorin und Autor
Svenja Eichhorn, Dipl.-Psych., studierte Psychologie in Greifswald.
Ihre Promotion zum Thema »Posttraumatische Belastung deutscher
Frauen nach sexualisierter Kriegsgewalt am Ende des Zweiten
Weltkriegs« bildet die Grundlage der vorliegenden Studie. In der
Folge erschien im Verlag Psychiatrische Praxis
»Bewältigungsstrategien und wahrgenommene soziale Unterstützung bei
deutschen Langzeitüberlebenden der Vergewaltigungen am Ende des II.
Weltkriegs«.
Phillipp Kuwert, PD Dr. med., ist leitender Oberarzt der
Liaisondienste Psychoonkologie und Schmerztherapie an der Klinik
und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Greifswald. Zu
seinen Arbeits- und Forschungsschwerpunkten gehören unter anderem
die Psychotraumatologie unter besonderer Betrachtung kollektiver
Gewalt, Trauma und Posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) bei
Älteren sowie Kriegstraumatisierungen. Seit 2009 ist Kuwert
Mitglied im Beirat und Gastherausgeber der Zeitschrift Trauma &
Gewalt.
Inhalt und Aufbau
Im ersten Kapitel legen die AutorInnen die theoretischen Grundlagen
ihrer Studie dar. Ausführlich gehen sie dabei auf
- Sexualisierte Gewalt und Vergewaltigung (Kap. 1.1),
- Sexualisierte Kriegsgewalt (Kap. 1.2),
- Traumatisierung (Kap. 1.3) und die
- Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) (Kap. 1.4) ein.
Als ein besonderes Merkmal von sexualisierter Gewalt im
Kriegskontext stellen sie heraus, dass vor allem Frauen in Krisen-
und Kriegsgebieten von männlichen Übergriffen und Vergewaltigungen
betroffen sind. Von zentraler Bedeutung für (gezielte)
sexualisierte Kriegsgewalt sind vor allem
patriarchal-gesellschaftliche Vorstellungen von Männlichkeit und
Dominanz. Die AutorInnen betonen eine Ursachenvielfalt für das hohe
Ausmaß sexuellen Missbrauchs zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Dazu
zählen sie u.a. kriegsstrategische Einschüchterungs- und Racheakte
gegenüber der SS und der Wehrmacht sowie
Selbstaufwertungsstrategien seitens der Sowjetarmee. Neben
Begleitumständen der sexuellen Übergriffe, wie der Zeitzeugenschaft
vieler Väter und Ehemänner, gehen die AutorInnen auf
Schutzstrategien und Folge(schäde)n für die Betroffenen ein. Hier
nennen sie Geschlechtskrankheiten, Menstruationsbeschwerden, das
Verstoßen- und Beschuldigtwerden durch die Ehemänner sowie
zahlreiche Suizid(versuch)e.
Im Anschluss widmen sich die AutorInnen allgemeinen Ursachen,
Formen und Folgestörungen von Traumatisierung. Beachtung finden
hier insbesondere Trauma-Klassifikationen nach Maercker (2003) (S.
32ff.). Eichhorn und Kuwert betrachten Phänomene (chronischer) PTBS
und wiedererlebter Traumata im Alter, Symptomatiken und
Ausprägungen der PTBS, peritraumatische Belastung und das
Koheränzgefühl von Betroffenen sexualisierter Kriegsgewalt (um
1945). Hier beziehen sie sich u.a. auf Studien von Loncar et al.
(2006), Kuwert et al. (2007), Maercker et al. (2008) und Fischer,
Struwe und Lemke (2006) (S. 50ff.). Kriegstraumatisierung stellen
die AutorInnen als besonders starke Form der
Mehrfachtraumatisierung heraus, die in sich ein besonders hohes
Risiko der PTBS in sich birgt. Auch Studienergebnisse bezüglich der
Lebenszeitprävalenz von Traumatisierung und PTBS im
Geschlechtervergleich fließen hier mit ein. In Bezugnahme auf
Joycox, Zoellner und Foa (2002) stellen sie heraus, »dass Frauen
ein zehnfach erhöhtes Risiko für Vergewaltigung und ein doppelt
erhöhtes Risiko für eine PTBS aufwiesen und somit besonders
vulnerabel für die Entwicklung einer assoziierten Folgestörung
seien« (S. 45). Als Beeinträchtigungsfaktor für die Verarbeitung
sexueller Gewalterfahrungen spielen Eichhorn und Kuwert zufolge
neben Scham- und Schuldgefühlen vor allem familiäre und öffentliche
Tabuisierungstendenzen in der deutschen Nachkriegsgesellschaft
sowie Schuldvorwürfe durch Angehörige und PartnerInnen eine
wichtige Rolle. Gleichzeitig stellten diese Faktoren ein hohes
Risiko für eine Chronifizierung der Belastungssymptomatik und eine
Re-Traumatisierung dar.
