Rezension zu Politische Psychologie heute?
Widersprüche Nr. 126
Rezension von Susanne Weber M.A.
Zur Aktualität der Psychoanalyse für die Sozialwissenschaften
Markus Brunner, Jan Lohl, Marc Schwietring, Sebastian Winter
(Hrsg.): Politische Psychologie heute? Themen, Theorien und
Perspektiven der psychoanalytischen Sozialforschung.
Die Geschichte des eindrucksvollen Gemäldes mit dem Titel »Zu
Theodor Lessing« von Detlef Kappeler, das auf dem Cover des
vorliegenden Bandes abgedruckt ist, weist unmissverständlich auf
die kritischen, bisweilen provozierenden und widerständigen
Potentiale hin, die die Vertreter der psychoanalytischen
Sozialpsychologie und der klinischen Psychologie gegen den
universitären Mainstream stärken möchten . Die sicherlich
provokative ästhetische Verknüpfung des Ende der 20er Jahren des
20. Jahrhunderts durch antisemitische Kampagnen vertriebenen und
schließlich im Exil ermordeten Publizisten und Privatdozenten der
Universität Hannover, Theodor Lessing und des Gründers und
langjährigen Leiters des Psychologischen Seminars der Universität
Hannover, Peter Brückner im Gemälde Kappelers verursachte
Aufsehen und Empörung. Peter Brückner vertrat einen Ansatz von
politischer Psychologie, der einschloss, auch aus der Universität
heraus zu aktuellen gesellschaftlichen Konflikten Stellung zu
nehmen und einzugreifen . Er selbst tat dies konsequent, was die
zweimalige – später jedoch wieder aufgehobene – Suspendierung von
seiner Tätigkeit zur Folge hatte – und extreme Anfeindungen auch
aus dem akademischen Umfeld.
Der vorliegende Band spiegelt einerseits Reaktionen auf die –
bisher nicht aufgehaltene – universitäre Marginalisierung eines
kritischen Forschungs- und Denkansatzes und markiert andererseits
dessen unausgeschöpfte Potentiale. Er dokumentiert eine Tagung der
Arbeitsgemeinschaft Politische Psychologie an der
Leibniz-Universität Hannover, die im Dezember 2009 anlässlich der
»Abwicklung der Sozialpsychologie« (8) veranstaltet wurde.
VertreterInnen der psychoanalytischen Sozialpsychologie und
Psychoanalytiker sahen sich nicht zum ersten Mal veranlasst,
Existenzberechtigungsnachweise für ihre Forschungsperspektive und
die Fruchtbarkeit der psychoanalytischen Konzepte zu formulieren,
dieses Mal wurden die entsprechenden Fragen jedoch bewusst aus den
eigenen Reihen gestellt . Es überrascht nicht, dass die zwei
einleitenden »Positionsbestimmungen« kraftvolle, entschiedene
Einlassungen sind zur unverminderten Bedeutung der Psychoanalyse
für die Sozialwissenschaften allgemein (der Beitrag von Lilly
Gast) und für das Feld der politischen Psychologie im besonderen
(der Beitrag von Hans-Joachim Busch) . Beide Beiträge
argumentieren explizit abgrenzend und zuspitzend. Ziel sind jedoch
nicht konfrontative Ausschließung, sondern hinreichend gute
Unterscheidungen, die erlauben, das Einzigartige, in anderen
Denkweisen nicht Fassbare des psychoanalytischen Denkens
verständlich zu machen.
Interessant ist, dass sowohl Gast als auch Busch sich auf die
Kritische Theorie, hier speziell auf Adorno, beziehen, dies
allerdings auf unterschiedliche Weise. Während Gast Bezug nimmt auf
Positionen Adornos, die der Psychoanalyse noch einen hohen
Erkenntnis- und Stellenwert zumaßen, bezieht sich Busch auf Adornos
»resignierte« Abwendung von psychoanalytischen Konzepten im Kontext
der Kritischen Theorie.
