Rezension zu Sexualität und Partnerschaft bei Menschen mit geistiger Behinderung (PDF-E-Book)

SozialAktuell Nr. 5, Mai 2012

Rezension von Riccardo Bonfranchi

Buch des Monats
Sexualität und Partnerschaft bei Menschen mit geistiger Behinderung

Vor dem Hintergrund der Psychoanalyse breitet die Verfasserin in diesem Buch ein weites Spektrum von Erkenntnissen aus, um der gewählten Thematik der Sexualität gerecht zu werden. Sie spricht hierbei heilpädagogische Grundprinzipien sowie die psychoanalytische Pädagogik an. Ein größeres Kapitel ist den spezifischen Aspekten der Sexualität bei geistiger Behinderung gewidmet. Thematisiert werden: institutionelle Abwehr, Kinderwunsch und Elternschaft, Medizin und Kontrazeption, sexuelle Gewalt und Sexualassistenz. Besondere Aufmerksamkeit widmet die Autorin auch der psychischen Entwicklung von Partnerschaften von Menschen mit geistiger Behinderung. Der zweite Teil des Buches setzt sich mit praktischen Erörterungen der Thematik auseinander, z. B. der Partnersuche, Partnerfindung (Singlepartys, Partnervermittlung Schatz suche), Erwachsenenbildung sowie vier ausführlich dargestellten klinischen Fallbeispielen.

Ein Sozialpädagoge, der von diesem Buch hilfreiche Ratschläge, Konzepte oder Verhaltensanweisungen erwartet, wie mit der Problematik der gelebten Sexualität im Arbeitsfeld klientenzentriert umzugehen ist, wird enttäuscht werden. Die Fallbeispiele können einer praktisch tätigen Sozialpädagogin ebenfalls nicht weiterhelfen, außer sie hat eine psychoanalytische Ausbildung bzw. die Institution, in der sie arbeitet, ist psychoanalytisch ausgerichtet. Sätze wie »Menschen verlieben sich auf zwei unterschiedliche Arten, entweder nach dem sogenannten Anlehnungsoder nach dem narzisstischen Typus. Ersterer geht mit einer Anlehnung an primäre Beziehungserfahrungen, zumeist mit der Mutter, einher, der zweite Typus wählt das Liebesobjekt nach dem eigenen Vorbild …« (S. 116) mögen für die/den psychoanalytisch geschulte/n PsychologIin von großem Interesse sein, ein Transfer auf die sozialpädagogisch orientierte Handlungsebene ist aber nur sehr schwer vorstellbar. Von daher sind Interessenten, die vom Buch eine Erweiterung ihrer Handlungskompetenz erwarten, vor allzu großen Hoffnungen zu warnen. Das Buch stellt einen Erkenntnisgewinn dar, wenn man sich mit der Thematik vor allem theoretisch auseinandersetzen will. Es ist dicht geschrieben, d. h. es wurde sehr viel an Inhalt zusammengetragen, worauf auch das umfangreiche Literaturverzeichnis (285 Titel) deutet. Dass neun Quellen auf S. Freud basieren, soll darauf hinweisen, vor welchem Hintergrund die Autorin ihre theoretischen Erörterungen versteht.

Hervorheben möchte ich an dieser Stelle die Fallbeispiele, die sehr differenziert und ausführlich beschrieben werden (100 Seiten). Diese habe ich mit großem Interesse gelesen und konnte an manchen Stellen sagen, »ja, so ist es«! Dies aufgrund meiner eigenen jahrzehntelangen Erfahrung mit diesem Personenkreis und insbesondere auch meiner Gespräche mit den betroffenen Eltern. Sympathisch fand ich die Passagen, in denen sich die Autorin kritisch mit der heutigen Diskussion um die Integration bzw. Inklusion auseinandersetzt und wo sie eine Bagatellisierung von Behinderung konstatiert. Dem ist sicherlich zuzustimmen.

Als Fazit kann festgehalten werden, dass die Autorin ein durchaus realistisches Bild von der Situation der gelebten Sexualität mit all ihren Schwierigkeiten, die diese bei Menschen mit geistiger Behinderung begleiten, zeichnet. Auch das doppelte Tabu – zum einen die Sexualität und zum anderen die Behinderung – wird heute zwar als Recht anerkannt, ist in der Realität aber so ohne Weiteres nicht auszuleben bzw. aufzuheben. Eine Bestätigung dieser Aussage stellt denn auch das doch etwas merkwürdige fünfte Kapitel dar: »Konsequenzen für die pädagogische Praxis«, das nämlich nur eine einzige (!) Seite (277–278) umfasst. So kommt die Autorin zum Fazit: »Eine verstehende Haltung muss sowohl den Menschen mit geistiger Behinderung als auch ihren familiären und professionellen Bezugspersonen unter Einbezug psychodynamischer Aspekte entgegengebracht werden« (S. 278). Dem ist im Grunde nichts mehr hinzuzufügen.

Ausführliche Rezensionen unter:

www.infostelle.ch

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