Im zweiten Kapitel gehen Eichhorn und Kuwert auf ihr methodisches
Vorgehen ein. Sie beleuchten dabei
- Studiendesign (Kap. 2.1),
- Stichprobe (Kap. 2.2),
- Testplanung (2.3),
- Erhebungsverfahren und Messinstrumente (Kap. 2.4) und die
- Methoden der Datenauswertung (Kap. 2.5).
Auf einen deutschlandweiten Studienaufruf in diversen Lokal-,
Tages- und Wochenendzeitungen sowie in Rundfunk und Fernsehen
meldeten sich 300 Personen. An der qualitativen und quantitativen
Datenerhebung nahmen 27 Frauen aus acht verschiedenen Bundesländern
teil, zum Großteil aus Mecklenburg-Vorpommern, Berlin und
Brandenburg. Das Durchschnittsalter der Frauen betrug 80 Jahre. Die
Mehrheit der Frauen floh zum Ende des Zweiten Weltkrieges aus
Ostpreußen, Pommern und Schlesien bzw. wurde von dort vertrieben.
Zum Zeitpunkt der Vergewaltigungen waren sie im Durchschnitt 17
Jahre alt. Befragt wurden die Frauen u.a. zu ihrer Lebenssituation
zur Zeit des Einmarsches der Alliierten 1945 und den Erfahrungen
der Kriegsvergewaltigungen selbst. Soziodemografische Daten wurden
zu Alter, Schulbildung, Berufsabschluss, aktuellem Familienstand,
der Flucht bzw. der Vertreibung, Deportation und ihrem
Familienstand erhoben. In klinischen Fragebögen validierten sie
quantitative Daten zur PTBS mit der Posttraumatischen Diagnoseskala
nach Ehlers et al. (2000) (S. 65), zur peritraumatischen Belastung
mit dem Peri-Traumabelastungsbogen nach Maercker (2002) und zum
Kohärenzgefühl mit der Sense of Coherence Scale nach Antonovsky
(1997) (S. 65ff.). Das dritte Kapitel stellt die Ergebnisse der
Studie vor. Diese zeigen, dass die Mehrheit der Frauen bis heute in
vielen Bereichen ihres Lebens unter den Folgen der Vergewaltigungen
leidet. Die Hälfte der Frauen zeigte zudem eine volle oder partiell
ausgeprägte PTBS. Neben ihren Beziehungen zu Familienangehörigen
und FreundInnen beschrieben sie vor allem ihr Sexual- und
Erotik(er)leben als stark beeinträchtigt. Eine interviewte Frau
äußerte: »Ich hätte kein Kind austragen können, weil innerlich
alles kaputt war.« (S. 76) Die AutorInnen bestätigen im
Ergebnisteil ihre Annahme der erhöhten Vulnerabilität
(kriegs-)traumatisierter Frauen durch sexuelle Gewalterfahrungen.
Neben einer erhöhten PTBS-Symptomatik zeigten die validierten Daten
eine starke Re-Traumatisierungstendenz im Alter als Folgestörung
sexualisierter Kriegsgewalt. Die Ergebnisse stehen im vierten
Kapitel zur Diskussion. Eichhorn und Kuwert schlussfolgern hier,
dass eine Diagnose der PTBS im Rahmen von Traumatisierung unter
Betroffenen sexueller Gewalt allein nicht ausreicht, sondern
Variationen der PTBS, wie die komplexe (DESNOS)- und partielle
PTBS, in der Forschung und Diagnostik von Nöten sind. Aufgrund der
geringen Stichprobenmenge plädieren sie für eine Weiterführung
ihrer Forschung. Im letzten Kapitel gehen die AutorInnen auf die
Dringlichkeit einer fortführenden systematischen Aufarbeitung
sexualisierter Kriegsgewalt im Kontext des Zweiten Weltkrieges ein.
Sie plädieren u.a. für die Untersuchung transgenerationeller
Trauma-Effekte mit den Nachkommen der betroffenen Frauen.
Diskussion
»Ich glaube, es hängt einem das ganze Leben, und zwar immer dann
nach, wenn sich die schlimmen Ereignisse jähren.« Die vorliegende
Studie ist ein erkenntnisreicher Beitrag zur Erforschung
posttraumatischer Belastungsstörungen von Betroffenen sexueller
Kriegsgewalt. Eichhorn und Kuwert ermöglichten Frauen, die
jahrzehntelang ihre traumatischen Erfahrungen verschwiegen, »ihre
Geschichte, (…) deren ›Vergessen‹ scheinbar bereits mit dem
Geschehenen einsetzte« erzählen zu können (S. 100). Viele Frauen
berichteten, vor dem Interview »mit keinem darüber gesprochen« zu
haben (S. 77). In der Ergebnisdarstellung der Studie erhalten die
Frauen durch Narrationen wie diese eine Stimme. Im Vergleich zur
ausführlichen Darstellung von Theorie und Methodik aber bekommen
die Frauen in ihren individuellen Erzählungen und Erinnerungen
relativ wenig Raum. Im Blick auf den Gesamtaufbau tauchen die
Narrationen zudem recht spät auf.