Gast konstatiert zunächst, dass die Verbindung zwischen den
Sozialwissenschaften und der Psychoanalyse »zerbrochen« seien, um
dann, sprachlich elegant, die Notwendigkeit der Wiederannäherung zu
entfalten. So betont sie die Nähe der Subjektauffassungen von
Psychoanalyse und Sozialwissenschaften, soweit sie sich in der
Tradition von Aufklärung und Kritik sehen und zitiert als
hervorragende Referenz »Das Andere der Vernunft« von Hartmut und
Gernot Böhme, eine stark psychoanalytisch inspirierte Studie zu
Kant. Die Einzigartigkeit der Psychoanalyse bestehe nicht zuletzt
darin, dass sie ihre Erkenntnismethoden auch auf die erkennenden
Subjekte anwende und damit auch den Sozialwissenschaften eine
eigenen Erkenntnistheorie und Methodologie anbiete. Die letzten
Sätze des Beitrages geben eine sehr selbstbewusste Antwort auf die
Ausgangsfrage, »Warum die Sozialwissenschaften die Psychoanalyse
brauchen«: »Vor allem, weil psychoanalytisches Denken nicht nur
sich selbst, sondern auch die Sozialwissenschaften davor schützt,
vom Augenschein überwältigt zu werden und vor dem ›Absolutismus der
Wirklichkeit‹« (Blumenberg 1979) (31).
Der Beitrag von Hans-Joachim Busch ist konzentriert auf Rolle und
Bedeutung der Psychoanalyse speziell für die Politische
Psychologie, welche in zwei Varianten aufzufinden sei. Die eine
gehe »simpel-extrapolativ vor und überzieht gesellschaftliche
Prozesse und Einrichtungen mit individualpsychologischen Begriffen
und Deutungen« (33). Die andere ist sich der Eigenständigkeit von
Gesellschaft und Gesellschaftstheorie bewusst und stellt letzterer
psychoanalytisches erweiternd zur Seite.« (33). Busch positioniert
sich dezidiert in der Tradition der politischen Psychologie Klaus
Horns. Sehr deutlich, bisweilen gar apodiktisch, formuliert er
sechs Prinzipien psychoanalytischer Politischer Psychologie, die
auch in Gegenwart bedeutsam und wirksam sein will. Die offensiv
interdisziplinäre Ausrichtung ist eines davon, ein anderes »der
Verzicht auf sozialtherapeutisches Omnipotenzgehabe« (41). Buschs
Plädoyer für interdisziplinäre Ausrichtung steht neben der durchaus
vehementen Abgrenzung gegenüber Ansätzen wie z.B. von Welzer und
Leggewie (42ff ).
Im zweiten Teil des Bandes geht es um »Traditionen, Brüche und
Neubewertungen«.
Gudrun Brockhaus rekonstruiert Rezeptionsgeschichte, Ziele und
Forschungsmethode der 1950 erschienenen Studie »The Authoritaritan
Personality« von Theodor W . Adorno, Else Frenkel-Brunswik, Daniel
Levinson und Nevitt Sanford. Brockhaus analysiert, wie diese viel
zitierte und kritisierte, von psychoanalytischen Konzepten
inspirierte Studie neu nutzbringend gelesen werden kann, denn der
Text enthalte »bessere Argumente für die Revision ihres Konzeptes
als die riesige kritische Literatur« (74).
Unter dem Titel »Das Subjekt der Psychoanalyse als emanzipative
Ressource« beschreibt Alfred Krovoza als Aufgabe psychoanalytischer
politischer Psychologie, nicht nur »Zivilisierungs- und
Emanzipationsdefizite namhaft zu machen« (79), sondern,
ausdrücklich in der Tradition Peter Brückners, explizit die
»Widerstands- und Handlungspotentiale«. Einen solchen Ansatz sieht
er bei Cornelius Castoriadis realisiert, der von einer
materialistischen Gesellschaftsauffassung herkommend das Potential
der Psychoanalyse als radikaler Subjekttheorie für seine Konzeption
des »Imaginären« entdeckte. Krovoza versteht Castoriadis’ Konzept
als ideologiekritischen Versuch, Entfremdung in gesellschaftlichen
Institutionen und individuelle Produktionen des Unbewussten
zusammen zu denken.
Die drei Beiträge unter dem Titel »Theoretische Verknüpfungen«
suchen nach Anschlussmöglichkeiten psychoanalytischer Methodologie
und Konzepte an gegenwärtig aktuellere Strömungen in der
sozialwissenschaftlichen Forschungslandschaft wie
Poststrukturalismus (Greta Wagner), Queer-Feminismus (Julia König)
und den soziologischen Forschungsansatz von Bourdieu (Michael
Zander), wobei mir persönlich nur letzterer schlüssig und
überzeugend erscheint.
In den Beiträgen der Abschnitte »Integration und Ausgrenzung«
werden mit den Themen Antisemitismus, Muslimenfeindschaft und
Sozialisation im Flüchtlingsstatus aktuelle politische Sachverhalte
analysiert, wobei sich die Autoren auf eine beachtliche Tradition
psychoanalytisch fundierter Sozialforschung stützen können.
Auch unter der Überschrift »Geschlecht und Sexualität« werden
exemplarisch Anwendungsfelder für psychoanalytische Sozialforschung
beschrieben. Hier wird nach meiner Auffassung virulent, was die
Herausgeber in ihrer Einleitung fragend andeuten: die
Schwierigkeit, dezidiert geschlechtsspezifische mit
psychoanalytischen und politischen Perspektiven produktiv zu
verknüpfen.
Im Abschnitt »Metapsychologie und Methodologie« schließlich geht es
um konkrete Forschungsprojekte, in denen psychoanalytische Konzepte
Erkenntnis leitend eingesetzt wurden. Der tiefenhermeneutische
Ansatz zur kritischen Rekonstruktion politischer Inszenierungen
wird in einem Beitrag von Hans-Dieter König zu G.W. Bush
vorgestellt. Karola Brede skizziert ein Forschungsprojekt zu »Macht
und Unterordnung in Beschäftigungsverhältnissen Angestellter«
(321), dessen methodisches Konzept es ist, Aussagen sowohl mit
Hilfe psychoanalytischer als auch mit Konzepten der soziologischen
Handlungstheorie zu verknüpfen (322).
Den Abschluss des Bandes bildet ein Beitrag mit dem Titel »Wozu
noch Metapsychologie?« von Christine Kirchhoff, der einen
verbindenden Bogen schlägt zum Anfang des Bandes . Sie formuliert
ein vehementes Plädoyer für die Unverzichtbarkeit der
Metapsychologie der Psychoanalyse, deren Potential sie in ihrem
»gesellschafts- und subjektkritischen Gehalt« (365) sieht und die
allein verhindern könne, dass diese vereinnahmt und neutralisiert
wird, etwa im Zugriff naturwissenschaftlicher
Positivierungsversuche.
Möchte man nach der vorliegenden Bestandsaufnahme von 2009 in
Erfahrung bringen, wie es inzwischen um psychoanalytische
Sozialforschung, um Politische Psychologie heute (2012) steht,
folgt man am besten der Spur der BeiträgerInnen und den (wenigen)
institutionellen Ankern: der Arbeitsgemeinschaft Politische
Psychologie in Hannover, dem Sigmund-Freud-Institut (SFI) in
Frankfurt, dem Arbeitskreis Politische Psychologie in der DVWP und
seit kurzem: Der International Psychoanalytic University, IPU,
Berlin.
Aufschlussreich und empfehlenswert nachzulesen ist auch die im
vorliegenden Band nicht dokumentierte Abschlussdiskussion der
Tagung, weil sie unter anderem noch einmal Präzisierungen für das
»Politische« der psychoanalytisch fundierten Politischen
Psychologie zur Verfügung stellt
(www.journal-fuer-psychologie.de).
Susanne Weber M.A. Supervision/Organisationsberatung, Siegen