Sich mit »Vergewaltigungen durch Soldaten der Roten Armee zu
befassen ist ein politisch extrem schwieriger Prozess, schließlich
geht es um die Befreiungssoldaten als Vergewaltiger und die nicht
verfolgten Deutschen als Opfer sexueller Gewalt«, so die Hamburger
Sozialforscherin Regina Mühlhäuser in ihrem Aufsatz
»Vergewaltigungen im deutschen Opferdiskurs. Konkurrierende
Erzählungen zu sexueller Gewalt im Zweiten Weltkrieg, in DDR,
Bundesrepublik und nach 1989 (2). Wird in der deutschen
Öffentlichkeit an die Zeit des Nationalsozialismus erinnert, stehen
vor allem Erzählungen von Krieg, Bomben, Flucht und Vertreibung im
Zentrum. Dieses Narrativ der Opfererfahrung wird meist aus ihrem
historischen Kontext nationalsozialistischer Verbrechen
herausgelöst. Mühlhäuser bemerkt dazu: »Sexuelle Gewalttaten gegen
deutsche Frauen wurden in zahlreichen politischen Diskussionen der
Nachkriegszeit als Politikum eingesetzt und die Vergewaltigungen,
die Frauen erfahren hatten, mehr und mehr zu einer
wirkungsmächtigen Metapher für das Kriegsleiden der gesamten
deutschen Bevölkerung« (ebd.). Auch Eichhorn und Kuwert benennen
die Problematik der Opferstilisierung und TäterInnen-Opfer-Umkehr
im deutschen Erinnerungsdiskurs nach 1945. In ihrer Forderung nach
»Würdigung und Anerkennung jedes einzelnen wie auch des kollektiven
Schicksals« allerdings greift dieser Bezug zu kurz (S. 100). Gerade
im Blick auf weibliche Täterinnenschaft im Nationalsozialismus, die
im deutschen Diskurs nach wie vor zu wenig Beachtung erhält.
Mühlhäuser formuliert hier ferner, dass die Auseinandersetzung mit
der eigenen TäterInnenschaft der Deutschen im Nationalsozialismus
Voraussetzung für eine vielschichtige Anerkennung der
vergewaltigten Frauen ist und eine konstruktive Bewältigung der
traumatischen Erfahrungen erst möglich werden lässt (ebd.). Ihr
Eindruck, dass »für differenziertere Erzählungen von Frauen, (…)
die sich durchaus kritisch zu ihrer eigenen NS-Vergangenheit
äußern«, scheint mit Blick auf die Studie an Aktualität nicht
verloren zu haben (ebd.).
Fazit
Das Forschungsfeld über sexuelle Kriegsgewalt um 1945 weist nach
wie vor große Lücken auf. »Das Geheimnis unserer Großmütter. Eine
empirische Studie über sexualisierte Kriegsgewalt um 1945« liefert
dazu einen anregungsreichen, theoretisch umfassenden und fundierten
Beitrag zur systematischen Erforschung sexualisierter Kriegsgewalt
und seinen psychosozialen Folgen. Es ist ferner die bislang einzige
»gezielte quantitative Forschung zu posttraumatischen
Folgestörungen« sexualisierter Kriegsgewalt (S. 47). Erklärtes Ziel
der Studie ist die »Würdigung und Anerkennung jedes einzelnen
privaten wie auch des kollektiven Schicksals« (S. 100). Sie ist
Ermutigung für die von sexueller Gewalt betroffenen Frauen, Worte
für jahrzehntelang Verschwiegenes zu finden und ein Plädoyer für
die Notwendigkeit weiterführender Untersuchungen und eine
gesellschaftliche Auseinandersetzung.
(1.) Vgl. Hauser, Monica anlässlich der Veranstaltung »60 Jahre
nach Ende des Zweiten Weltkrieges« der Friedrich-Ebert-Stiftung im
Jahr 2005 in Bonn, www.medicamondiale.org, Datum des Zugriffs am
07.12.2012.
(2.) Vgl. Mühlhauser, Regina (2008): Vergewaltigungen im deutschen
Opferdiskurs. Konkurrierende Erzählungen zu sexueller Gewalt im
Zweiten Weltkrieg, in DDR, Bundesrepublik und nach 1989,
http://phase2.nadir.org/rechts.php, Datum des Zugriffs am
07.12.2012.
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